Als Antonio Skármeta 1974 mit seiner Familie nach Berlin emigrierte, dank der Hilfe des Regisseurs Peter Lilienthal und eines Stipendiums des Berliner Künstlerprogramms des DAAD, da brachte er nicht mehr als ein paar Kurzgeschichten, zwei halbfertige Romane und das Drehbuch von LA VICTORIA mit, das der Deutsch-Uruguayer Lilienthal 1973 in Chile verfilmt hatte. Für ihn und Christian Ziewer schrieb Skármeta später weitere Drehbücher: Die Beziehung zum Film prägte das erste Jahrzehnt seines Exils. Praktische Erfahrung besaß er zuvor nicht: Er lernte beim Drehen, bei seinem ersten Kurzfilm AUFENTHALTSERLAUBNIS von 1978 beispielsweise.
Die Grundidee ist einfach. Diverse Diktaturen stürzten damals, und die Emigrant*innen konnten nach Griechenland, Portugal, Spanien, Uganda oder in den Irak zurückkehren. Ganz anders die Chilen*innen: Sie waren gerade erst angekommen, denn in ihrem Land hatte Pinochet 1973 die Macht ergriffen. Auf einem Polizeirevier, in der „Abteilung für Ordnungsaufgaben“, treffen sich Menschen aus der ganzen Welt, die Einen, um freudestrahlend ihre Aufenthaltserlaubnis, und die Anderen, um irgendeinen Ausreise-Stempel zu erhalten. Sie sind längst befreundet und verabschieden nun die für immer Enteilenden auf dem Flughafen Tegel. Die davonfliegenden Pan-Am-Maschinen, längst selbst ein nostalgisches Bildelement, werden zum steten Zeichen endgültiger Trennung.
Antonio Skármeta verschränkt diese Bilder mit dem Leben der chilenischen Community, mit Aufnahmen einer Kinderparty im Park von Schloss Bellevue, wo seine beiden Söhne ein Schlagzeug bearbeiten. Die Jugend bildet ein heiteres, immer wiederkehrendes Element, wenn da nicht der kurze Ausschnitt aus dem Spielfilm AUS DER FERNE SEHE ICH DIESES LAND von Christian Ziewer wäre. Dort ermahnt ein Vater seinen Sohn, sich endlich um die Schule zu kümmern, damit er nicht sitzenbleibt. Der antwortet mürrisch: „Na und? Wenn Pinochet stürzt, dann gehe ich sowieso nach Chile.“ Sein Vater weist ihn zurecht: „Das kann lange dauern, vielleicht 20 Jahre.“ Die tragische Dimension dieses Exils wird so fast nebenbei eingefügt.
Dann fährt eine U-Bahn quer durchs Bild, und auf einer Treppe, sozusagen aus dem Untergrund, steigt ein schwarzer Koloss auf einem riesigen Protestbanner empor: die Karikatur des ugandischen Diktators Idi Amin, „gestürzt im Mai 1979“, wie eine Aufschrift mitteilt. Die Jugendlichen tragen das Bild weg. Andere entmachtete Gewalttäter folgen, dazwischen Szenen aus der Ausländerbehörde, des Abschieds, Feste und auch eine Rückblende in die Zeit der Demonstrationen für Salvador Allendes Wahlbündnis Unidad Popular, für das sie alle einmal gekämpft haben. Die chilenische Community, herausgerissen aus ihrer Geschichte, vor dem Hintergrund der historischen Zeitläufte.
Diese Chileninnen und Chilenen haben sich nicht unterkriegen lassen, sondern sie haben ein Stück von dem Enthusiasmus, mit dem sie Allende und sein Projekt des demokratischen Sozialismus unterstützt haben, mit nach Berlin gebracht und versuchen, sich neu zu erfinden oder weiterzuentwickeln – wie Antonio Skármeta, der hier erst als Filmemacher bekannt und dann als Schriftsteller berühmt wurde, etwa für seinen Roman „Mit brennender Geduld“ (1994 verfilmt von Michael Radford als IL POSTINO).
Aspekte dieser chilenischen Aktivitäten lässt er gelegentlich in Nebensätze einfließen, wenn beispielsweise von „La Batea“ die Rede ist, dem legendären Lokal in der Krumme Straße, gegründet mit deutscher Hilfe in jenen Jahren als Arbeitsplatz für viele, als Treffpunkt des Widerstands, als ein Stück Heimat. Es existiert noch heute.
Die chilenische Community will Lebensfreude und vor allem Hoffnung verbreiten. Obwohl sie inzwischen weiß, dass sie wohl für lange Zeit nicht zurückkehren kann.
Den Strom der wechselnden Perspektiven und heiteren Szenen hält Antonio Skármeta für einen Moment der Reflexion auf. Es ist die einzige Stelle, in der eine deutsche Sprecherstimme zu hören ist. Ein Gedicht von Pablo Neruda wird zitiert, dem literarischen Vorbild des Autors: „Die Verbannung ist rund, ein Kreis, ein Ring. / Deine Füße reisen umher, du querst die Erde. Es ist nicht deine Erde. / Dich weckt das Licht, und es ist nicht dein Licht. / Die Nacht kommt, es sind nicht deine Sterne. / Du findest Brüder, aber es ist nicht dein Blut.“
Exil bedeutet stets Entwurzelung. Selbst unter vergleichsweise günstigen Bedingungen, wie sie Antonio Skármeta in seinem ersten filmischen Dokument vermittelt: Berlin war für die Chilen*innen mehr als nur eine Übergangsstation, es war ein Ort, an dem sie sich – trotz vieler Alltagsprobleme – verwirklichen konnten, wo sie Solidarität fanden und sie selbst praktizieren konnten.
Natürlich tauchen hier auch Momente der Melancholie auf, vor allem auf der Tonspur, wenn typische Instrumente der chilenischen Folklore verwendet werden wie die Quena, die berühmte Andenflöte, und der Charango, eine spezielle Gitarre, beide waren während der Diktatur verboten. Doch insgesamt ist die Grundstimmung heiter, es wird getanzt, unter anderem zu einem Liebeslied von Skármeta, auch dies eine Facette des Films. Diese chilenische Community will Lebensfreude und vor allem Hoffnung verbreiten. Obwohl sie inzwischen weiß, dass sie wohl für lange Zeit nicht zurückkehren kann, noch nicht einmal in ein Nachbarland, denn der Pinochet-Virus hatte auch Argentinien und Uruguay befallen, und in Brasilien herrschte schon lange Diktatur.
In seinem filmischen Debüt AUFENTHALTSERLAUBNIS vermittelt Antonio Skármeta ein eindrucksvolles Bild vom ungebrochenen Optimismus der chilenischen Emigration in Berlin und von der Hoffnung als einer Grundhaltung seines gesamten Werks.
Peter B. Schumann ist Publizist mit Arbeitsschwerpunkt Lateinamerika.