Der Autor, Aktivist und einflussreiche Intellektuelle James Baldwin wirkte immer wieder an Dokumentarfilmprojekten mit und plante auch selbst einige Filmprojekte. Von den Filmen, die schließlich realisiert wurden, ist I HEARD IT THROUGH THE GRAPEVINE sicherlich der ambitionierteste und kam Baldwins Vorstellungen vom Filmemachen wohl am nächsten: Er wollte dieses Medium nutzen, um persönliche Geschichten mit deutlich politischem Schwerpunkt zu erzählen, und zwar anders, als man es in den Mainstreammedien typischerweise zu sehen bekam.
Als Ronald Reagan und Jimmy Carter 1980 ihre Wahlkampftour begannen, unternahm Baldwin seinen ganz eigenen Roadtrip. Formell im Auftrag des „New Yorker“, aber zugleich mit Hintergedanken an ein eigenes neues Buch, bereiste er die Südstaaten, um über die Erfolge, aber auch die Stagnation der Bürgerrechtsbewegung zu reflektieren. Das Ehepaar Dick Fontaine und Pat Hartley begleitete ihn mit einer kleinen Filmcrew und dokumentierte die sechswöchige Reise und die zahlreichen Gespräche, die Baldwin unterwegs führte. So entstand GRAPEVINE.
Fontaine stellte sich GRAPEVINE, der locker auf Baldwins Buch „No Name in the Street“ beruht, als einen „filmischen Baldwin-Essay“ vor. Im Kern besagt der Film, dass die vermeintlichen Fortschritte nur Firnis sind. Immer wieder thematisiert Baldwin seinen Eindruck, er habe die Südstaaten nur für Minuten verlassen und nähme dieselben Gespräche wieder auf, die er schon in den sechziger Jahren geführt hatte. An einem Punkt merkt er an: „Es ist überaus bitter, dass man so hart für das Wahlrecht gekämpft hat, nur um schließlich festzustellen, dass die Gesellschaft nichts aufzubieten hat, das man wählen könnte.“ Diese harsche Kritik ist auf die Fernsehberichte von Carters und Reagans Wahlkampfauftritten gemünzt, die Baldwin im Lauf des Films gelegentlich verfolgt. Eddie S. Glaude in schreibt in seinem jüngsten Buch „Begin Again: James Baldwin‘s America and Its Urgent Lessons for Our Own“, dass Baldwin unablässig mit dem „komplexen Verhältnis von Geschichte und Erinnerung beschäftigt ist (…), als er Zeuge der enthusiastischen Hinwendung zum Reaganismus wurde. So vieles wurde ganz bewusst in blitzschnellem Tempo vergessen, und ebenso vieles erneut durchlebt.“ Fontaine hatte das Filmprojekt gegenüber Baldwin ursprünglich als gesponsorten Recherchetrip verkauft, doch es wurde schnell weitaus mehr daraus, als Baldwin erkannte, wie viel Durchschlagskraft es haben konnte, die eigene Geschichte in bewegten Bildern zu erzählen.
Ein zutiefst persönlicher Film
Die historische Aufarbeitung entfaltet sich im Film durch eine Reihe von kontrastierenden Montagen, Gegenüberstellungen von Dokumentarmaterial aus den sechziger Jahren, aktuellen Szenen aus den Achtzigern und den vertraulichen Gesprächen zwischen Baldwin und seinen langjährigen Freund*innen. Mitunter ist das historische Material bewusst verstörend, etwa, wenn ein weißer Sheriff dem Fernsehpublikum entspannt erklärt, wie man elektrische Viehstöcke gegen Demonstrierende einsetzt. An anderer Stelle betont GRAPEVINE das Ineinanderfließen der Zeitebenen, etwa wenn in der Mitte eines Satzes, den die Aktivistin Oretha Castle Haley im Jahr 1980 spricht, zu einer Rede geschnitten wird, die sie in den Sechzigern als Präsidentin der Ortsgruppe New Orleans des Congress of Racial Equality (CORE) gab. Diese filmischen Effekte und der elegisch-poetische Ton des Films sind eng angebunden an Baldwins Kommentare und seine physische Präsenz: Er trägt diesen Film. In einem Gespräch mit dem Bürgerrechtsaktivisten James Meredith, das keinen Eingang in den Film gefunden hat, vergleicht Baldwin GRAPEVINE mit einem Film über Malcolm X, den er in den späten Sechzigern gerne gemacht hätte. Über GRAPEVINE sagt er: „Diesmal beruhte alles auf meiner eigenen Perspektive.“
Und tatsächlich ist GRAPEVINE ein zutiefst persönlicher Film, der auslotet, wie sich solche ganz persönlichen Erfahrungen zur Deutung von Geschichte einsetzen lassen. Der Film beginnt mit einer Szene, in der Baldwin an seinem Schreibtisch in einem Buch mit alten Fotos blättert. Dazu Glaude: „Man kann sehen, wie Baldwin leicht lächelt oder die Stirn runzelt, wenn der Blick an einem Bild hängen bleibt. Er fühlt diese Bilder.“ Dann resümiert Baldwin aus dem Off: „1957 verließ ich Paris, um nach Little Rock zu reisen. 1957. Jetzt haben wir 1980, und das sind wie viele Jahre? Fast ein Vierteljahrhundert. Und was ist aus all den Menschen, aus den Kindern geworden, die ich damals traf, und was aus unserem Land? Und welche Bedeutung hat dies für die Welt insgesamt? Welche Bedeutung hat es für mich?“ Baldwins Gedanken zu seinem Fotoalbum können stellvertretend für GRAPEVINE insgesamt gelten: Der Film erweckt diese Fotografien wirkungsvoll zum Leben und nimmt sie als Brücke zwischen den Epochen, nicht als Relikte einer Vergangenheit, die sich fundamental von unserer Gegenwart unterscheidet.
In gewisser Weise war GRAPEVINE auch „Familiensache“. Fontaine erzählte mir vor kurzem in einem Interview, dass seine enge Freundschaft mit Baldwins Bruder David ausschlaggebend für den Schriftsteller gewesen sei, der dem weißen englischen Filmemacher „eher skeptisch“ begegnet war. Aber als sie dann unterwegs waren, fand Baldwin in Fontaines Ehefrau Pat Hartley, einer Schwarzen New Yorkerin, eine Seelenverwandte. „Er machte sich Gedanken um uns“, erinnert sich Fontaine. „Ob wir [als Paar unterschiedlicher Hautfarbe] eine Zukunft hätten.“ Und im Film besucht Baldwin Bunkie, Lousiana, den Geburtsort seines Stiefvaters, wo er offenbar zum ersten Mal ein Foto des Halbbruders seines Stiefvaters sieht, dessen Vater der weiße Hausherr war. „Es war unheimlich, Vater sozusagen eingeweißt zu sehen“, sagt Baldwin zu David. Die Kamera zoomt auf dieses Foto, dann folgt ein Schnitt auf ein Foto von Baldwins Stiefvater, während das erste Bild noch nachscheint. Die langsame Überblendung erzeugt ein gespenstisches Doppelbild, das an eine Daguerreotypie erinnert, eine eindrucksvolle Visualisierung der tiefgreifenden Verflechtung des weißen und Schwarzen Amerikas.
Im Zentrum des Films jedoch steht das enge Band zwischen James und David Baldwin. David erscheint in den meisten Szenen, die nicht im Süden entstanden; sicherlich zur Freude seines älteren Bruders, der sich immer gewünscht hatte, dass David in seinen geplanten Filmen mitwirken würde. Bei einem Drink im Jazzclub Mikell‘s in Harlem unterhalten sie sich über Baldwins Reise in den Süden. Ausschnitte aus diesem Gespräch im Mikell's durchziehen den ganzen Film, bilden sein „Rückgrat“, so Fontaine, und liefern seinen narrativen und expositorischen Rahmen.
In archivierten Abschriften ist nachzulesen, dass Baldwin statt von „Rassismus“ oft von staatlich sanktioniertem „Genozid an Schwarzen Amerikanern“ sprach, und argumentierte, die Bürgerrechtsbewegung solle man lieber als „jüngsten Sklavenaufstand“ einordnen.
Durch das Verweben von individueller und kollektiver Erinnerung versucht GRAPEVINE in einer von politischer Apathie bedrohten Phase ein neues Geschichtsbewusstsein zu wecken. Dazu reiht der Film nicht einfach historische Fakten aneinander, sondern setzt auf eine grundlegende Verschiebung der Perspektive. So sagt Baldwin in einer Szene auf dem Weg nach Selma, aufgenommen im Inneren eines Autos, während die Kamera die ländliche Highway-Szenerie einfängt: „Als ich zum ersten Mal in den Süden kam, hatte ich das Gefühl, nach Hause zu kommen.“ Dann, nach einem Moment, fährt er fort: „Dir fallen diese Bäume auf. Du bist dir bewusst, wie viele deiner Brüder an diesen Bäumen gehangen haben. In dieser Landschaft. Unter diesem Himmel. Und dass die Menschen in dieser Landschaft seit Generationen so etwas gemacht haben. Und es jetzt mit dir machen könnten.“ Heiteres Sonnenlicht flirrt bei diesen Worten durch das Autofenster, ein Kontrast, der die Zuschauer*innen nötigt, zur Kenntnis zu nehmen, wie sehr diese Landschaft von rassistischer Gewalt durchsättigt ist. Die Interviewpartner*innen teilen Baldwins dringendes Anliegen, alternativen Perspektiven auf die US-amerikanische Geschichte Geltung zu verschaffen. Oretha Castle Haley zum Beispiel sieht in Baldwins Projekt das Potential „Wissen weiterzugeben und Menschen begreiflich zu machen, warum bestimmte Dinge so geschehen sind“, und darüber hinaus „ein Gefühl der Erneuerung, ein wiedererstarktes Engagement für den Kampf, den wir führen“ wachzurufen. Durch die begrenzte TV-Ausstrahlung hatte GRAPEVINE wahrscheinlich nicht den erhofften transformativen Effekt, aber der Film und besonders Baldwins oral history stellen dennoch ein unschätzbares Archiv für Politikgeschichte und radikales Schwarzes Denken dar.
Dabei ist zu bedenken, dass nur ein Bruchteil der aufgezeichneten Gespräche mit Baldwin in den Film eingingen. Einige der schärfsten gesellschaftspolitischen Kommentare fielen dem Schnitt zum Opfer, unter anderem auch Baldwins Gespräch mit dem frisch aus dem Gefängnis entlassenen Ben Chavis, dem letzten der Wilmington Ten, einer Gruppe von Menschenrechtsaktivist*innen, die zu Unrecht wegen Brandstiftung und Bildung einer kriminellen Vereinigung verurteilt worden waren. In archivierten Abschriften ist nachzulesen, dass Baldwin statt von „Rassismus“ oft von staatlich sanktioniertem „Genozid an Schwarzen Amerikanern“ sprach und argumentierte, die Bürgerrechtsbewegung solle man lieber als „jüngsten Sklavenaufstand“ einordnen, da man, „wie schon Malcolm erkannt hatte, als Bürger bereits Bürgerrechte hat. Und wenn du diese Bürgerrechte nicht hast, dann bist du was? Ein Sklave.“ Baldwins Kritik am politischen Personal ist in den Abschriften ebenfalls deutlich schärfer formuliert: In seinen Gesprächen mit Chavis hielt Baldwin mehrmals fest, dass das Unrechtsverfahren gegen Chavis unter Nixons Präsidentschaft stattfand, und einmal wirft er sogar ein: „Was Mr. Nixon anbelangt, möchte ich eins klarstellen, und das bitte nicht herausschneiden, Nixon war eine Art Hitler im Taschenformat.“ Die Stelle wurde allerdings dennoch geschnitten. Fontaine sagte später zu Baldwins Biografen David Leeming, er habe Material für einen vierstündigen Film gehabt und die Schnittfassung fürs britische Fernsehen sei „zu verkürzt“ gewesen. Baldwin konnte es dennoch kaum fassen, dass sie über den Sender ging, selbst in dieser entschärften Form.
Film als Gegenrede
Für Baldwin hatte Filmemachen den Vorzug, dass es sich bestens dazu eignete, politische Kritik an ein weltweites Publikum heranzutragen und damit internationale Solidarität aufzubauen. Ein Beispiel: Bei einem Kongress zur Afrikanischen Literatur in St. Augustine lernte Baldwin den großen nigerianischen Schriftsteller Chinua Achebe kennen, und aus dieser Begegnung entstand ein bewegendes Bild der Solidarität der Diaspora. Baldwin und Achebe besuchen einen ehemaligen Sklavenmarkt, der später dem Ku-Klux-Klan als Versammlungsort diente, und als sie das Gelände betreten, ergreift Baldwin Achebes Hand und erklärt, hier sei der Ort, an dem sie sich vierhundert Jahre zuvor zum ersten Mal getroffen hätten: „Hier warst du an mich gekettet“, sagt Baldwin, „und ich war an dich gekettet“. David gegenüber erzählte Baldwin später von dieser Erfahrung: „Da standen wir – Hand in Hand. Damit unterliefen wir eine Verschwörung, die verhindern sollte, dass wir je miteinander sprechen.“ Für die Schriftstellerin und Filmemacherin Toni Cade Bambara ist Film das perfekte Medium, um solche Verbindungen zu schmieden. „Wie kann eine diasporische Gruppe kommunizieren?“, fragt Bambara und gibt die Antwort gleich dazu: „Durch unabhängige Filme.“ Das sah Baldwin wohl ähnlich.
Sowohl der fertiggestellte Film wie die archivierten Baldwin-Interviews verdeutlichen, dass er mit GRAPEVINE ein gegenmediales Projekt verwirklichen wollte, das andere Bilder und Erzählungen vom Schwarzen Amerika, die im amerikanischen Mainstream meist unterschlagen wurden, etablieren und zugleich das medienkritische Bewusstsein des Publikums schärfen sollte. In einer Szene in Oretha Castle Haleys Wohnzimmer beispielsweise zeigt Haley die Titelseite der Lokalzeitung, auf der die Zeichnung eines jungen Schwarzen prangt, der seine Waffe direkt auf die Leser*innen richtet. In die Pupillen sind Totenschädel gezeichnet. Dann folgt ein Schnitt von der Großaufnahme des Titelblatts auf eine Einstellung mit Haleys kleinem Sohn, der Schwarz ist, und seinem weißen Freund. Die beiden schauen hinterm Türrahmen hervor ins Wohnzimmer, und Haleys Sohn fragt mit keckem Grinsen, wann es denn Essen gäbe. Der Gesichtsausdruck, mit dem Haley darauf reagiert, ist eine komplexe Mischung aus Erheiterung, Müdigkeit und Liebe, in der sich die Frage spiegelt: In welch einer Welt wird ihr Sohn aufwachsen können? Und wie lässt sich eine Medienlandschaft, die Schwarzes Leben dämonisiert und gefährdet, etwas entgegensetzen?
Eine Vorstellung von Baldwins Meinung zu dieser Frage gibt sein Gespräch mit dem Bürgerrechtler James Meredith, einem weiteren Interview, das – wie oben erwähnt – in der endgültigen Schnittfassung fehlt. Baldwin hatte Meredith das letzte Mal gesehen, als Baldwin eine filmische Zusammenarbeit mit Warren Beatty plante, und erzählte ihm, was daraus geworden war: „Warren ist in Ordnung, aber Hollywood ist eine Zwangsjacke. In diesem Rahmen kann ich kaum etwas erreichen.“ Danach kommt ihr Gespräch auf die sehr erfolgreiche Fernseh-Miniserie ROOTS (1977) nach dem Roman von Alex Haley. Sie teilen die Einschätzung, dass die Serie auf ein weißes Publikum zugeschnitten sei und zeigen sich beide „erschrocken“ über das spezifische Framing von Schwarzsein und Schwarzer Geschichte. Zum Fernsehen äußert sich Baldwin ähnlich wie schon in seinen Filmkritiken aus den fünfziger und sechziger Jahren und konstatiert: „Das Phänomen Fernsehen kann alles verzerren, und ich denke immer öfter, dass es eins der effektivsten je ersonnenen Mittel ist, um Geschichte auszulöschen und alles ins Irreale zu ziehen.“ GRAPEVINE wurde zwar auch fürs Fernsehen gedreht, verfolgt jedoch eine gegenteilige Intention – das zentrale Anliegen ist die Rückgewinnung von privater und nationaler Geschichte.
Während seiner gesamten beruflichen Laufbahn war für Baldwin Film das Medium der Wahl, um Verbindungen zu knüpfen und Kollektive zu schmieden. In einer Szene von GRAPEVINE sagt Oretha Castle Haley über ihre Community in New Orleans: „Viele von uns haben den Kontakt untereinander verloren, doch im Lauf des letzten Jahres mussten wir erkennen, dass wir uns austauschen müssen, um zu begreifen, was vorgeht.“ GRAPEVINE zeugt unter anderem davon, dass diese Einschätzung während der achtziger Jahre in fast allen Schwarzen Communities in den USA geteilt wird. Es ist also nicht unwesentlich, dass schon der Entstehungsprozess des Films zu einem gemeinschaftsstiftenden Mittel wurde: Während Baldwin kreuz und quer durchs Land reiste und wieder Kontakt zu befreundeten Aktivist*innen aufnahm, erneuerte er auch diese „grapevine“, dieses informelle Kommunikationsnetz, und damit viele Verbindungen untereinander, die einmal bestanden hatten. Die Erstaufführung des Films war ein ebensolches Gemeinschaftserlebnis – Familie und enge Freude wie Toni Morrison, Ossie Davis und Max Roach versammelten sich bei Mikell‘s, wo Teile des Films ja auch gedreht wurden.
Anschließend wurde GRAPEVINE auf dem Film Forum Festival in New York gezeigt und lief in Großbritannien und den USA im Fernsehen. Danach bekam man den Film nur noch unter größten Schwierigkeiten zu sehen. Wenn GRAPEVINE in gewisser Weise die Verwirklichung dessen war, was sich Baldwin vom Medium Film erträumte, ist zu hoffen, dass die Wiederveröffentlichung durch das Harvard Film Archive in diesem Jahr neue Gemeinschaften stiften wird. Ein solches Projekt bleibt bis heute notwendig.
Hayley O‘Malley ist Hochschuldozentin und Leiterin des Graduiertenseminars am Iowa College of Liberal Arts and Science.
Übersetzung: Clara Drechsler, Harald Hellmann
Dieser Text ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung von O´Malleys Artikel „Another Cinema: James Baldwin’s Search for a New Film Form“ im James Baldwin Review, Vol. 7, 2021, S. 90-114.