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Amin Farzanefar: Du bist jetzt im Dorf. Ist das das Dorf Karakocan aus MEIN VATER, DER GASTARBEITER?

Yüksel Yavuz: Karakocan heißt die Kreisstadt. Das Dorf heißt Mergamendê, also die Wiese von Mendê.

Wie geht es den Leuten dort jetzt im Vergleich zu vor 27 Jahren?

YY: Man sieht ja im Film die Waldbrände, die Panzer. Mitte der Neunziger waren die schlimmsten Jahre des Konfliktes zwischen türkischem Staat und der Arbeiterpartei Kurdistans PKK, dem auch Dörfler*innen zum Opfer fielen. 2015 gab es nochmals heftige Kämpfe; seitdem hat sich dieser Konflikt auf Nordsyrien, Nordirak verlagert, seit zwei, drei Jahren ist hier wieder Ruhe. Es gibt auch kaum noch Menschen hier. Man sieht in den Dörfern nur noch Alte und selbst Menschen über 50 sehen keine Zukunft und wollen auswandern. Die meisten nach Deutschland.

Gehen wir mal zurück: Vor 27 Jahren warst du ein kreativ interessierter Mensch und auf dem Weg Filmemacher zu werden. Was war dein Ansatz, was wolltest du erzählen?

YY: MEIN VATER, DER GASTARBEITER lag schon in meiner Mappe, als ich mich 1992 an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg beworben habe. Ich habe dann bei Professor Gerd Roscher schwerpunktmäßig Dokumentarfilm, essayistischer Film studiert und das ist dann in den Film eingeflossen. Dieses Voiceover, von mir gesprochen, hatte bereits so einen essayistischen Touch, und das ist das, was mir auch an dem Film so gefällt. Mit den damaligen Möglichkeiten, mit dem jetzigen Wissen über Kunst und Film, ist das mein Lieblingsfilm.

Der Film ist von einem märchenhaften Ton durchzogen – Deutschland ist „Germanistan hinter den Bergen“. Diese Poesie, ironisch, melancholisch: Wo kommt diese Sprache her?

YY: Als mein Vater nach Deutschland ging, war ich vier Jahre alt – und seine Reise dorthin, mein Empfinden darüber und was das für ein Land sein könnte, das hatte schon dieses Märchenhafte, und das habe ich dann eingearbeitet. Und die Generation unserer Väter und auch Mütter, die ersten sogenannten „Gastarbeiter“, haben unter schlimmen Bedingungen gearbeitet. Ich habe mich dem mein Leben lang entzogen, der schweren Arbeit; aber irgendwann ist dieses Bedürfnis entstanden, nicht nur mich auszudrücken, sondern auch die Geschichte meiner Familie, meines Vaters, meiner Mutter zu erzählen. Aber nicht im Beschwerdeton, eher mit einer Selbstverständlichkeit, mit einer ganz bestimmten eigenen Sprache. Das macht diesen Film aus, würde ich sagen.

Jetzt hat die Geschichte deines Vaters auch etwas Untypisches. Deine Mutter beschwert sich ja auch zweifach, dass er weggegangen, aber nicht lange genug weggeblieben ist. So, sagt sie, hat er „weder Rente noch Recht“.

YY: Wie es bei den Gastarbeitern üblich war, träumten sie von der Rückkehr dann haben sie ein Grundstück gekauft, ein Haus gebaut, manche haben ihre Familien nachgeholt und dann haben die Eltern einsehen müssen, dass die Kinder in Deutschland eine bessere Zukunft haben. Und mein Vater hatte davor Angst, dass er derart verwurzelt und festgenagelt wird, und hat deswegen vermieden, die ganze Familie nach Deutschland zu holen. Und er hat ein glückliches Leben gehabt nach der Rückkehr zusammen mit meiner Mutter! Er ist vor elf Jahren verstorben und meine Mutter ist noch tough mit 84 Jahren, beschwert sich aber über die Einsamkeit.

Wer hat MEIN VATER, DER GASTARBEITER damals möglich gemacht?

YY: Ich hatte ihn der Filmförderung Hamburg vorgelegt, wo er abgelehnt wurde. Aber da saß jemand im Gremium, der hat sich mit mir in Verbindung gesetzt und gesagt, er würde versuchen, Geld aufzutreiben. Das war Thomas Kufus von Zero One Film; der hat das Projekt beim „Kleinen Fernsehspiel“ vom ZDF eingereicht und dann ging es ganz schnell. Die Redakteurin Claudia Tronnier hat zugestimmt. Danach habe ich bei KLEINE FREIHEIT weiter mit ihr zusammengearbeitet, und mit Thomas haben wir noch APRILKINDER gemacht.

MEIN VATER, DER GASTARBEITER ist ein bewegendes Stück Zeitgeschichte, in welchem du unter anderem traditionelle und industrielle Arbeit einander gegenüberstellst. In einer prägnanten Szene lobt dein Vater den Juniorchef und sagt, er habe anscheinend tolle neue Ideen gehabt. Er legt auch dar: Die türkischen Schweißer waren die besten und wurden gerade deshalb am meisten ausgebeutet.

YY: Die Sietas-Werft war eine der wenigen privaten Werften im norddeutschen Raum, die die Werftenkrise der siebziger und achtziger Jahre überstanden haben, durch eben die sogenannten Gastarbeiter, die für sehr wenig Geld gearbeitet haben. Ein Drittel der Belegschaft waren damals schon Gastarbeiter. Aber dieser Juniorchef, er hat anscheinend doch keine gute Arbeit geleistet: Obwohl die Werft 1634 gegründet wurde, ist sie 2018/19 – in der achten Generation – pleite gegangen.

Einmal haben Soldaten die Ausrüstung gesehen, aber uns passieren lassen. Ich glaube, weil wir nicht in der Kreisstadt gedreht haben, haben sie das nicht so mitbekommen, sonst hätten sie interveniert.

Der andere Teil wurde im Dorf gedreht. Wie waren die Umstände der Filmproduktion?

YY: Wir haben auf 16mm gedreht – mit Kamera, Stativ, Filmmaterial dabei. Ich hatte Angst, weil es überall Kontrollen gab, es war ja Ausnahmezustand. Wir hatten keine Genehmigung, aber wir haben Glück gehabt. Einmal haben Soldaten die Ausrüstung gesehen, aber uns passieren lassen. Ich glaube, weil wir nicht in der Kreisstadt gedreht haben, haben sie das nicht so mitbekommen, sonst hätten sie interveniert. Beim Export der Filmrollen habe ich Schiss gehabt, dass die Röntgengeräte an den Flughäfen dem Material schaden könnten. Ich habe einen Verwandten, der hatte zuvor mal im Flughafen gearbeitet. Mit seiner Hilfe haben wir die Rollen in unseren Taschen an den Röntgengeräten vorbeigeschleust.

Wie wurde der Film damals aufgenommen?

YY: Er hatte viele Zuschauer*innen im ZDF und 3sat hat ihn wiederholt, dann gab es auf dem Münchner Dokumentarfilmfestival einen Preis. Später haben viele Migrationsvereine und Initiativen diesen Film immer wieder gezeigt. Viele aus der zweiten Generation haben sich darin wiedergefunden: die Geschichte ihrer Eltern, ihrer Familie. Das fand ich schön.

Er ist nicht nur ein Dokument der ersten Gastarbeiter-Generation, sondern ja auch ein Dokument des kurdischen Lebens. Das stand bei der Rezeption aber nicht so im Vordergrund, oder?

YY: Natürlich merken die deutschen Kritiker*innen diesen Unterschied nicht immer. Meine Filme handeln von Migrant*innen, aber es ist immer die kurdische Perspektive drin. Türk*innen und Kurd*innen erleben die Migration ganz unterschiedlich. Die Vorliebe der Türk*innen für Erdogan in der deutschen Migration – das ist natürlich das Zurücklehnen auf das Nationale, auf die osmanische Zeit, dass man ein Land wie die Türkei im Rücken hat usw. Die Kurd*innen haben sich auch nach allgemeiner Meinung besser damit abgefunden, dass Deutschland ihre neue Heimat ist und entwickeln mehr Bewusstsein für die neue Gesellschaft.

Euer Dorf liegt auf einer Sprachgrenze, oder?

YY: Wir sprechen Kurmancî, nicht Zaza. In der Nachbarschaft, in der Dersim-Region westlich von uns, gibt es alevitische Zaza und von uns aus im Südosten die sunnitischen Zaza. Religiös ist es schon zum Teil eine alevitische Region, aber durch das zunehmende politische Bewusstsein der Bevölkerung im Rahmen des Konflikts, sind die Grenzen durchlässiger geworden. Auch die prokurdische Partei hat dafür gesorgt.

Die kurdische Identität war der Regenschirm, unter dem sich sowohl Aleviten als auch Sunniten vertragen konnten?

YY: Wobei die Aleviten viel assimilierter sind als die sunnitischen Kurden. Weil der Staat eher den sunnitischen Islam gefördert hat und die Aleviten verfolgt wurden, haben sie ihre Dörfer verlassen und sind in den sechziger, siebziger, achtziger Jahren in die westlichen Städte der Türkei gezogen.

In den Redaktionen der Sender sitzen kaum Menschen mit Migrationshintergrund, die Sensibilität für unsere Projekte entgegenbringen könnten. Überhaupt, in den Medien hierzulande sind Migrant*innen kaum vertreten.

Auf deinen Debütfilm folgten ja zwei weithin beachtete Spielfilme und dann wieder Dokumentarfilme; du hast aber seit neun Jahren keinen Film mehr gedreht. Wie kommt das?

YY: Ich habe weiterhin Spielfilme entwickelt, Drehbücher geschrieben, aber keine Unterstützung bekommen. Die deutsche Fernsehlandschaft hat sich stark verändert. Es werden kaum mehr Dokumentarfilme finanziert, für Kinoproduktionen fehlen die Mittel bzw. Sendeplätze, stattdessen werden nur noch diese blöden Serien gemacht. In den Redaktionen der Sender sitzen kaum Menschen mit Migrationshintergrund, die Sensibilität für unsere Projekte entgegenbringen könnten. Überhaupt, in den Medien hierzulande sind Migrant*innen kaum vertreten. Das ist ein Bereich, der fast ausschließlich den Deutschen vorbehalten ist, bis auf ein Paar Nachrichtensprecher*innen. Das ist aber nur Augenwischerei.

Wenn du könntest: Würdest du noch mal anschließen wollen an diesen ersten Film oder ist das abgeschlossen?

YY: 2018 habe ich ein Dokumentarfilmprojekt zum sechzigsten Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen der Türkei und Deutschland im Jahre 2021 entwickelt. Das Drehbuch wurde vom Bundesbeauftragten für Kultur und Medien unterstützt. Darin ging es um Migrantinnen aus drei Generationen in verschiedenen Regionen Deutschlands. Ich habe es den Sendern vorgelegt. Keiner hat sich dafür interessiert. Das hätte die Fortsetzung von MEIN VATER, DER GASTARBEITER werden können.

Meine Mutter ist die letzte von uns, die noch in Mergamendê lebt. Jedes Mal, wenn ich komme, spüre ich diese Leere mehr. Andererseits freue ich mich angesichts der politischen Situation, dass meine Neffen und Nichten in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, dass sie dort studiert haben, und ein ganz anderes Leben haben als wir damals.

Gibt es denn auch Rückkehrer?

YY: Ja, so wie mein Vater schon damals. Meine Cousins zum Beispiel, die kommen inzwischen hier ins Dorf, und das ist schön. Man ist in der Natur, man trifft Menschen, die man seit 30, 40 Jahren nicht gesehen hat – plötzlich sind sie auch da. Man kommt mit Erfahrungen aus aller Welt in diesem Mikrokosmos zusammen. Dann lebt man so ein paar Monate in Deutschland und ein paar Monate hier. Warum nicht? Da kann wieder was Neues entstehen. Vielleicht mache ich darüber mal was.

Amin Farzanefar lebt in Köln und arbeitet als Kurator und Kulturjournalist vorzugsweise zum Kino des Nahen und Mittleren Ostens.

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