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Am Abendbrottisch, zwischen Flokatiteppich und Zimmerpalme gezwängt, sitzen sich Herbert und Maria gegenüber. Während das Besteck auf Porzellan trifft, gibt es zwischen den Eheleuten keinen Blickkontakt, kein Gespräch. Wie zur Vertuschung der Stille läuft der Fernseher im Hintergrund. Zu diesem blickt Maria ab und zu – eine Geste wie ein Alibi –, unterdessen fordert der Moderator Hans Rosenthal die Spielshow-Kandidaten dazu auf alle „Teile des Menschen“ aufzuzählen, die ihnen in den Sinn kommen. Für die Antworten „Haare“, „Lunge“, „Zehe“, „Augen“ bekommen die Kandidaten je einen Punkt – bis ein Gast nachhakt: „Warum haben Sie denn die Seele vergessen?“

Vielleicht ist es auch das, was Herbert, der Protagonist von ORDNUNG (1980), verloren hat: Den Zugang zu so etwas wie der eigenen Seele. Während er eingefasst in einem BRD-Stillleben sitzt, scheint es, als wäre bloß seine Hülle anwesend, wie ein Bewusstloser in der Spurrinne eines lange eingeübten kleinbürgerlichen Lebens. Dort, wo andere Kinofilme diese Geschichte mit dramatischen Übersprungshandlungen inszenieren würden, bleibt Saless bei einer für ihn typischen Direktheit. Verdrängung, die gesellschaftliche Durchhalteparole eines kapitalistischen Systems, erlaubt er seinem Protagonisten nicht: Erträgt Herbert die Borniertheit der Kund*innen an seinem neuen Arbeitsplatz nicht, nimmt er sich unkommentiert einfach seine Jacke und geht hinaus.

Manchmal verhält sich Filmgeschichtsschreibung wie der fahrende Bus aus Herberts Traum: Sie hält nicht an, nimmt zu selten Abzweigungen.

Sohrab Shahid Saless wurde im Iran geboren, begann seine filmische Ausbildung mit Stationen in Paris und Wien. Seine ersten Langfilme YEK ETEFAGHE SADEH und TABIATE BIJAN liefen 1974 im Forum bzw. im Wettbewerb der Berlinale. Bestärkt durch die Rezeption seiner beiden Filme, aber vor allem aufgrund der Restriktionen des Schah-Regimes entschied Saless sein neues Lebens- und Arbeitsumfeld in der BRD aufzubauen und konnte mit IN DER FREMDE bereits 1975 seinen ersten Film in Berlin drehen.

Es folgten viele Film- und Fernsehproduktionen (darunter auch Koproduktionen mit der ČSSR), für deren Förderung er in Deutschland zeitlebens zu kämpfen hatte. Ein anderer Kampf, war der um die Aufenthaltsgenehmigung, ein Ringen mit Bundesländern, Beamten und Befristungen. Bis er schließlich Deutschland in den neunziger Jahren den Rücken kehrte und nach Chicago ging.

Er hinterließ nach seinem Tod 1998 ein Werk, das sich international verteilt: auf Filmarchive, Sammlungen und Fernsehsender. Aufgrund dieser wechselnden Lebens- und Arbeitsorte benötigt es Weitsicht, um eine filmhistorische Kontextualisierung seines Werkes zu formulieren. Während es einigen Filmhistoriker*innen ein Anliegen ist, Saless retrospektiv dem Neuen Deutschen Film zuzuordnen, zeugten die Filme selbst immer schon ästhetisch sowie thematisch von dieser Verwandtschaft. Jedoch blieb das Werk von Saless Abseits des Kanons und die Möglichkeit von Wiedervorführungen zusätzlich durch die Materiallage begrenzt – ein sich gegenseitig bedingender Stillstand.

Manchmal verhält sich Filmgeschichtsschreibung wie der fahrende Bus aus Herberts Traum: Sie hält nicht an, nimmt zu selten Abzweigungen. Festivals können dann Orte sein, die Raum geben für Erinnern, für neue Konstellationen und Korrekturen. Denn auch wenn ORDNUNG 1980 Weltpremiere auf dem Filmfestival von Cannes feierte, konnte dieser Film keine nachhaltige filmhistorische und somit filmanalytische Würdigung erfahren. Die Gründe dafür sind vielschichtig, so befand bereits 1979 der Filmkritiker Kurt Habernoll, dass sich die Rezeption des Werkes von Saless grundsätzlich veränderte, als er nicht mehr nur seine biografischen Themen verarbeitete: Iran als Drehort (YEK ETEFAGHE SADEH, TABIATE BIJAN) oder das Motiv der Ausgrenzung (IN DER FREMDE).

Plötzlich waren die Filme durch einen mikroskopischen Blick auf die dysfunktionalen Verhaltensstrukturen in der Bundesrepublik geprägt. Die Ästhetik langer, beobachtender Einstellungen, die Saless am Kaspischen Meer erprobte, entwickelte sich zu einem kritischen Instrument. Saless erfasste eine Nachkriegsgesellschaft, deren soziale Kälte er spürte, und die er versuchte aus dem zur Verdrängung führenden Mantel des wachsenden Wohlstands herauszuschälen, um sie sichtbar zu machen. Diese Kälte findet er dort, wo Liebe zu vermuten wäre – zwischen Müttern und Söhnen, zwischen Paaren am Frühstückstisch oder zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen, zwischen Nachbar*innen und im Supermarkt. Eine Kälte, die nicht immer in den Worten steckt, sondern auch in dem Abstand, den Eltern zu ihren Kindern auf dem Nachhauseweg halten, im Überhören und Wegsehen: Empfindungen, Kommunikation und Geschichtsbewusstsein, die gestört zu sein scheinen.

Die Verwandlung des Ausrufes von „Aufstehen“ in „Auschwitz“ am Ende des Films ist dann die Verschiebung von einem Erinnern an die vorstrukturierte Zeit – hin zu einem Erinnern an die eigene Vergangenheit.

In einer unvergessenen Szene von ORDNUNG lässt Saless Herbert am Sonntag um 7 Uhr morgens zwischen die Straßenschluchten von Frankfurt am Main treten. Von dort ruft Herbert den „Müden“ – wie der Philosoph Jacques Rancière sie wohl nennen würde – ein wiederkehrend langgezogenes „Aufstehen“ zu. Die Beschwerden der Müden prasseln lauthals aus den Fenstern hervor – sie fühlen sich um ihren sonntäglichen Frieden betrogen. Ein Moment, der sich durchaus auch als Warnung für diejenigen verstehen lässt, die sich an die Arbeitsstrukturen anpassen: Nur wer am Sonntag schläft, kann auch am Montag wieder arbeiten. Dementgegen gilt es die Zeit, die eigentlich der Erholung zugeteilt wird, zu nutzen, um die eigene Subjektivierung zu gestalten und Lebens- und Arbeitsstrukturen kritisch zu reflektieren.

Die Verwandlung des Ausrufes von „Aufstehen“ in „Auschwitz“ am Ende des Films ist dann die Verschiebung von einem Erinnern an die vorstrukturierte Zeit – hin zu einem Erinnern an die eigene Vergangenheit. Während Theodor W. Adorno in „Erziehung nach Auschwitz“ erkennt, dass die „[...] Erkalteten, die die eigene Kälte nicht ertragen, aber auch nicht sie ändern können“, möchte Saless diesem Umstand entgegentreten. Herbert und Saless scheinen verflochten, wenn Figur und Regisseur von den Rändern der Gesellschaft und Filmgeschichte her auf die Gefahr von fehlendem Mitgefühl und Verdrängung hinweisen. Schon deshalb ist das Werk von Saless eines, das Vergangenheit und Gegenwart immer zusammendenkt, wenn es dafür eintritt, den Zustand der Ordnung stetig zu hinterfragen.

Vivien Buchhorn ist Filmhistorikerin und Kuratorin. Sie beschäftigt sich seit vielen Jahren damit, die Filme von Sohrab Shahid Saless zugänglich und sichtbar zu machen, das Shahid Saless Archive entstand auf ihre Initiative.

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