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Auch wenn sie im ersten Bild von ALLENSWORTH noch nicht zu sehen ist, weist leises Pfeifen gleich auf eine Eisenbahn hin. Das Geräusch kehrt gut zehn Minuten später wieder und wird, begleitet vom ebenso charakteristischen Rattern, so laut, dass die Augen unwillkürlich über die Leinwand schweifen, um das etwaige Erscheinen einer Lok in der Totalen nicht zu verpassen. Doch erst in der anschließenden fünften Einstellung, die wie die anderen elf dieses 65-minütigen Films durch eine Einblendung einem Kalendermonat zugeordnet wird, taucht der erwartete Güterzug endlich am Horizont auf und durchquert, scheinbar endlos, das Bild.

Das gelegentliche Spiel mit dem Off ist typisch für das auf beharrlichen, statischen Einstellungen aufbauende Kino James Bennings. Es mag in diesem Fall wie ein ironisches Selbstzitat des 80-jährigen US-Amerikaners wirken, da die Eisenbahn nomineller Gegenstand von Filmen wie RR (2007) oder FROM BAKERSFIELD TO MOJAVE (2021) war. Zugleich stellt dieses Motiv einen der wenigen konkreten Bezüge zum Thema seines neuen Films her. Denn die Standortwahl für die einzige programmatische Gründung einer Siedlung für Afroamerikaner*innen in Kalifornien verdankte sich nicht zuletzt der Santa Fe Railroad, die einen Umschlagplatz betrieb, an dem Allensworth 1908 aus der Taufe gehoben wurde.

Die Bahngesellschaft weigerte sich freilich, Bewohner*innen der neuen Gemeinde mit verantwortlichen Posten am örtlichen Bahnhof zu betrauen, was einem strukturellen Rassismus entsprach, dem mit pragmatischem Separatismus nicht beizukommen war. Ebenso wenig ließ sich verhindern, dass der Umschlagplatz samt Getreidespeicher 1914 aus dem auf schätzungsweise 160 Köpfe angewachsenen Dorf ins nahe gelegene (mehrheitlich weiße) Alpaugh verlegt wurde. Im selben Jahr starb Allen Allensworth, der Spiritus Rector der Siedlung. 1842 in Kentucky geboren, war er im Bürgerkrieg aus der Sklaverei geflohen und ging zur Marine. Auf ein Theologiestudium war 1886 die Berufung zum Militärpfarrer gefolgt; beim Antritt seines Ruhestandes 1906 war er schließlich ranghöchster Afroamerikaner in der US-Armee.

Unternehmertum und Idealismus

Den Ideen des afroamerikanischen Bürgerrechtlers und Sozialreformers Booker T. Washington entsprechend, verband die Siedlungsgründung Unternehmertum mit gesellschaftspolitischem Idealismus: Mit vier Gleichgesinnten erwarb Allensworth Land, um Parzellen an Schwarze Interessent*innen weiterzuverkaufen. Er war weiterhin beschäftigt, landauf landab für seine Siedlung zu werben, als er nahe Los Angeles Opfer eines tödlichen Verkehrsunfalls wurde.

Unterdessen hatte sich am Siedlungsort eine zusätzliche Schwierigkeit abgezeichnet: Die bestehenden Brunnen gingen zur Neige, doch die Firma, die das Land ursprünglich verkauft hatte und weiterhin für die Wasserversorgung verantwortlich war, konnte oder wollte nicht ausreichend Abhilfe schaffen. Während der Grundwasserspiegel sank, konnten die Bewohner*innen das Versorgungsproblem auch in Eigenregie nicht nachhaltig lösen. Erst 1968 konnte dank Fördergeldern und Eigenarbeit ein neuer Brunnen gebohrt werden, um das arsenverseuchte Wasser zu ersetzen, auf das die wenigen verbliebenen Bewohner*innen mittlerweile angewiesen waren. Sie lebten in einer „Quasi-Geisterstadt“ („virtual ghost town“), wie die afroamerikanische Zeitschrift „Jet“ schrieb. Im selben Jahr begann einer der Ortsansässigen für die Umwandlung des Orts in einen State Historic Park zu werben, was im Laufe des folgenden Jahrzehnts schließlich realisiert wurde.

Nüchternheit und Überhöhung

In Bennings Bildern kommt diesem Freilichtmuseum bezeichnenderweise nicht die erbauliche Feierlichkeit eines Denkmals zu, da der Filmemacher Kamerawinkel und Lichtverhältnisse wählt, die den restaurierten beziehungsweise wiederaufgebauten Gebäuden banale Nüchternheit verleihen. Das gilt auch für das Haus, das der Siedlungsgründer mit seiner Ehefrau Josephine Leavell Allensworth bewohnte, oder für die kleine Bibliothek, die Letztere zu Ehren ihrer verstorbenen Mutter stiftete. Und es gilt sogar für das Schulgebäude, das die Siedlung offenbar architektonisch dominierte und den hohen Stellenwert symbolisierte, den die Bewohner*innen, ganz im Sinne Booker T. Washingtons, schulischen und beruflichen Qualifikationen beimaßen.

Allerdings wurde im Schulgebäude die einzige Innenraumszene dieses Films gedreht, die aus dem (jüngeren) Oeuvre Bennings auch deshalb heraussticht, weil vor der Kamera Text vorgetragen wird: Gedichte von Lucille Clifton. Dabei ist nicht zuletzt das Kostüm von Bedeutung, das die vorlesende Faith Johnson trägt: Die Einblendung eines Fotos im Abspann macht deutlich, dass Bluse und Rock der Kleidung nachempfunden sind, die die 15-jährige Elizabeth Eckford trug, als sie mit acht gleichfalls Schwarzen Mitstreiter*innen 1957 in Little Rock einen berühmten Schritt zur bundesweiten Beendigung der Segregation machte, indem sie beim Besuch einer bis dahin Weißen vorbehaltenen Schule vehemente Anfeindungen ertrug.

Die subtile Heroisierung, die damit in der Klassenraumszene von ALLENSWORTH anklingt, lässt sich auch als ambivalenter Kommentar auf das Schicksal der kalifornischen Siedlung verstehen. William A. Payne, nach dem der Klassenraum benannt ist, war Lehrer und Leiter der 1910 gegründeten Schule (dessen Bezahlung nicht zum Leben ausreichte, weshalb er sich im Sommer zur Ausbesserung von Deichen anheuern lassen musste). Nachdem er zum Quintett der Siedlungsgründer gehört hatte, wollte er der Gemeinde eine tragfähige wirtschaftliche Basis verschaffen, indem er 1914 für die Errichtung eines polytechnischen Berufskollegs warb, dem das berühmte Tuskegee Institute in Alabama als Vorbild dienen sollte. Dabei wurde in der öffentlichen Diskussion des Planes, der von weißen Politikern aus dem Umland unterstützt wurde, wie selbstverständlich vorausgesetzt, dass der Besuch der Einrichtung de facto – wenn wohl auch nicht de jure – Schwarzen vorbehalten sein würde. Im Einklang mit den Theorien Booker T. Washingtons und der separatistischen Praxis der eigenen Gemeinde war Payne bereit, diese Beschränkung in Kauf zu nehmen. Er deutete das als taktisches Zugeständnis an die Realität einer rassistischen Gesellschaft, um Schwarzen im ganzen Bundesstaat unmittelbar eine neue Ausbildungsmöglichkeit zu bieten sowie den afroamerikanischen Ortsansässigen ein sicheres Auskommen. Mittelbar sollten so auch die Vorurteile der weißen Mehrheitsgesellschaft durch die Hervorbringung vorbildlicher Absolvent*innen erschüttert werden

Doch die Mehrheit der afroamerikanischen Aktivist*innen war in Kalifornien zu solchen Zugeständnisse längst nicht mehr bereit. Oberste Priorität hatte, der im Bundesstaat abgeschafften Schulsegregation kein neues Einfallstor zu bieten. Der schwarze Widerstand war wohl ausschlaggebend dafür, dass die Initiative zur Gründung des Berufskollegs 1915 im Regionalparlament versandete.

Holger Römers schreibt über Film v.a. für die Berliner Tageszeitung „junge Welt“ und das Kölner Monatsmagazin „StadtRevue“ und lebt in Köln.

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