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„Es gibt mindestens zwei Arten von Menschen“, schreibt die US-amerikanische Autorin Anne Boyer in „Garments Against Women“ (2015). Den einen „ist es nicht fremd, die Welt zu erschaffen und zu erhalten, und die Welt behandelt sie auch nicht als Fremde“ – und dann gibt es jene, die die Welt kaum ertragen können, denen alles, was zur Welt gehört, eine Last ist. Martín Shanlys erster Langfilm JUANA A LOS 12 (2014) war das Porträt eines Mädchens am großbürgerlichen Stadtrand von Buenos Aires. Juana (gespielt von der Schwester des Regisseurs; auch seine Mutter gehörte zum Cast) erlebt Momente des Glücks trotz ihres fremdbestimmten Lebens, das einem grauen Alptraum gleichkommt. Juana versteht allmählich, dass sie zur zweiten Kategorie gehört und muss herausfinden, wie sie am besten damit umgeht. Manchmal, wenn ihr alles bis zum Hals steht oder wenn sie von etwas überfordert ist, wird sie zu einer Art Spiegel und zeigt den Menschen in ihrem Umfeld, wie sie deren Leben wahrnimmt. Diese kleinen Spannungen sind voller Zärtlichkeit und unüberbrückbarer Differenzen. Aus ihnen heraus entwickeln sich die Bewegungen innerhalb des Films, weitab von den üblichen Forderungen nach Schönheit und Information.

Der Protagonist von ARTURO A LOS 30 (About 30), gespielt vom Regisseur selbst, bewegt sich in ganz ähnlichen Fahrwassern wie Juana, zugleich fügt Shanlys zweiter Spielfilm eine neue Ebene hinzu. Es gibt nicht nur zwei Arten von Menschen, sondern auch zwei Arten von Filmen. Die einen zeigen erst die Welt und wenden sich dann dem zu, was in ihr geschieht. Auch wenn das große Ganze nur angedeutet wird oder nur für einen kurzen Moment zu sehen ist, bleibt es allgegenwärtig mit seinen Regeln und Normen als Kulisse für jene Gesten, die als kleine Zufluchten vor dem Gewöhnlichen dienen. Es handelt sich hierbei um »Zoom in«-Filme wie King Vidors THE CROWD (1928). Zuerst sehen wir eine Großstadt mit riesigen Wolkenkratzern, dann einen Raum voller Angestellter, die an ihren Schreibtischen sitzen, bis die Kamera schließlich auf einem Mann endet, dessen Geschichte daraufhin erzählt wird: John Sims. Wir sehen zwar das Individuelle, aber immer im Kontext des Allgemeinen.

Die Zoom-outs in ARTURO mögen geringfügig erscheinen, sind aber gewaltig. Mit jeder neuen Sequenz versteht man mehr und mehr, dass das Leben keine gerade Linie ist, keine Anhäufung von Zeit auf Erden, sondern ein vielschichtiges Gebilde, zu dem auch das Leben der Anderen gehört.

Das Gegenteil sind »Zoom-out«-Filme, in denen die Bewegungen gegen die Norm gehen. Alles beginnt mit einem Bild ohne Kontext, einer fremd anmutenden Situation, einer Figur, die einfach nur nervt. Es gibt Stillstand und Frustration, aber so gut wie keinen Bezugsrahmen. Und dann, nachdem uns der Film verwirrt, ein wenig verärgert und auf rein gar nichts vorbereitet hat, setzt er sich endgültig in Bewegung. Anstatt eines Gefühls für das Große und Ganze zu vermitteln, wird uns eine Abfolge von miteinander verknüpften Besonderheiten präsentiert lediglich mit Seitenblicken auf Übergeordnetes. Der Film begleitet Arturo durchs Leben, der vor dem Verlust seiner Arbeit der gehobenen Mittelschicht angehörte, und verfügt über eine eigenwillige Form: Immer wenn etwas Schlimmes passiert, springt er zu einer neuen Erinnerung, öffnet sich im Browser gewissermaßen ein neuer Tab. Jedes Mal werden wir an einen anderen Ort geführt: Wir erleben Arturos Vergangenheit, seine Freunde und Familie, die Orte, an denen er gewesen ist, verschiedene Stadien von Traurigkeit und Verzweiflung.

Die Zoom-outs in ARTUROA LOS 30 mögen geringfügig erscheinen, sind aber gewaltig. Mit jeder neuen Sequenz versteht man mehr und mehr, dass das Leben keine gerade Linie ist, keine Anhäufung von Zeit auf Erden, sondern ein vielschichtiges Gebilde, zu dem auch das Leben der Anderen gehört. Alle Rückblenden handeln scheinbar von unserem Protagonisten, stellen tatsächlich aber Momente im Leben einer anderen Person dar, in denen Arturo irgendeine Rolle gespielt hat, kleine Momente der Intimität, in denen sein Leben über sich selbst hinauswies. Jede Bewegung ergänzt den Film um ein leises Gefühl. Das Tragische wird nicht als Auslöser für etwas enthüllt – Zoom-out-Filme handeln nicht von Auslösern –, sondern als Moment der Tiefe. Es ist die Trauer, die größte Leere, die den Film leuchten lässt, weil er im Land der Gegensätze heimisch ist.

ARTURO A LOS 30 ist eine schwarze Komödie, deren Humor sich in jedem noch so kleinen Abstand wiederfindet, den der Film durchmisst, denn das Herauszoomen ist auch ein Ton, eine Art, sich durch eine sehr langsam erzählte Szene zu bewegen. Während sich der Film weiter öffnet, sind es nicht mehr nur Arturo, seine Freund*innen, seine Schwester und seine Mutter, die teilhaben an allem, was kompliziert und lustig ist, sondern eine Gruppe von Menschen. Der Film gewährt uns Einblicke in bestimmte Bereiche einer bestimmten Klasse, meist innerhalb von Gated Communities, jenem Ort, wo ein bewaffneter Angestellter lächelnd und winkend begrüßt wird, wo sich ein Teenager am Eingangstor übergibt, wo sich eine Frau in so etwas wie Hüpfschuhen zwei Freund*innen nähert und Menschen auf einer Bühne menschliche Organe interpretieren. Etwas später dann ist die Stadt zu sehen, vergangene Momente erscheinen in Rückblenden, jene gar nicht so lang zurückliegende Zeit etwa, als es noch illegal war, abzutreiben. Und dann sehen wir das Land, im Fenster eines Reisebusses – einer jener typisch argentinischen Doppeldecker mit riesigen Sitzen und verstellbaren Rückenlehnen, die innerhalb von 24 Stunden das Land durchqueren –, das Land mit seinen Bergen im Süden, den Theatern in der Stadt, den Country Clubs.

ARTURO A LOS 30 spielt in einer Welt, die mit der unsrigen nahezu identisch zu sein scheint, von ein paar Verbesserungen abgesehen. Da wäre in erster Linie die Form, die die Figuren von der Last befreit, „ihre Rolle im Theater des Lebens zu spielen“ (Blah Blah Blah!), stattdessen dürfen sie einfach nur sein. Liebend und streitend bilden das Selbst und die Anderen hier ein so sonderbares wie wärmendes Miteinander und koexistieren in all ihrer Differenz. In dieser berührenden Form werden die letzten die ersten sein.

Lucía Salas ist Kritikerin und Kuratorin und widmet sich in ihrer Arbeit der Vergangenheit, der Gegenwart und dem Kino.

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