Direkt zum Seiteninhalt springen

Umstürzende Hauswände sind gewöhnlich kein Grund zur Heiterkeit. Kriege und Naturkatastrophen spülen Bilder von Ruinen in unsere Timelines, als gäbe es kein Gestern. Im Kino hingegen konnte eine umkippende Wand schon immer sehr komisch sein, wie jene, die in STEAMBOAT BILL JR. (1928) auf Buster Keaton fällt: Weil der in kalkulierter Zufälligkeit genau dort steht, wo ein Giebelfenster bei der Landung eine Lücke lässt, kommt er nicht zu Schaden. Wenige Zentimeter nur, und er hätte seine Kunst des stoischen Ausharrens mit dem Leben bezahlt.

Susana Nobres Spielfilm CIDADE RABAT ist voller eingestürzter Hauswände und solcher, die es bald sein werden. Und dennoch eskaliert nie etwas. Es beginnt mit intakten Erinnerungen aus einem intakten Mehrfamilienhaus. Die Erzählerin rekapituliert aus dem Off die Wohnparteien ihrer Kindheit. Im düsteren Tageslicht porträtiert Paulo Menezes’ Kamera jede verschlossene Tür, während der Text die Leben dahinter umreißt, nüchtern, ohne Wertungen. Dazwischen schreiben die Schatten der Gittertüren eines alten Aufzugs bewegte Muster auf Wände und Böden. Bis die Kamera am Räderwerk jener Mechanik hängenbleibt, die all die Jahre Menschen auf und ab befördert hat. Sie sieht aus und rattert wie ein historischer Filmprojektor.

Eine „melancholische Komödie über die Trauer“ nennt Nobre ihren Film, dessen spröde Komik sich langsam und diskret entfaltet. Im anfangs porträtierten Haus lebt die Mutter (Paula Bárcia), die alte Fotos betrachtet und zerreißt, ohne Zorn oder Trauer. Erzählerin Helena (Raquel Castro) wird aus diesem Haufen zerrissener Momente ein Bild einstecken. Erfüllt ist die Wohnung von jenem schmerzlichen Licht, das es nur in Wohnungen alt gewordener Eltern gibt, die mit dem Licht allmählich aus der Welt verschwinden. Neues Leben aber rückt nach in Gestalt von Helenas Teenager-Tochter Maria (Laura Afonso), die ihre Zeit abwechselnd beim Vater und bei der Mutter verbringt. Wieder werden Eskalationserwartungen enttäuscht: Das Heftigste, das man einander antut, ist das sachte Zurückziehen einer Hand.

Helena (Raquel Castro) ist Filmproduzentin. Das klingt glamouröser, als es in einem wirtschaftlich gebeutelten Land wie Portugal sein kann. Sparsam muss Helena in allen Bereichen kalkulieren. Sie erklärt ihrem Regisseur namens João Allen seinen Handlungsrahmen: Er hätte gerne eine einstürzende Hauswand, muss jetzt aber aus Kostengründen mit einem Bagger vorliebnehmen, der ein bisschen Schutt verräumt. Sparsam ist Helenas Mimik, wenn sie hinter ihrer Woody-Allen-Brille und eingehüllt in einen übergroßen Mantel columbogleich durch Gassen streift, bis sie immer wieder am Bildrand von grünem Gewucher verschluckt zu werden scheint.

Der Moment, in dem ein Elternteil stirbt, ist nicht unbedingt der, in dem eine Welt zusammenstürzt. Sondern der, in dem die Fragmente, die es schon vorher gab, neu zusammengesetzt werden wollen.

In den Gassen haben sich Migrant*innen zwischen Mauerresten und halbwegs intakten Gebäuden eine Welt aus Schrebergärten und Party-Hinterhöfen eingerichtet. Als Mitwirkende des aktuellen João-Allen-Films verdienen sie sich ein kleines Zubrot. Helena verteilt das Bargeld an die meist nicht einmal Gemeldeten. Sachlich und korrekt geht es dabei zu. Momente der Irritation klären sich ohne viele Worte auf. Einmal erhält Helena einen Anruf und entfernt sich inmitten des Trümmer-Settings, wir hören nicht mit. Der Moment, in dem ein Elternteil stirbt, ist nicht unbedingt der, in dem eine Welt zusammenstürzt. Sondern der, in dem die Fragmente, die es schon vorher gab, neu zusammengesetzt werden wollen.

Nach der nur beinahe bizarren Beerdigung der Mutter (auch dort geht wieder alles gut) hält Leichtigkeit in den Film Einzug: Helena lächelt. Aber nur, wenn sie anderen beim Tanzen zusieht. Und sie tanzt. Aber nur, wenn sie sturzbetrunken ist. Mit 1,54 Promille wird sie von der Polizei gestoppt. Eine islamfeindliche Bemerkung der Polizisten lässt ihren Blick stocknüchtern werden. Wieder entbrennt kein offener Konflikt. Selbst die Sozialstunden, zu denen sie vom höflichen Beamten verurteilt wird, eröffnen Neues, mit dem sich arbeiten lässt. Helenas Geschichte lässt sich auch lesen als die einer Frau, die ihre Nüchternheit einfach nicht loswird.

Das ist der sanft absurde Vergeblichkeitsraum, in dem sich CIDADE RABAT bewegt: Es geht um Verlust und Gedächtnis, um das fragile Verhältnis zu gewünschten oder erinnerten Bildern. Und damit um die barocke und potenziell komische Hinfälligkeit dessen, was dieser heute baut und jener morgen einreißt. In diese Welt dringen unverhofft magische Momente, und seien es Autos, angeordnet wie zu einer geheimen Versammlung. Man würde sich nicht wundern, würden sie wie in Apichatpong Weerasethakuls MEMORIA selbstständig anfangen zu hupen.

Dass Nüchternheit und Euphorie, Schroffheit und Zauber keine einander ausschließenden Kategorien sind, bewies Nobre bereits 2021 in ihrer Doku-Fiktion NO TÁXI DO JACK über einen Taxifahrer, der in den siebziger Jahren nach New York ausgewandert ist und Anfang der Neunziger nach Portugal zurückkehrt. Auch CIDADE RABAT spürt den weniger linearen als kreisförmigen Wegen nach, auf denen jemand (nicht) ins Leben findet; jener Mechanik, die beharrlich dafür sorgen will, dass die einen hier sind und die anderen dort, die einen oben, die anderen unten.

Cosima Lutz lebt in Berlin und arbeitet als Filmkritikerin für verschiedene Print- und Online-Medien wie „Die Welt“ und „Filmdienst“.

ZURÜCK ZUM FILM

Gefördert durch:

  • Logo des BKM (Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)
  • Logo des Programms NeuStart Kultur