„Es gibt eine Zeit, in der der Tod ein Ereignis ist, ein nahendes [ad-venture], und insofern mobilisiert, interessiert, Spannung weckt, aktiviert, lähmt. Und dann ein Tag, an dem er kein Ereignis mehr ist, sondern nur noch eine Dauer, kompakt, belanglos, ungenannt, öde, endgültig: Wahre Trauer ist zu irgendeiner narrativen Dialektik außerstande.“
Die Sätze sind einem Eintrag im „Tagebuch der Trauer“ entnommen, das Roland Barthes 1977 nach dem Tod seiner Mutter geschrieben hat. Mit denselben Worten lässt sich beschreiben, was Helena, die Protagonistin aus CIDADE RABAT, durchmacht. Helena hat die vergangenen zwei Jahre damit verbracht, sich um ihre kranke Mutter zu kümmern. Nach dem Tod der Mutter akzeptiert Helena schicksalsergeben ihre Trauer und versucht, sowohl eine normale Arbeitsroutine als auch eine emotionale Verfügbarkeit für ihre zwölfjährige Tochter Maria aufrechtzuerhalten.
Aber die Vertrautheit mit den Umständen des Sterbens, zu der sie durch die Erfahrungen mit ihrer Mutter gelangt ist, gibt Helena das Gefühl, dass das Leben mit seinen Tagen, die einander in einem Wimpernschlag ablösen, ohne dass wir begreifen, was geschieht, zu schnell vorübergeht. Dieser innere Zustand wird im Film nicht direkt gezeigt, doch in seinem weiteren Verlauf bekommen Helenas Trauer und Identität in deren schwindelerregender Verknüpftheit mit ihrem Alltag eine unerwartete Bedeutung. Helena wird von widersprüchlichen Emotionen heimgesucht; gleichzeitig mit der Ungewissheit des Lebens und dessen Endlichkeit konfrontiert, sucht sie Zuflucht in einem Zustand der Euphorie, begierig, an den Freuden des Lebens in jeder erdenklichen Form teilzuhaben.
Helena erkennt: Alles wird vergessen, den Lebensumständen überlassen; die werden es sein, die am Ende die Dinge regeln. Das ist die Hauptachse des Films, sein Ausgangspunkt und Ankunftsort.
Helena ist Filmproduzentin. Ihre Arbeit wirft eine Reihe von „Anekdoten“ und Ereignissen ab, die sich vor einem kosmopolitischen Hintergrund entfalten, mit geläufigen Figuren und alltäglichen Vorkommnissen. Helena ist eine unbeteiligte Zeugin all dessen. Geld und Gefühle spielen untergründig zusammen in dieser Mittelklasse-Figur, die kurz vor ihrem 40. Geburtstag eine Identitätskrise durchmacht. Sie nimmt, was immer ihr über den Weg läuft, und findet Freude am Unpersönlichen.
Durch das Wesen des Bildes, lädt das Kino ein zum Nachdenken über Erscheinung und Wahrheit, über die äußerlichen Aspekte des Lebens und dessen wahre Identität – und so fängt Helena an, über ihre eigene Wirklichkeit nachzusinnen. Ihr Bewusstsein davon erlangt sie, als sie nach dem Tod der Mutter deren Haus – das auch das Haus der eigenen Kindheit war – wieder verlässt. Die Wiederbegegnung mit dem, was ihr gehört, ruft in Helena eine sichtbare Traurigkeit hervor und darüber hinaus die Erkenntnis, dass auch sie selbst im Begriff ist zu verschwinden. Zu Beginn des Films zerreißt Helenas Mutter alte Fotos, womit sie, ohne dies zu wollen, auf ein Auslöschen von Erinnerung zusteuert. Helena erkennt später: Alles wird vergessen, wird den Lebensumständen überlassen; die werden es sein, die am Ende die Dinge regeln. Das ist die Hauptachse des Films, sein Ausgangspunkt und Ankunftsort. Wie schon Montaigne sagte, ist nichts schmerzhafter, als an einem Ort zu verweilen, an dem alles um uns herum uns etwas angeht ... Nun, CIDADE RABAT folgt Helena auf ihrem Weg und beginnt mit dem Vorlesen eines in der ersten Person verfassten Textes, der das Haus ihrer Kindheit beschwört – den Ort, wo alles begann.
Susana Nobre
Übersetzung: Stefan Pethke