Du – eine junge Frau Anfang dreißig – befindest dich zwischen Karrieren, Beziehungen, Interessen und treibst insgesamt von einem Wissensgebiet und einer Erfahrung zur nächsten. Eines Tages, in der schieren Unklarheit deiner Umstände, entschwindet auf einmal das Gesicht, das du als dein eigenes zu akzeptieren gelernt hast. Und aus dem Nichts entsteht ein neues: eines, dass die Spannungen und Skepsis deiner Psyche so subtil und genau ausdrückt, dass sich diese neuen Funktionen so anfühlen, als wären sie genauso ein Teil von dir, wie die vorherigen …
Mindestens eine deiner Großmütter scheint von dieser Veränderung gestört zu sein. Statt dich beim Namen zu nennen, wenn sie dich sieht, spricht sie dich nun mit „Schatz“ an und nuschelt weiter – mit der gesammelten Missbilligung und Resignation eines Menschen, der schon immer befürchtet hat, dass so etwas einmal passieren würde –: „Ich weiß gar nicht mehr, wie ich dich mit diesem Gesicht nennen soll.“ Online, wo du deine Metamorphose mit aktualisierten Fotos auf allen Profilen mitteilst, ist das Feedback hingegen … enthüllend. Die Präsentation deines komplett neuen Gesichts führt dazu, dass du als Göttin gefeiert wirst oder gefragt, ob du einfach eine neue Frisur hast. Was kann das bedeuten?
Natürlich sagt diese Erfahrung etwas über die veränderten Erwartungen sozialer Medien aus, über das Scrolling, über die Toleranz, die wir für fotografische Filter und die Transformationskraft eines Kamerawinkels entwickelt haben. Aber ist die reflexhafte Reaktion: „ja, alles gleich, und dennoch anders“ ein Symptom von Apathie, von Ablenkung, oder ist es Beweis einer Art semiotische Überstimulierung; haben wir durch die Überforderung einfach aufgehört, Symbole und Zeichen aufzunehmen und dem Zuviel erlaubt, blind den Ort zu wechseln, oder sich sogar selbst auszuschalten?
Der Akt der Analyse
Solche Szenarien, die in Melisa Liebenthals EL ROSTRO DE LA MEDUSA (The Face of the Jellyfish) mit einem phosphoreszierenden Charisma entwickelt und präsentiert werden, spielen auf die Frage an, was es bedeutet, sowohl als lebendige Dateneinheit, die jederzeit zur Analyse freisteht, zu leben, als auch immer Mitverarbeiter von Daten zu sein. Diese Themen werden zuallererst auf institutioneller Ebene erforscht. Wir treffen zum ersten Mal in einer Arztpraxis auf unsere Protagonistin Marina – die achte Praxis, die sie bezüglich ihrer Gesichtstransformation konsultiert hat. Die Ärztin ist skeptisch; nach den medizinischen Untersuchungen, die sie gerade gemacht hat, ist die Patientin vor ihr so gesund, wie jede Person Anfang dreißig es erwarten kann, und benötigt keine weitere Analyse oder Behandlung.
Marinas unerbittliche Versuche, weiterhin eine Version ihrer selbst zu verkörpern, die allerdings ihren Bezugspunkt verloren hat – das Anschauen alter Familienfotos, Versuche ihren Ausweis zu erneuern, ein Zwischenspiel, in dem sie versucht, so zu leben als wäre nichts passiert –, schaffen ihrer Vergangenheit die Möglichkeit, sie zu reklamieren, ob als Erweiterung oder Wiederholung. Schließlich erhält die Zukunft ihre Chance, sie als Neuheit zu begrüßen – sie aktualisiert ihre Profile, nimmt einen neuen Namen an und hat eine Affäre.
Gut platzierte Debatten
Zwischendrin gelingt es der Vergangenheit aber doch, sie zu reklamieren, zu überbrücken, was beispielsweise im Blickaustausch zwischen Marina und ihrem vielleicht Exfreund deutlich wird, als sie sich das erste Mal nach ihrer Transformation begrüßen. All die Begeisterung des Neuen ist da, umhüllt vom Samt der Vertrautheit – oder der vermeintlichen Vertrautheit. Dennoch schrecken beide leicht zurück, so als ob sie eine Falle oder einen Trick vermuten würden. Der Raumklang spielt hier eine Rolle, die federhaft flatternde Atmung als einzig passender Soundtrack für ein solches Aufeinandertreffen – alles andere würde die Intimität verderben.
EL ROSTRO DE LA MEDUSA hebt ein Element des Wahns (und auch einer möglichen Vergeblichkeit) in unseren Versuchen hervor, inmitten individueller und gesellschaftlicher Strudel des Verbergens und Zeigens spezifische Punkte zu fixieren. Es ist ein Zustand, der unsere Aufmerksamkeit erfordert, in dem wir auch regelmäßig unsere Beziehungen zu den Gesichtern, die wir anderen zeigen, erneuern müssen – so wie wir auch sonst unsere anderen Identitätsnachweise beibehalten und erneuern. Es ist überfordernd und fast schon zu anstrengend, um auch nur darüber nachzudenken – aber dann zwinkert dieser Film mich an, und alle meine Gesichter zwinkern zurück.
Helen Oyeyemi lebt in Prag und ist Autorin von zehn Büchern, zuletzt erschienen „Peaces“ (2021) und „Parasol Against the Axe“ (2024).
Übersetzung: Meret Weber