„Seid ihr alle aus Anklam?“
„Ja, noch.“
„Wir bleiben.“
„Wo könnte man denn hin?“
„Kommt drauf an, was man sucht.“
So ungefähr lautet ein Ausschnitt aus einem Gespräch, das Regisseur Volker Koepp relativ zu Beginn von GEHEN UND BLEIBEN in Anklam mit einer Gruppe junger Punks an der Wasserkante der Peene führt. Weil diese ganz cool mit dem Rücken zur Kamera sitzen bleiben, lässt sich nicht jedes Wort verstehen. Doch es reicht, um einen Rahmen zu liefern für einen Film, der später detaillierter um Heimat, Fortgehen, Fluchtbewegungen und Heimweh kreist. So ist der kurze Austausch am Fluss auch einer der wenigen ganz der Gegenwart verhafteten Momente des Films.
„Uwe Johnson German Author Lived Here 1974–1984.“
Das sagt eine nüchterne Plakette am Reihenhaus Nummer 26 an der von Möwengeschrei umwehten Seepromenade von Sheerness auf der britischen Isle of Sheppey, der sich der Film zu Anfang und Ende in zwei langen Schwenks über das Wasser annähert. Den Schriftsteller nimmt der Film als Sujet und als Medium, um den interessierten Blick auf Landschaften und Menschen Mecklenburgs und deren Bewegungen und Regungen zu richten. Hier wuchs auch Johnson auf, der 1934 im Pommerschen Cammin geboren wurde: Anklam, Recknitz und Güstrow heißen Stationen seiner Jugend, die besucht werden. Am 10. Juli 1959 reiste Johnson endgültig mit der S-Bahn vom Osten der Stadt nach Westberlin, später von dort weiter an den Riverside von New York und dann wieder Richtung Osten an die südenglische Küste. Vor seinem Haus dort ragen draußen im graugrünlichen Wasser des Mündungstrichters der Themse schräg drei Masten des 1944 mit 1400 Tonnen TNT als Ladung gesunkenen US-Frachters SS Richard Montgomery aus den Fluten.
„Mein Bruder ist ja da geblieben, wo sie jetzt kämpfen.“
Das sagt Fritz Rost in Anklam auf Koepps Frage nach dem „Krieg jetzt". Sein ganzes Leben habe er in einem zwölf Kilometer entfernten Dorf gelebt, zwei Brüder im Krieg verloren. Zu lange habe man gedacht, das sei weit weg und ginge einen nichts an. Seine Krücke hat er für den Aufrtitt vor der Kamera von Uwe Mann an den Brunnen auf dem Marktplatz der Stadt gelehnt. Auch der von Koepp gesprochene und von Drehbuchautorin Barbara Frankenstein geschriebene Off-Kommentar verknüpft zu Beginn von GEHEN UND BLEIBEN mit einem Zitat aus Johnsons Romanzyklus und Hauptwerk „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ den Überfall sowjetischer Truppen 1956 in Ungarn mit der Gegenwart. Und lässt ahnen, dass mit dem russischen Angriff auf die Ukraine auch für die FilmemacherInnen ein halbes Leben nach dem Ende der DDR noch einmal eine neue Zeitrechnung begonnen hat: „In der Gegenwart sind alle der Hoffnungen der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts auf eine friedlichere Welt verflogen. 2020 begann unsere Reise mit Texten Uwe Johnsons in seine Landschaften, zu Orten und Menschen. Die Pandemie sorgte immer wieder für Unterbrechung der Dreharbeiten. So reichten sie über den 24. Februar 2022 hinaus, der Tag, an dem Russland seinen Krieg gegen die Ukraine auf das ganze Land ausweitete.“
„Beim Gehen an der See gerieten wir ins Wasser. Rasselnde Kiesel um die Knöchel. Wir hielten einander an den Händen: ein Kind; ein Mann unterwegs an den Ort wo die Toten sind; und sie, das Kind das ich war.“
Dies ist der vielzitierte oszillierende letzte Satz des vierten und letzten nach langer unfreiwilliger Schreibpause 1983 erschienenen Bandes von „Jahrestage“, dessen Erzählung am 20. August 1968 parallel zur gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings endet. See und Strand im Roman sind die des dänischen Klampenborg bei Kopenhagen. Im Film kommt die Passage im Ton gleich zwei Mal ebenfalls gegen Ende vor: Einmal wird er von der jungen Johnson-affinen Übersetzerin und Autorin Judith Zander auf einem Bahnsteig des Bahnhofs von Anklam vorgelesen, wo er in eine Ansage zur Verspätung der Regionalbahn nach Stralsund übergeht. Das zweite Mal spricht ihn etwa zehn Minuten später die Stimme Uwe Johnsons selbst zu anwachsendem Wellenrauschen aus dem Off, während der Film einen letzten langsamen Schwenk von Kiefern und Dünen nach rechts auf die Wasser am (vermutlich) mecklenburgischen Sandstrand macht.
„Die Katze Erinnerung“
ist ein später auch für den Titel einer 1994 im Suhrkamp-Verlag herausgegebenen „Chronik von Bildern und Texten“ genutztes sprachliches Motiv aus dem einzigen im Film als Text eingeblendeten Gedicht Johnsons. Auch im Bild geraten wie nebenbei immer wieder vorbeihuschende Katzen ins Visier der Kamera von Uwe Mann. Wie es aber gelang, ein schönes grauschwarzweiß getigertes Tier auf dem Friedhof von Sheppey Island dazu zu bringen, von allen Himmelsrichtungen ausgerechnet den Weg über den in die Erde eingelassenen roten Grabstein von Johnson zu wählen, werden Kameramann oder Regisseur hoffentlich bei einem der kommenden Filmgespräche offenbaren.
Silvia Hallensleben lebt in Bonn und Berlin und schreibt für verschiedene Medien vorwiegend zum nicht-fiktionalen Film.