Direkt zum Seiteninhalt springen

Außenseiter, Outlaws und dissidente Figuren galten den Verfechter*innen eines andersdenkenden, unabhängigen und wagemutigen Kinos zwar immer schon als Role Models, doch in einer Filmindustrie, in der jeder Produktionsschritt überwacht, x-mal durchgekaut und geglättet wird, existieren nur wenige reale Menschen, die selbst dieses Etikett verdient haben. Der französisch-algerische Regisseur Rabah Ameur-Zaimeche ist jedoch zweifellos einer der wenigen Filmemacher, der aktuell in seiner Themenwahl, seinen Protagonist*innen und cineastischen Vorbildern und seiner Arbeitsweise hartnäckig – ja, nahezu kühn und halsbrecherisch – an einem solch egalitären, entgrenzten, politischen und poetischen Ideal festhält.

Nach sechs Filmen, in denen sich heldenhafte Outlaws unserer und vergangener Tage tummelten, wagt er sich mit LE GANG DES BOIS DU TEMPLE (The Temple Woods Gang) nun auf das Territorium eines Jean-Pierre Melville: Es ist sein erster echter Kriminalfilm inklusive Ganoven, Privatdetektiven, Vigilanten, Handlangern, Beschattungen, Schießereien und kaltblütiger Rache. Aber jeder, der mit seiner Art des Filmemachens vertraut ist, wird seine ganz persönliche Handschrift bei der Interpretation des Genres erkennen. Auf der einen Seite kehrt der Regisseur zurück zur Cité du Bois du Temple in der Pariser Banlieue von Clichy-sous-bois, nur wenige Kilometer von dem Ort entfernt, an dem er aufwuchs und seinen ersten Film drehte (WESH WESH QU´EST-CE QUI SE PASSE?, der seine Premiere im Forum 2002 erlebte). Es ist ein Viertel, das ungeachtet seines malerischen Namens eine jener verwahrlosten Vorstädte bleibt, deren Bewohner*innen von französischen Politiker*innen und Medien am liebsten vernachlässigt und/oder als willkommene Sündenböcke für alles Erdenkliche missbraucht werden. Zugleich ist der Film eine düstere Mär von modernen Robin Hoods, die einen arabischen Prinzen und seinen treuen Diener ausrauben (Mohamed Aroussi und Lucius Barre) und danach einen eleganten Privatdetektiv (Slimane Dazi) auf den Fersen haben. Dann dauert es nicht mehr lange, bis ein Engel (Régis Laroche), der als unauffälliger Nachbar auf die Erde hinabgestiegen ist, die Menschen der Banlieue, die seit Jahrzehnten unter einer ungerechten und unsichtbaren Herrschaft leben, aus ihrer Knechtschaft erlöst.

Lust an Anachronismen

Das Skript basiert auf dem spektakulären Überfall auf den Convoy eines Saudi-Prinzen mitten in Paris 2014 durch ein halbes Dutzend Männer, von denen ein einziger - aus der Traveller-Community von Clichy-sous-Bois – seine Beteiligung gestand, ohne jedoch seine Kameraden preiszugeben. Das Narrativ aber ist älter als dieser Fall aus den Nachrichten, den der Film relativ unverändert nacherzählt; Ameur-Zaimeche erinnert sich auch einer Legende, die er als Kind gehört hat: Angeblich waren im 13. Jahrhundert Reisende ungefähr am gleichen Ort überfallen und gefesselt worden, die dann von einem Engel errettet wurden. Die beiden verschwisterten Quellen erinnern uns daran, dass Vergangenheit und Gegenwart für Ameur-Zaimeche nicht wirklich getrennte Welten sind, dass seine Filme im Lauf der Produktion stets offen für unerwartete Wendungen und die reine Präsenz der Dinge sind. Ihnen eignet eine Lust an Anachronismen, Rhythmusbrüchen und lockerem Umgang mit geographischen Gegebenheiten; so fügt dieser Film durch das Aufzeigen vorhandener Grenzen weit voneinander entfernte Orte in Paris, Bordeaux und Marseille zu einem scheinbar zusammenhängenden Schauplatz zusammen. Ungeachtet seiner Düsterkeit – der Film folgt der in seinem Vorgänger TERMINAL SUD (2019) eingeschlagenen Bahn in neue lyrische Abgründe ­ – wird die Atmosphäre regelmäßig durch Szenen aufgelockert, in denen Momente gemeinsamer, unbeschwerter Fröhlichkeit die Handlung ausbremsen, etwa, wenn man im örtlichen Café auf Pferde wettet, Vögel auf den Rasen der Siedlung füttert oder gemeinsam auf einem Parkplatz libanesisches Streetfood verzehrt.

Wenn der Klassenkampf weiterhin das strukturgebende Prinzip einer jeden Tag ein wenig mehr im Chaos versinkenden Welt ist, dann schaffen Ameur-Zaimeches Filme Nischen der Poesie und Freundschaft.

In solchen Momenten lässt der Film Drehbuch Drehbuch sein und konzentriert sich auf das, was er gerade vor der Kamera hat; er ergreift den flüchtigen, günstigen Moment, den die alten Griechen kairos nannten. Fiktion und Darstellung vermengen sich, sodass wir im selben Moment den drehbuchgemäßen Handlungsverlauf, natürlich auftretende Vorkommnisse und Schauspieler*innen beim Schauspielen zu sehen bekommen. Schon in der Vergangenheit ist Ameur-Zaimeche gelegentlich selbst in seinen Filmen aufgetreten, weniger im Stil des klassischen Regisseur-Darstellers, sondern eher in der Absicht, eine Szene von innen heraus zu inszenieren, im Extremfall wie in LES CHANTS DE MANDARIN (2011), wo er plötzlich in eine Szene hereinplatzt, um dem verwirrten Jacques Nolot eine vergessene Textzeile zuzurufen. Derartige Momente zeugen von der Fähigkeit des Regisseurs, das Skript zu öffnen, durch den Wegfall von Handlungselementen einen poetischen Freiraum aufzumachen, in dem alle lebenden Dinge das gleiche Recht beanspruchen können, die Akteure von der Bürde ihrer Determiniertheit befreit sind und es einer Community wieder möglich wird, sich selbst zu behandeln und zu heilen.

Nischen der Poesie

Musik – und ihre machtvolle Wirkung – schafft einen Raum, in dem Fiktion und die Realität dahinter verschmelzen. LE GANG DES BOIS DU TEMPLE hat zwei bedeutsame Musikmomente: Im ersten hört man Annkrist, eine heute kaum noch bekannte bretonische Songwriterin der Siebziger auf der Beerdigung der Mutter einer der Hauptfiguren herzergreifende Wahrheiten über das Wesen der Liebe singen. In der zweiten Szene legt der arabische Prinz, den man sich vorher kaum anders als einen alten, hageren Mann hat vorstellen können, seinen eleganten Bischt ab, um auf der Bühne eines Nachtclubs leidenschaftlich neben dem Raï-Musiker Sofiane Saidi zu tanzen; später schließt sich ihnen noch Ameur-Zaimeches Stammschauspieler Rodolphe Burger an. Die beiden Auftritte, der eine hingelegt von einem alternden, von den Jahren gezeichneten Körper, der andere von einem alterslosen, gestaltwandelnden Trickster, markieren die Pole des moralischen und visuellen Spektrums des Films und stellen den finsteren Räumen hinter den Kulissen, in denen die Macht das Sagen hat, Freundschaften und Wahlverwandschaften entgegen, die sich in hellem Tageslicht vollziehen.

Wenn der Klassenkampf weiterhin das strukturgebende Prinzip einer jeden Tag ein wenig mehr im Chaos versinkenden Welt ist, dann schaffen Ameur-Zaimeches Filme Nischen der Poesie und Freundschaft. Sie sind allgegenwärtig: Im Angebot des einen Diebes, seinen Anteil zur opfern, um eine Handprothese für seinen Freund zu kaufen; in der Art und Weise, wie sich die Gang um ihren stillen, einsamen Nachbarn kümmert; in der Trauer eines Mannes um seine Mutter, die in der Erinnerung aller weiterlebt durch ihr geheimes Pfannkuchenrezept, und wie die Vergeltung an dem Prinzen der Community eine Art von Freiheitsraum öffnet. Irgendwas entschlüpft hier immer den tödlichen Mechanismen der Unterdrückung. Menschliche Bindungen lassen sich nicht auf Unterdrückungsverhältnisse reduzieren, und das geschieht hier auch nicht, ganz so wie Annkrist es mit ihrer wunderbaren, bebenden Reibeisenstimme singt: „l´amour ne fait pas l´esclave mais des volontaires/ il faut avoir la peau suave et des nerfs de fer“.

Antoine Thirion ist ein französischer Filmkritiker und Programmkurator beim Dokumentarfilmfestival Cinema du Réel.

Übersetzung: Clara Drechsler, Harald Hellmann       

 
Zurück zum film

Gefördert durch:

  • Logo des BKM (Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)
  • Logo des Programms NeuStart Kultur