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In einem Winkel der Wartungsgrube kauert ein großes graues Nagetier, es faucht aggressiv, der Automechaniker, der am Morgen als Erster in die Werkstatt kommt und den alle „le géant“, den Riesen, nennen (Sylvain Roume), erschrickt. Als sich seine Kollegen einfinden, sind auch sie wütend und ratlos: Wie soll man denn so arbeiten? Warum sorgt Mao, der Boss, nicht wenigstens dafür, dass der Arbeitsplatz sicher ist? Und was ist das für ein Tier? Für eine Ratte ist es zu groß, für einen Biber ist der Schwanz nicht platt genug. Sobald Mao (Rabah Ameur-Zaïmeche) auftaucht, beruhigt sich die Lage; er erklärt, dass es sich um eine Biberratte handelt, ein Neozoon, vor 100 Jahren aus Amerika eingeführt, heute vor allem in Pelzfarmen zu finden. Wie die Arbeiter das Tier aus der Grube holen, ohne verletzt zu werden, sieht man nicht; nach einem Schnitt sitzt „le géant“ in einem kleinen Motorboot, vor sich die Biberratte in einem Gitterkäfig, die Kamera gleitet an üppiger Uferböschung vorbei. Es ist ein idyllischer Moment, vor allem wenn man an die Unruhe der vorangegangenen Einstellungen denkt. Als „le géant“ die Klappe des Gitterkäfigs öffnet, zögert das Tier einen Augenblick, bevor es mit einem lauten Geräusch ans Ufer springt. Wie es dort landet, sieht man nicht, stattdessen schaut die Kamera auf einen Reiher, der aus einer Baumkrone auffliegt, vermutlich hat ihn das Geräusch er­schreckt. Die Kamera kehrt zurück zum Boot und zu dem Mann, erst danach schaut sie sich das Nagetier im Wasser an.

Die Szenen stammen aus DERNIER MAQUIS, einem Film von Rabah Ameur-Zaïmeche aus dem Jahr 2008, und in ihnen steckt einiges von dem, was die Filmografie des Regisseurs, Autors, Produzenten und Schauspielers ausmacht. Die Biberratte ist bei Weitem nicht das einzige Tier, das einem in Ameur-Zaïmeches Filmen begegnet; darin gibt es unter anderem eine Bulldogge, eine Ameise, Esel und viele Pferde, einen Ochsen, ein Maultier, und all diese Tiere haben ein Eigenleben, eine Daseinsberechtigung, die sich nicht darin erschöpft, dass sie für den Fortgang des jeweiligen Films funktionalisiert würden – zumal in dem Maße, wie hier ein Tier, dem die Pelzfarm vorherbestimmt ist, die Freiheit erlangt, ein Stück Utopie aufscheint. Darüber hinaus fällt auf, dass zwei Energien zusammentreffen, zum einen die Hektik und die Aggressivität der Sequenz, die in der Werkstatt gedreht wurde, zum anderen die Beschaulichkeit und die Sanftheit der Bilder, die auf dem Fluss aufgenommen wurden. Auch wie in der Montage ein Teil der Ereignisse – hier: das Einfangen der Biberratte – übersprungen wird, ist cha­rakteristisch; Ellipsen gibt es immer wieder bei Ameur-Zaïmeche, im jüngsten Film HISTOIRE DE JUDAS(2015), einer radikalen Neuinterpretation der Beziehung von Judas und Jesus, wird die Kreuzigung ins Off verbannt. Als sich die Kamera gegen Ende des Films den Kalvarienberg anschaut, sind die Kreuze schon wieder leer.

Fünf Filme hat Rabah Ameur-Zaïmeche, der 1966 in Algerien geboren wurde, im Alter von zwei Jahren mit seinen Eltern nach Frankreich zog und in einer Cité bei Paris aufwuchs, bisher gedreht. Was die Stoffe und Plots angeht, trennt die Filme recht viel; einzig die ersten beiden, WESH WESH, QU’EST-CE QUI SE PASSE? (2001) und BLED NUMBER ONE (2006), sind miteinander verwoben, da sie beide einen Protagonisten namens Kamel haben, der möglicherweise ein und dieselbe Figur ist. Im ersten Film versucht dieser Kamel in einer Cité Fuß zu fassen, nachdem er ohne Papiere aus Algerien eingereist ist; dorthin wurde er abgeschoben, nachdem er eine Gefängnisstrafe verbüßt hatte. Diese Geschichte, die Vorgeschichte, erzählt der zweite Film, wobei man sich das Erzählen bei Ameur-Zaïmeche nicht als stringente, sauber getaktete Narration vorstellen darf, eher als ein Mäandern, als Abschweifung; das Nebensächliche rückt in den Vordergrund, und das Hauptsächliche verliert sich im Ungefähren. Deshalb ist es ein wenig zu simpel, zu schreiben: Kamel kommt in einem algerischen Dorf, dem bled, an und möchte bleiben, aber er wird nicht heimisch und tritt schließlich die Rückreise nach Frankreich an, wo er ein sans-papiers sein wird. Denn das ist nur die halbe Wahrheit über BLED NUMBER ONE. So viel immerhin ist sicher: Am Ende von WESH WESH, QU’EST-CE QUI SE PASSE? hört man dasselbe Stück von Tactikollectif, „Nekwni S Warrach N Lezzayer“, wie am Anfang von BLED NUMBER ONE.

Die jüngeren drei Filme Ameur-Zaïmeches driften wieder in andere Richtungen. DERNIER MAQUIS erkundet das Unternehmen, das Mao führt, halb Werkstatt für Lkw, halb Palettenfertigungs und -vertriebsstätte, die ungelernten Arbeiter kommen aus dem subsaharischen Afrika, die Mechaniker aus Nordafrika, eine auf dem Firmengelände errichtete Moschee soll Mao als Wohltäter erscheinen lassen und den Betriebsfrieden gewährleisten. LES CHANTS DE MANDRIN (2011) wagt sich auf historisches Terrain, das period piece heftet sich an die Fersen einer Schmugglerbande, die einige Jahrzehnte vor der Revolution im Süden Frankreichs unterwegs ist. HISTOIRE DE JUDAS schließlich reist noch weiter in der Zeit zurück und rehabilitiert dabei eine Figur, die zum Inbild des Verräters wurde. In dem apokryphen Evangelium, das dieser Film darstellt, trägt Judas keine Schuld an der Verhaftung von Jesus; im Gegenteil, das Ver­hältnis der beiden ist von großem Respekt, von Bewunderung und von Freundschaft geprägt.

Zusammengehalten wird diese Filmografie zum einen dadurch, dass Ameur-Zaïmeche immer wieder mit denselben Schauspieler*innen und Technikern arbeitet; Irina Lubtchansky etwa besorgt die Kameraarbeit in den drei letzten Filmen, Christian Milia-Darmezin spielt in WESH WESH, QU’EST-CE QUI SE PASSE? einen Drogenabhängigen, der der Polizei als Informant zu Diensten ist, in DERNIER MAQUIS einen Mann, der zum Islam konvertiert, und in LES CHANTS DE MANDRIN einen Händler, der sich den Schmugglern anschließt, und er ist längst nicht der einzige Darsteller, der mehrmals zum Zuge kommt. Die zentralen Rollen in allen fünf Filmen besetzt Ameur-Zaïmeche mit sich selbst, und für die ersten beiden Filme engagierte er zahlreiche Familienangehörige. Zugleich erwächst Kontinuität aus dem, was der französische Filmkritiker Jean-Michel Frodon als „une maniere inedite de mettre en scene“ beschrieben hat. Ameur-Zaïmeche hat eine ganz neue und eine ganze eigene Art entwickelt, Filme zu inszenieren. Er zieht sich nämlich nicht auf die Ruhe und die Statik zurück, die vielen dem Weltkino zugerechneten Filmen eigen sind. Stattdessen passiert eine ganze Menge, und es gibt vielfältige Bezüge zu aktuellen politischen Themen oder zu historischen Verwerfungen. In BLED NUMBER ONEetwa versuchen Islamisten, ihre Moralvorstellungen gewaltsam durchzusetzen, indem sie einen Mann, der gerne Bier trinkt, und andere, die gerne Domino spielen, überfallen; den Paletten fällt in DERNIER MAQUISeine große Rolle zu, sind sie doch eine Grundlage für die Logistik der Globalisierung, unverzichtbar für den weltumspannenden Transport von Waren. Zugleich bilden sie mit ihrer leuchtend roten Farbe und ihren Staffelungen ein wesentliches Strukturelement für den filmischen Raum; die soziopolitische Frage nach der Funktion von Paletten greift in die Filmgestaltung ein. Hinzu kommt, dass DERNIER MAQUISerkundet, inwieweit Religion soziale Spannungen und Arbeitskonflikte hintanhalten kann; als einem Teil der Belegschaft dämmert, dass eine Moschee faire Arbeitsbedingungen nicht ersetzt, kommt es zu einem wilden Streik. Vergleichbares lässt sich über die übrigen Filme sagen. Aber etwas sorgt jeweils dafür, dass die Kombination aus Geschehen, Figuren und Themen nicht vollständig entzifferbar wird; kein Film von Ameur-Zaïmeche nimmt für sich in Anspruch, eine soziale Schieflage darzustellen oder gesellschaftliche Probleme zu repräsentieren. Versatzstücke des Sozialdramas und des Themenfilms mögen zwar vorkommen, aber sie erhalten nie zu viel Aufmerksamkeit; sie werden von den Ellipsen ausgehöhlt und flottieren neben anderen, mindestens gleichberechtigten Elementen. Diese sind zum Beispiel die Textur und die Farbigkeit von groben Lei­nenstoffen oder das Interesse, das den dichten Haaren in den Ohren eines Eselfohlens zuteilwird, Reiter im Galopp, im Gegenlicht aufgenommen, sodass sie wie ein Schattenspiel wirken, Travellings durch die nächtliche Cité, begleitet von Curtis Mayfields „Ghetto Child“, oder die Wellen des Mittelmeers, die drei Badende umspielen, und weil diese Badenden von Kopf bis Fuß angezogen sind, werden die Stoffe ihrer Kleidung nass und dunkel und kleben an den Körpern, die sie normalerweise zeltartig umgeben. Und immer wieder gibt es ein Au­genzwinkern, im Wortsinne, wenn der Darsteller Ameur-Zaïmeche sein Mimikrepertoire zur Geltung bringt, im übertragenen Sinne zum Beispiel dann, wenn die Römer in HISTOIRE DE JUDASin Kulissen agieren, denen man ihr gewaltiges Alter ansieht. Statt Tempelanlagen und Wohnhäuser so zu rekonstruieren, wie sie vor 2000 Jahren ausgesehen haben könnten, filmt der Regisseur die Figuren in den archäologischen Stätten der Gegenwart, inmitten von umgestürzten Säulen und brüchigem Gemäuer; den Anachronismus nimmt er freudig in Kauf.


Obwohl es in allen Filmen zu harschen Konfrontationen und Konflikten kommt, ist die Grundstimmung von Sanftheit und Freundlichkeit gekennzeichnet. Manchmal prallen diese gegenläufigen Energien aufeinander wie in der eingangs beschriebenen Szenenfolge aus DERNIER MAQUIS oder wenn Ameur-Zaïmeche in WESH WESH, QU’EST-CE QUI SE PASSE? Platz für einen Angelausflug schafft. Der Vorstadtalltag, von übergriffigen Polizisten und rivalisierenden Gangs geprägt, lichtet sich für eine Szene. Ein Wäldchen, ein See und sattes Grün konstituieren einen Raum, der als Locus amoenus in die Banlieue hineinragt. Ameur-Zaïmeche umarmt Sanftheit und Friedlichkeit, ohne deshalb naiv und blind zu sein. Er hat eine genaue Vorstellung von Konflikten, von Schieflagen, von Verwerfungen. Aber er lässt sich davon nicht überwältigen. Am wenigsten in HISTOIRE DE JUDAS, einem Film, der mit großer Unbekümmertheit die Fundamentalismen und Refundamentalisierungen der Gegenwart hinter sich lässt. Wer heute im algerischen Hinterland mit Laiendarsteller*innen einen Bibelfilm dreht, der eine zentrale Stelle der christlichen Überlieferung aufgreift und gegen den Strich liest, der versteht etwas von sanfter Subversion.

„Pour la joie, pour la beaute de nos reves!“, ruft der Anführer der Schmuggler in LES CHANTS DE MANDRIN, bevor er gegen die Soldaten in den Kampf zieht. „Für die Freude, für die Schönheit unserer Träume!“ Während man Rabah Ameur-Zaïmeches Filme sieht, ist man bereit zu glauben, dass Schönheit das Versprechen der Emanzipation und damit ein Stück Utopie birgt.

Cristina Nord leitet das Berlinale Forum

Erstmals veröffentlicht in “kolik film“, April 2015

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