Im April 2020 war es soweit: Ich wollte Havanna verlassen. In den Jahren zuvor hatten fast alle meine Freunde langsam aber stetig das Land verlassen. Ich hatte schon sehr früh weit entfernt von meiner Familie gelebt, meine Verwandten waren über verschiedene Städte in Kuba und im Ausland verteilt. Und doch brauchte es die globale Schockstarre der Coronapandemie und die plötzliche Unterbrechung meines nomadischen Lebensstils, um eine erschreckende Entdeckung zu machen: dass es den Ort, an den ich zurückkehren konnte, nicht gibt. Das Haus, in dem ich seit meiner Jugend gelebt hatte, die Stadt, die mich geprägt hat – all das war nichts wert ohne die bekannten Gesichter und die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu sichern. Havanna erschien mir plötzlich feindlich, unverständlich, unbewohnbar. Angesichts der Unmöglichkeit einer Zukunft an diesem Ort zwang mich alles zur Flucht.
Doch bevor ich mich auf den Marsch ins Unbekannte aufmachen konnte, ergriff mich eine gewisse Verwirrung, eine Art Schwindel. Was bedeutet das eigentlich, wenn der Körper die einzige Heimat ist, die man besitzt? Vor allem aber: Wie schafft man sich auf fremdem Boden ein Zuhause? Die Entscheidung zu gehen, traf ich inmitten einer Pandemie, die die Menschheit zur Vollbremsung zwang. Ausgerechnet während überall auf der Welt jede Form von Bewegung eingefroren zu sein schien, entschloss ich mich also zu einem derart endgültigen Schritt. Die Wartezeit verbrachte ich damit, meine Abreise bis ins kleinste Detail zu organisieren. Eingeschlossen in eine Wohnung, die ich seit Jahren kaum mehr bewohnt hatte.
Ein aufgeschobenes Ziel
Nach ein paar Wochen tauchten in den Medien erste Berichte über Migrant*innen auf, die aufgrund der Krise irgendwo gestrandet waren. Von all den Geschichten, die ich las, berühte mich ein Text ganz besonders: Er erzählte vom Widerstand der Kubaner*innen in Moskau – Menschen, die ohne Papiere, einige von ihnen krank, in einer Stadt, einem Klima und einer Kultur gestrandet waren, die man getrost als Gegenstück zur Karibik bezeichnen kann.
Diese Menschen jagten dem Versprechen eines „russischen Traums“ hinterher. Da sie in Russland kein Visum benötigen, landen jedes Jahr mehr als 25.000 Kubaner*innen als ahnungslose Tourist*innen an den Flughäfen von Moskau oder St. Petersburg. Einige machen sich auf die Reise, weil sie billige oder knappe Waren einkaufen wollen, die sie dann mit Preisaufschlag in Kuba weiterverscherbeln. Andere kommen mit der Illusion, dass es ihnen schon gelänge, den Zug nach Madrid zu nehmen, wenn sie erstmal auf dem Kontinent wären. Viele von ihnen folgen dem illusorischen Versprechen auf einen Arbeitsvertrag. Optimistisch klammern sie sich an die Vorstellung, ins frühere Sowjetimperium zu gehen.
Niemand aber hatte eine Ahnung davon, dass sie sich auf die Reise in ein Land gemacht hatten, in dem die kulturelle, klimatische und sprachliche Distanz – von den harten Einwanderungsgesetzen einmal ganz zu schweigen – die Intergration extrem erschweren würde. Queere Menschen sehen sich in Russland obendrein mit einer zutiefst patriarchalen Kultur und einer homophoben Gesetzgebung konfrontiert. Am Schlimmsten aber ist es zu realisieren, dass es einen komplizierten Schutzschild gibt – eine Art neuen Eisernen Vorhang –, mit dem Europa seine Grenzen beschützt.
Während der letzten zehn Jahre musste ich mich von all meinen Freund*innen verabschieden sowie von einem Teil meiner Familie. Diese über die halbe Welt zerstreute Zuneigung hat zu einem immer angespannteren und brüchigeren Verhältnis zu Beständigkeit und der Idee von Heimat geführt.
Wer kein Geld zur Rückkehr besitzt, den versetzt der Schwindel der Migration in eine lähmende Benommenheit. Konfrontiert mit dem Unverständlichen endet der Abenteurtrip in die Fremde in der Entfremdung. Verletzlich und in einer ausweglosen Situation gefangen, werden Tausende dieser Kubaner*innen in Russland meist skrupellos von einem Geflecht diverser Firmen ausgebeutet.
Simulierte Migration
Tausende von Kilometer lagen zwischen mir und diesen Menschen. Ich empfand ein tiefes Bedürfnis, nach Moskau zu reisen. Ich wollte mehr erfahren – und verstehen, wie sich diese jungen Kubaner*innen gegen die Gewalt auflehnen, die sie erfahren; wie sie es schaffen, weiter an der Suche nach einer Zukunft festzuhalten, die ihnen überall vorenthalten wird. Zu Beginn verfügte ich über nichts weiter als eine Internetverbindung – und viele, viele Stunden pandemiebedingter Gefangenschaft.
Während vieler langer Videogespräche im Verlauf des Jahres 2020 begann ich allmählich, das ehrfürchtige und introspektive Befinden zu verstehen, mit dem man sich konfrontiert sieht, wenn man sich auf neues Territorium wagt. Und ich lachte. Die absurde Natur vieler dieser Geschichten verlieh ihnen einen tragikomischen Beigeschmack. Der Clash kubanischer Identität mit der slawischen Welt führte zu so manchen denkwürdigen Szenen, angesichts derer ich nie so ganz wusste, ob ich nun weinen oder lachen sollte.
Diese Gespräche waren für mich eine Art Migrationssimulation. Doch kurz, bevor ich mich selbst auf die Reise machen wollte, bekam ich eine Stelle an der Filmhochschule angeboten, an der ich studiert hatte. Ich legte meine Pläne, das Land zu verlassen, also vorerst auf Eis.
Wir mieteten eine kleine Wohnung an, die zu unserem Rückzugsort wurde, ein Simulakrum des begehrten, aber unerreichbaren Zuhauses.
Die sich drastisch verschlechternde wirtschaftliche Lage in Kuba und die massiven repressiven Maßnahmen, die die Regierung nach den landesweiten Protesten vom Juli 2021 ergriff, resultierten in einem massiven Exodus. Vor allem junge Kubaner*innen verließen das Land. Mir ist die massive Frustration meiner Generation, die unaufhaltsam aus dem Land strömt, selbst bekannt. Während der letzten zehn Jahre musste ich mich von all meinen Freund*innen verabschieden sowie von einem Teil meiner Familie. Diese über die halbe Welt zerstreute Zuneigung hat zu einem immer angespannteren und brüchigeren Verhältnis zu Beständigkeit und der Idee von Heimat geführt.
Jeder einfache Handlung – ein Abenteuer
Nachdem mehrere Flüge aufgrund der COVID-19-Gesundheitsmaßnahmen annulliert wurden, gelang es mir im Dezember 2021 endlich, nach Moskau zu fliegen. Zwei Monate Recherche in einer gigantischen und überwältigenden Stadt lagen vor mir. Gegen Ende dieser Zeit sollten die Kamerafrau Maria Grazia Goya und der Produzent Daniel Sánchez López für 15 Drehtage nachkommen.
Ich traf in Moskau viele Menschen wieder, die ich bereits aus Kuba kannte. Daneben entwickelten sich Grindr, Facebook, Telegram und Instagram zu virtuellen öffentlichen Orten, an denen ich weitere Menschen aus Kuba fand. Einige von ihnen luden mich schließlich nach Hause ein oder gingen mit mir aus, in einer Stadt, in der einfache Dinge, wie der Besuch eines Schwulenclubs oder Hamburgeressen bei Burger King – nur ein paar Meter neben dem Lenin-Mausoleum –, zu faszinierenden Abenteuern wurden.
Beim Filmen selbst hatten wir bald mit denselben Hindernissen zu kämpfen, wie die Menschen, deren Leben ich porträtieren wollte: Da war die Panik, auf der Straße von der Polizei angehalten zu werden, oder die Angst vor dem Coronavirus, da war die Unmöglichkeit, die Kamera zu den Menschem mit nach Hause zu nehmen – in illegal vermietete Wohungen mit dubiosen Vermieter*innen oder in Wohnungen, in denen sich zehn Menschen ein Zimmer teilten. Diese Hindernisse und unsere gemeinsamen Erfahrungen fanden schließlich eine Entsprechung in der kinematografischen Form des Films: Wir mieteten eine kleine Wohnung an, die zu unserem Rückzugsort wurde, ein Simulakrum des begehrten, aber unerreichbaren Zuhauses. Es war ein gemeinsam geteilter Raum, in dem die Zeit, die wir wartend darin verbrachten, die Zukunft zu einem Akt der Nostalgie und die Gegenwart zu einer Geste des Widerstands werden ließ.
Eldis, Dariel, Daryl und Juan Carlos, die Protagonisten des Films, wurden bald zu Komplizen unserer heimlichen Dreharbeiten. Ihre Gesten und Unterhaltungen lieferten die gelebten und beobachteten Erfahrungen zu den Monaten der Recherche in Moskau. Die Zeit, die wir warteten, und die transitorische, fragile Natur des Raums, in dem wir uns befanden, verwandelten die minimalen Gesten dieser Vier und ihre umherschweifenden Unterhaltungen in ein Epos minimaler Bewegungen. Draußen verliehen nicht nur Wind und Schnee der Landschaft ein feindseliges Anlitz; auch die Meldungen einer möglichen russischen Invasion der Ukraine hingen schwer wie eine Decke aus angespannter Ruhe über Moskau.
Für diejenigen unter uns, die die Peripherien bewohnen, ist die Suche nach einem Zuhause, ist die Suche nach der Zeit ein endloser Kampf.
Die zweiwöchigen Dreharbeiten in unserer Wohnung, die sich sich zwischen den gigantischen, mit unzähligen Familien gefüllten Wohnblöcken in den Vorstädten befand, gaben dem Film letztlich seine Form. Stets gingen wir davon aus, dass der aktuelle Tag der letzte der Dreharbeiten sein würde. Kurz nachdem wir dann tatsächlich fertig waren, verkündete Putin die Invasion der Ukraine. An den Flughäfen wurden die ersten Flüge annuliert. Wir reisten zurück nach Havanna, Barcelona, Berlin.
Vernebelte, unerreichbare Gegenden
Die Auseinandersetzung mit den Bildern, die ich aus Moskau mitgebracht hatte, lieferte mir letztlich einige Antworten auf die Fragen, die ich mir anderthalb Jahre zuvor begonnen hatte zu stellen. Nach wie vor telefonierte ich mit Eldis, Dariel, Daryl und Juan Carlos, sie berichteten mir vom Alltag nach unserer Abreise und dem Beginn der Invasion. Für sie blieb die Zukunft eine vernebelte, unerreichbare Gegend: Es war dieses Gefühl, dass ich so gut verstanden hatte, damals während der Monate, die ich Anfang 2020 eingesperrt in Havanna verbrachte; ein Gefühl, dass ich wiedergefunden hatte in den Leben so vieler Menschen in Moskau; und ein Gefühl, das Millionen überall auf der Welt teilen.
Ich habe damals begriffen, dass jeder Ort, den man zu seinem Zuhause machen möchte, eine Idee der Zukunft in sich tragen muss. Kann man sich diese Zukunft nicht vorstellen, so gibt es auch kein Zuhause.
Um die Zukunft zu erreichen, brauchen wir Erinnerungen; und es braucht eine Gegenwart, in der Zuneigung, Liebe und die Verschworenheit unter Freund*innen zu Hause sind.
Jedes Zuhause wird aus Zeit gemacht.
Zeit, dieses grundlegende Material des Kinos.
Für diejenigen unter uns, die die Peripherien bewohnen, ist die Suche nach einem Zuhause, ist die Suche nach der Zeit ein endloser Kampf.
Luis Alejandro Yero
Übersetzung: Dominikus Müller