Unsere Körper erweitern sich auf Petrischalen, verwendet von medizinischem Personal, das darin geschult ist, unsere Fortpflanzungsfähigkeit zu verbessern. Unsere Körper erweitern sich auf Spritzen, mit denen man uns untersucht, Krankheiten feststellt und Diagnosen bestätigt oder verwirft. Unsere Körper werden manipuliert, werden abgetastet. Unsere Organe werden mit Hilfe technologisch hochentwickelter bildgebender Verfahren sichtbar gemacht. Unsere Körper werden routinemäßig gelesen und uns offenbart („das ist, was Sie haben“), in sorgfältig geskripteten Dialogen, wobei Ärzt*innen und Patient*innen die ihnen zugewiesenen Rollen spielen – die einen besorgt auf jene Informationen wartend, die die anderen mit Autorität verkünden.
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Eine weibliche Patient*in sein heißt, in eine brutale Geschichte des Ausgeliefertseins geworfen zu werden: erzwungene und nicht einvernehmlich vorgenommene Eingriffe, Abtreibungen, Hysterektomien, Operationen ohne Betäubung, übersehene Symptome. Die Liste ist lang. Zwischen dem weiblichen Körper und der westlichen Medizin gibt es ein tiefsitzendes historisches Misstrauen, in unsere Psychen eingeschriebene Traumata, die bis zum heutigen Tag wirken. Unsere Körper werden einerseits vollkommen entblößt, andererseits bleiben sie radikal unsichtbar.
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Claire Simons Dokumentarfilm NOTRE CORPS (Our Body) begleitet Frauen, Transmänner und nicht-binäre Personen jeden Alters und aus sämtlichen sozialen Schichten bei ihren Behandlungen im Pariser Krankenhaus Hôpital Tenon, in dessen Abteilung für Gynäkologie und in anderen, den weiblichen Körper betreffende medizinische Bereiche. Patient*innen werden dabei gefilmt, wie sie eine Abtreibung vornehmen lassen, eine künstliche Befruchtung erhalten, eine Krebstherapie durchmachen, sich einer Operation unterziehen oder ein Kind zur Welt bringen. Jede dieser Behandlungen wird kostenlos durchgeführt, unabhängig vom persönlichen Einkommen oder Aufenthaltsstatus der Betroffenen. Wiederholt werden Frauen von Frauen behandelt, und diese Gemeinsamkeit mildert das Machtgefälle in der gewöhnlichen Arzt-Patientinnen-Beziehung etwas ab. Ich schaue NOTRE CORPS von der Couch meiner Wohnung in Brooklyn, wo ich mich von einer kürzlich durchgeführten Blinddarmoperation erhole. Im Vergleich zur Dystopie des privatisierten amerikanischen Gesundheitswesens schimmert in der Behandlung dieser Patient*innen eine utopische Hoffnung durch. Kann es im Kapitalismus überhaupt noch besser werden? Gibt es eine traurigere Frage?
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Gesundheit und Krankheit werden in spezifischen Architekturen erfahren: spärlich beleuchtete Korridore, ein standardisierter Wartebereich, ein aseptisches Untersuchungszimmer. Bevor sie das Krankenhausgelände betritt, hält Claire Simon inne. Sie zögert. Sie hofft, dass sie sich keinen „Krebs einfängt“ („m'y chopper un cancer“), so wie man sich eine Erkältung einfängt. Niemand will wirklich ein Krankenhaus betreten. Die Gesunden grenzen sich von den Kranken lieber ab, halten die Räume lieber getrennt, um Ansteckungen zu vermeiden. Die Architektur einer medizinischen Einrichtung zu betreten, bedeutet, eine neue Sprache zu erlernen, eine Reihe von Praktiken, die für den Zweck ersonnen wurden, diese Unterteilungen, diese Binaritäten – Patient*in/Ärzt*in, Krankheit/Gesundheit usw. – zu bewahren. Medizinische Einrichtungen markieren unsere Körper diskursiv und architektonisch. Sie choreografieren unsere Bewegungen und die Art und Weise unserer Ansprache, sie umreißen ein Vokabular und weisen denjenigen, die ihre Räume betreten, bestimmte Rollen und Narrative zu.
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Seit ich Mitte dreißig bin, lebe ich mit chronischen Schmerzen, bis heute vage als Lyme-Krankheit bzw. Borreliose diagnostiziert. Meine Eltern waren beide über lange Zeit krank, bevor sie starben. Ich bin eine ängstliche Patientin. Ich hasse es, mich untersuchen zu lassen, tue dies aber sofort, wenn ich meine, sicher gehen zu müssen. In meiner Familie gehörte Krankheit zur Sprache der Fürsorglichkeit, ein Weg, um Aufmerksamkeit zu bekommen und gesehen zu werden. Mein Vater war ein notorischer Hypochonder. Er vereinbarte jede Woche einen Arzttermin, egal bei welchem Arzt. Er war bis zum Schluss ein würdevoller Patient, freundlich und zugewandt gegenüber denjenigen, die sich um ihn kümmerten, und noch in seinen letzten Tagen las er Zeitung, um sich über die Welt, die er verließ, auf dem Laufenden zu halten. Von meiner Mutter, der die westliche Medizin mehrmals das Leben gerettet hat, lernte ich, dass es harte Arbeit ist, einen Körper zu haben, und dass Heilung nicht getrennt betrachtet werden kann von einer inneren Reise, auf der stets abgeschätzt wird, was es bedeutet, lebendig zu sein. Wie Claire Simon, deren Vater 28 Jahre in einem Krankenzimmer verbracht hat, bin auch ich mit der medizinischen Welt vertraut, mit ihren Konventionen, mit ihren allgemeinen Praktiken, mit der Mischung aus Angst und Ehrfurcht, die man gegenüber den Fachärzt*innen empfindet, mit den Mythologien, die unsere Pathologien umgeben. Diese Welt ist zwar faktisch, sie existiert aber vor allem durch kulturell bestimmte Narrative.
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Vor dem Krankenhaus protestieren Frauen gegen das dem Arztberuf inhärente Patriarchat. Sie beziehen sich auf das Wissensgefälle zwischen Arzt und Patientin und auf die falschen Behandlungen und Verstöße, die von dieser Ungleichheit verursacht werden. Sie fordern andere Bedingungen für die medizinische Versorgung und ein Ende der etablierten Krankenhauskultur, in der Ärzte Untersuchungen an Frauen durchführen oder ihren Körper berühren, ohne zuvor Einvernehmlichkeit hergestellt zu haben. Eine Krankenschwester schließt sich den Protestierenden an, um eine Kultur der Straflosigkeit und des andauernden Missbrauchs anzuprangern, eine Kultur, die in der historischen Vormachtstellung des weißen, männlichen Arztes begründet liegt.
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Unsere Körper sind weder gegen Petrischalen, noch gegen Operationen durch Roboter oder künstliche Befruchtung. Unsere Körper sind nicht gegen Wissenschaft. Unsere Körper sind gegen patriarchale Anwendungen wissenschaftlicher Technologien.
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Claire Simon sitzt in einem Wartezimmer, dann bittet ein Arzt sie zu sich und teilt ihr mit, dass sie Brustkrebs habe. Obwohl das ein Schock ist, erklärt Simon: ohne zuvor im Krankenhaus und mit den anderen Patient*innen gedreht zu haben, würde sie diese Nachricht ganz anders aufgenommen haben. Ihr fällt das sonderbare Zusammenspiel zwischen der Produktion ihres Films und ihrer Diagnose auf. Dieses Zusammenspiel geht mit einem Rollentausch einher. Jetzt wird Simon gefilmt; sie führt nicht mehr länger die Kamera. Sie wird zum Sujet, so wie ein Arzt selbst auch krank werden kann.
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Die Anfrage, einen Text über Claire Simons Arbeit zu schreiben, hat mich zum Nachdenken gebracht. Ich hatte früher über Krankheit geschrieben und über den Einfluss, den sie auf meine psychische Struktur ausübt. Dieser Einfluss hat mich daran gehindert, Krankheit zu entmystifizieren oder sie mit meinen Ängsten in Verbindung zu bringen. Diese Ängste werden von einem größeren System erzeugt, das Gesundheit und Krankheit strikt voneinander trennt. Die Kamera erlaubt es Claire Simon, ihre eigenen Ängste zu entmystifizieren, indem sie sie mit anderen Patient*innen in Verbindung bringt und sich selbst als Teil eines großen gemeinsamen Körpers versteht. Das Schreiben über Claire Simon ermöglicht es mir, die ethischen Implikationen der Beziehung zwischen Künstlerin und Werk, zwischen Schriftstellerin und Sujet zu bedenken sowie die Dürftigkeit von Konventionen, die all das auseinanderdividieren.
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Einer Patientin mit schwerer Endometriose wird zur Empfängnisverhütung geraten, aber sie weigert sich. Nach jahrelanger Schmerztherapie kennt sie ihren Körper. Sie sagt, sie habe lieber Schmerzen, als keine Lust mehr zu verspüren. Eine Patientin mit weiblichem Körper zu sein, bedeutet, auf einem schmalen Grat zwischen Hinnahme und Autonomie zu wandeln. Wir überantworten unser körperliches Selbst dem medizinischen Apparat – und seiner langen Geschichte der Verdinglichungen, Manipulationen und Extraktionen – und wollen gleichzeitig unsere Handlungsfähigkeit bewahren. („Je préfère avoir mal que de ne pas avoir envie“).
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Wenn unsere Körper krank werden, bekommen sie eine Behandlung. In der Materialität dieser Therapien handeln wir konkrete Formen von Fürsorge, Heilung, Autonomie und Abhängigkeit aus. Die Frauen, die in Claire Simons Dokumentarfilm vor dem Krankenhaus protestieren, erinnern uns daran, dass uns mehr zusteht. Neben den zerstörerischen Auswirkungen auf Körper und Umwelt besteht die tödlichste Waffe des Kapitalismus in der Verarmung unserer Vorstellungskraft, die so sehr erschöpft ist, dass als einzig erstrebenswertes Ziel nur noch eine nicht-entmenschlichende Pflege ausgegeben wird. In NOTRE CORPS dokumentiert Claire Simon Geschichten, die unseren Begriff von Fürsorge – einer Pflege, die wir erwarten oder die wir uns zu ersehnen wagen – erweitern können. Simon bringt die üblichen Abläufe durcheinander, indem sie die uns zugewiesenen Rollen in Frage stellt, auch jene, die wir nur vorübergehend einnehmen. Als sie selbst erkrankt, ist sie nicht länger distanzierte Beobachterin der Krankheit. In einer späten Szene hält eine Ärztin ihrer sterbenden Patientin mit einer Mischung aus tiefer Sorge und Bewunderung für das Leben, das sie geführt hat, die Hand. Während wir Claire Simons Dokumentarfilm sehen, wird uns als Zuschauer*innen bewusst, wie die Körper auf der Leinwand in unseren eigenen Körpern anwesend sind. Und uns wird auch bewusst, dass wir nur dann eine vollständige Neuausrichtung von Gesundheit und ihrer Beziehung zu Krankheit fordern können, wenn wir unsere gemeinsamen Verfassungen anerkennen.
Mirene Arsanios lebt als Schriftstellerin und Dozentin in Brooklyn. Zu ihren Veröffentlichungen gehören „The Autobiography of a Language“ (Futurepoem, 2022) und „Notes on Mother Tongues“ (UDP, 2019).
Übersetzung: Stefan Pethke