O ESTRANHO (The Intrusion) ist uns zweites gemeinsames Regie-Projekt. Es hat uns die Gelegenheit geboten, unsere gemeinsamen kinematografischen Forschungsinteressen zu vertiefen: Wie offenbaren sich die verschiedenen Schichten der Geschichte, die ein Territorium konstituieren, durch die Subjektivitäten der Menschen, die auf ihm leben? Wie können alltägliche menschliche Gesten diese kollektive, territoriale Subjektivität ebenfalls offenbaren? In diesem Sinn ist die Recherche selbst etwas wie ein Akt der historischen, materiellen und immateriellen, Ausgrabung.
Der Guarulhos International Airport bei São Paolo ist ein Symbol des Fortschritts und ein Denkmal der globalisierten Welt. Er ist aber auch das Zeugnis des gewaltsamen Prozesses der Invasion und Kolonisierung seines Territoriums. Die indigene Bevölkerung der Garulhos verschwand ein paar Jahre vor der ersten Besiedlung der Gegend durch die Jesuiten. Die Ausbeutung begann bald, mit den ersten Bergbauaktivitäten der Kolonist*innen, die die Tupi als Sklavenarbeiter*innen mitbrachten. Auch versklavte Afrikaner*innen mussten bei der Errichtung des Dorfs und auf den Farmen arbeiten. Das galt ebenso für viele der Migrant*innen aus dem Nordosten, die vor der Armut geflohen waren und in den Industrialisierungswellen der fünfziger bis siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts ihr Glück versuchten. Der Flughafen wurde 1985 erbaut, und wie die Abfolge der Zivilisationen, die diesen Kontinent geprägt haben, ist sein Gebiet eine Ansammlung von unsichtbaren (und sichtbaren) Ruinen.
So lernten wir, diese Landschaft nicht als Ort einer schlichten Beobachtung zu begreifen, sondern als einen Raum mit den unterschiedlichsten Bedeutungsschichten, durchzogen von Konfrontationen zwischen sozialen Kräften und verschiedenen Zeitlichkeiten.
Anders als die meisten Filme über Flughäfen interessiert sich O ESTRANHO nicht für die Reisenden, sondern folgt den Wegen der Menschen, die auf dem Territorium leben und arbeiten und die die Einrichtungen erst zum Leben erwecken. Sie führen unseren Blick durch die inneren Korridore, die Zonen, zu denen der Zugang beschränkt ist, die angrenzenden Straßen und bringen so Existenzen zum Vorschein, die sonst unsichtbar bleiben und auch bleiben sollen. Wir haben bewusst mit einer kleinen Crew gedreht, so dass sich das narrative Material aus direkteren Begegnungen entwickeln konnte, frei von massiven Eingriffen, unter dem laufenden Betrieb der tatsächlichen Orte (etwa Start- und Landebahnen und die Abflug-Lounges des Flughafens), mit einer Mischung aus fiktiven und realen Figuren.
Die Recherche, Vorbereitung und der Dreh waren Prozesse genuiner Immersion in das Territorium von Guarulhos, bei dem sich uns seine Wirklichkeit als etwas essentiell Heterogenes und Vielfältiges zeigte. Je stärker wir unseren Blick (und die Kamera) auf die täglichen Routinen der Flughafen-Arbeiter*innen und die Räume, die sie durchqueren, gerichtet haben, umso reicher und überraschender erwies sich diese Realität. Neben dem Flughafen fanden wir wie erwartet belebte Stadtviertel, aber daneben auch ländliche Gemeinschaften, verborgene archäologische Stätten und indigene Dörfer, die von ihren einstigen Bewohner*innen zurückgefordert werden. So lernten wir, diese Landschaft nicht als Ort einer schlichten Beobachtung zu begreifen, sondern als einen Raum mit den unterschiedlichsten Bedeutungsschichten, durchzogen von Konfrontationen zwischen sozialen Kräften und verschiedenen Zeitlichkeiten. Wie das innere Universum einer Person pulsiert die Landschaft in einem Prozess der ständigen Konstruktion.
Unsere Herangehensweise brachte ihren eigenen Prozess des Austauschs mit dem Territorium mit sich; wir fügten – durch das Schreiben des Drehbuchs, die Mise en Scène und den Schnitt – fiktionale Ausarbeitungen hinzu, die uns erlaubten, über die vielfältigen historischen Schichten, Akteur*innen und Landschaften, die wir vorfanden, zu reflektieren. Zugleich haben wir diese Konstruktion mit realen und konkreten Elementen (Menschen, Geschichten, Bildern) gefüllt, die wir im Lauf des immersiven Prozesses gesammelt haben. Durch die von Spannungen durchzogene Konvergenz dieser Pluralitäten gelangten wir zu einem umfassenden Blick auf die Wirklichkeit, die unsere Figuren umgibt.
Flora Dias, Juruna Mallon
Übersetzung: Ekkehard Knörer