Die koloniale Moderne – im Unterschied zur Moderne an sich – entstand in einem Prozess von Invasion, Unterdrückung und Raub, ein Prozess der durch vielfältige Formen der Brutalität gegen die Bevölkerungen des globalen Südens gekennzeichnet war. Auf dem afrikanischen Kontinent basierte die zugrundeliegende Dynamik im Besonderen auf dem antischwarzen Rassismus und der Auslöschung Schwarzer Körper, eine Politik, die bis heute weiterverfolgt wird. Boubacar Sangarés Dokumentarfilm OR DE VIE (A Golden Life) konzentriert sich auf einen Missbrauch, der in Diskussionen über diese fortgesetzte Ausbeutung eher selten angesprochen wird: auf den Diebstahl und die Verkürzung der Kindheit Schwarzer in Afrika. Ort der Handlung ist die Goldgrube Kalgouli in Burkina Faso. Der Film begleitet den sechzehnjährigen Rasmané bei dem mühevollen Versuch, durch Kleinbergbau seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Das endlose Dröhnen der Mühsal und Plackerei erfüllt das Innere seiner Protagonisten während ihrer Schufterei ebenso wie in ihren Ruhepausen und dehnt sich aus zu dem klug komponierten Klangraum des Films.
Die Präsenz des Kolonialismus ist nur ein Schemen in dem Film, wir begegnen ihm nie direkt in seinen klassischen Formen – keine weißen Männer, kein Militär, keine Missionare. Der Kolonialismus bleibt unsichtbar und ist dennoch spürbar – wahrnehmbar in der Art, wie die minderjährigen Bergleute sich unterhalten, aber auch in der Geräuschkulisse, die Stille ausschließt und damit auch die Möglichkeit, Ruhe zu finden.
In OR DE VIE spricht man vom weißen Mann als legendärer, übergroßer Gestalt, die sich wesentlich tiefer und effektiver ins Erdreich eingraben kann, als es alle Bergleute Burkina Fasos gemeinsam vermöchten. Seine Bohrmaschinen ragen unheilvoll in der Landschaft auf und drohen, das ganze Land zu überfluten, um alles Gold nur für ihn aus dem Boden zu holen. Er ist gegenwärtig in den ökonomischen Zukunftshoffnungen und -ängsten, was die Risiken heraushebt, die eingegangen werden, um erstere zu erreichen. Er ist gegenwärtig im Lärm der dieselbetriebenen Maschinen und dem monotonen Rhythmus der primitiven Spitzhacken, die sich in den Schoß der Erde graben. Diese Störgeräusche beherrschen die Stille des Films und verhindern selbst in den langen Phasen, in denen niemand spricht, jedes Zur-Ruhe-Kommen. Das endlose Dröhnen der Mühsal und Plackerei erfüllt das Innere seiner Protagonisten während ihrer Schufterei ebenso wie in ihren Ruhepausen und dehnt sich aus zu dem klug komponierten Klangraum des Films.
Diese Allgegenwart des Lärms fungiert als Metapher für das Nachleben des Kolonialismus. Sechs Jahrzehnte nachdem Burkina Faso die Unabhängigkeit von Frankreich erlangt hat, dauert das Erbe und die Gewalt der kolonialen Bevormundung weiterhin an. Nirgendwo anders ist das deutlicher spürbar als in der starren Fixierung auf den Franc, die Landeswährung, die immer noch in Frankreich gedruckt wird. Der CFA-Franc, der immer noch in den meisten frankophonen westafrikanischen Staaten kursiert, bleibt eine der begehrtesten Währungen auf dem Kontinent und kettet die Gemeinwesen und Führer von Staaten wie Burkina Faso fortwährend an ihre früheren Unterdrücker. Die Francs, die durch die Träume der Männer und Jungen in diesem Film mit ihrem Wohlstandversprechen spuken, sind zugleich die Grundlage von Invasion, Ausschlachtung, racial capitalism und Umweltzerstörung.
Die kleingewerblichen Goldgräber haben keine Vorstellung von den Wegen, die dieses Gold, das sie der Erde abgerungen haben, nehmen wird. Die goldenen Ringe oder Armbänder können sie sich nur in der Fantasie ausmalen.
Die Verflechtung der Ökonomie des racial capitalism (ein „ethnisierender“ Kapitalismus, A.d.Ü.) mit Kolonialismus und Sklaverei beschreibt eine Dynamik, in der sowohl (Mutter) Afrika wie ihre Umwelt ausgeschlachtet und ausgebeutet werden. Beide Körper – der des Mutterlands und ganz besonders der des afrikanischen Kindes – stehen für die Zukunft Afrikas, die an Afrikas koloniale Vergangenheit gebunden ist. Afrikanischen Kindern wird der Luxus einer Kindheit verwehrt; ihr Pfad ist vorgezeichnet von den Anforderungen eines Wirtschaftssystems, das schon früher die Lebensläufe ihrer Familien bestimmt hat.
Der Film stürzt die Zuschauer*innen in ihren eigenen Teufelskreis, in dem sie sich als Handlanger der Brutalität von racial capitalism und Kolonialstatus erleben. Warum sind diese Kinder nicht in der Schule, wundert man sich, ehe man merkt, dass man Gefahr läuft, den Opfern die Schuld an ihren Verhältnissen zu geben. Gerade die Diktate der kolonialen Moderne und des racial capitalism lehren uns ja, willfährige Untertanen zu sein: zur Schule zu gehen und brave Bürger zu werden, um sich dann in einen Arbeitsmarkt eingliedern zu lassen, der Wasser auf die Mühlen des westlich definierten Fortschritts – und damit unserer eigenen Unterdrückung – ist. Man konditioniert uns darauf, es gebe nur einen erstrebenswerten Weg zum Erfolg, Bildung beziehungsweise Ausbildung und einen Job. Doch diese Aufstiegsmöglichkeiten haben ihren Preis, den die meisten Familien nicht aufbringen können, wodurch sich die Lage immer mehr zuspitzt: eingeschränkte Möglichkeiten, radikal verkürzte Lebensdauer, zerstörte Kindheiten. Oder die Wahl für die, die keine Wahl haben: Flucht. Es kommt daher nicht überraschend, dass Jugendliche aus Westafrika – bei ihren trüben Aussichten auf eine Zukunft im Schatten des CFA – den Großteil der Menschen ausmachen, die sich auf den mörderischen Weg durch die Sahara ans Mittelmeer machen, um die Küsten Europas zu erreichen.
Diese Machtverhältnisse müssen wir als gewollt, als Anti-Schwarz und ökologisch verheerend begreifen.
In einer kolonialen Moderne wird Schwarzen Kindern keine Kindheit zugestanden – ihre Unschuld und Vitalität sind begehrte, gewinnversprechende Ressourcen. Im Film begleiten wir Rasmané auf dem harten Weg vom Aufhacken der Erde bis zum Verkauf des erbärmlichen Goldkörnchens, das sie hergegeben hat, an einen wesentlich älteren Zwischenhändler, der nicht verhandelbare Machtverhältnisse postuliert. Was glauben wir, wohin dieses Gold unterwegs ist? In wessen Händen es enden wird? Das Gespenst einer gefräßigen Ökonomie, deren Tentakel nach Afrika hineinreichen, bildet den Rahmen, ohne den dieser Dokumentarfilm nicht zu verstehen ist. Für die kleingewerblichen Goldgräber ist dieses Machtgefüge unvorstellbar; sie haben keine Vorstellung von den Wegen, die dieses Gold, das sie der Erde abgerungen haben, nehmen wird. Die goldenen Ringe oder Armbänder können sie sich nur in der Fantasie ausmalen.
Das ist im Kongo ebenso, wo die von leicht ersetzbaren Schwarzen Körpern – reine Schachfiguren im riesigen Wirtschaftsbereich Bergbau, der von australischen, chinesischen, europäischen und amerikanischen Konzernen beherrscht wird – abgebauten Metalle und Seltenen Erden niemals den Familien oder Ländern zugutekommen, denen sie gehören. Diese Machtverhältnisse müssen wir als gewollt, als Anti-Schwarz und ökologisch verheerend begreifen. Wir müssen erkennen und mit der Wahrheit leben, dass das Wirtschaftswachstum unserer westlichen Zivilisation mit Rassismus und Hass Hand in Hand gehen und mit dem Mord an Kindern und an der Natur, der Dezimierung der Bevölkerung Afrikas und mit einem Desinteresse an der Zukunft.
Dieser Film und alles, was darin anklingt, bringt in Erinnerung, warum Afro-Pessimist*innen dieser Welt ein Ende bereiten wollen. Sangarés Beitrag ist eine hochwillkommene Ergänzung zur Gesamtheit der Werke, die die horrenden Kosten des Fortschritts offenlegen, den wir so kurzsichtig genießen.
Uhuru Portia Phalafala ist vagabundierende Künstlerin und Wissenschaftlerin im Bereich der Black Studies.
Übersetzung: Clara Drechsler, Harald Hellmann