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Artefakt einer untergegangenen Welt

POZNÁMKY Z EREMOCÉNU (Notes from Eremocene) der slovakischen Filmemacherin Viera Čákanyová ist eine melancholische Flaschenpost, ein Dialog, den nach dem Zusammenbruch der Menschheit ein menschlicher Vermittler – oder vielleicht dessen digitale Überreste – mit einem künstlichen Gesprächspartner der Zukunft führt. Der Film stellt eine spekulative Übungseinheit dar, so schwindelerregend wie die Welt, die wir derzeit bewohnen. Er mischt analoges Filmmaterial mit Bildern von Systemen maschinellen Sehens wie LiDAR und reflektiert über die Zukunftsmöglichkeiten, die unserer Gegenwart innewohnen, und über jene, die unsere Welt vielleicht rekonfigurieren werden. COVID-19, die Schwächung der globalen Demokratien, die vielfältigen Gefahren der künstlichen Intelligenz sowie die Klimakrise besitzen hier große Bedeutung, auch wenn das Konzept des Films dafür sorgt, dass diese Themen auf Distanz gehalten werden: Schließlich treffen wir hier auf ein Artefakt, das über eine nicht mehr existierende Welt reflektiert.

Wir sind untereinander und auch jeweils uns selbst entfremdet, und so beschreibt Čákanyová unsere Epoche als das Eremozän: das Zeitalter der Einsamkeit. Der Film beginnt mit dem Weißen Rauschen eines auf einen toten Kanal eingestellten Fernsehers sowie mit einer Frage nebst Erwiderung:

„Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Können Sie mir helfen, meinen Originalcharakter zu finden?“, fragt die Stimme unserer Erzählerin zurück.

In der Fankultur bezieht sich der Begriff Originalcharakter, oder OC, auf eine Figur, die von einem Fan-Fiction-Schöpfer außerhalb des jeweiligen offiziellen Medien-Franchise-Kanons entwickelt wurde. Im konkreten Fall bezeichnet er einen ähnlichen Zusammenhang: dezentralisierte, nicht-souveräne Instanzen, die durch Prozesse der Erinnerung, des Herbeisehnens und der An- bzw. Enteignung erst noch entdeckt werden müssen. Die Protagonistin des Films scannt sich also durch Schichten digitaler Artefakte, in dem Bestreben, deren OCs zu retten. Bei ihren Bemühungen assistiert ihr eine KI, die für ihn Begriffe und Gefühle zu Clustern sortiert. Biologische Organismen verfügen über „wetware“, also Nervenzentren, über Gehirne. Diese konkrete OC-wetware war anscheinend traurig, fühlte sich festgefahren: „Deprimiert? Vielleicht ist es was Politisches.“

Eine angespannte Utopie

POZNÁMKY Z EREMOCÉNU blickt über die gefühlten politischen Sackgassen unserer gemeinsamen Gegenwart hinaus und zeigt stattdessen auf materielle und spekulative Rekonfigurationen der Zukunft. Für diejenigen unter uns, die gezwungen sind, in einem angespannten Jetzt zu leben, entstehen radikale Visionen einer zukünftigen Welt durch unzählige Formen der Unterstützung für das Selbst wie für die Gemeinschaft – das können ein Spaziergang am Strand und Schwimmengehen ebenso leisten wie die Teilnahme an einer Demonstration gegen den Klimawandel. Man könnte versuchen, aus der gewöhnlichen Krise auszusteigen, indem man aus dem Internet aussteigt und sich einen Bauernhof zulegt. Oder man flüchtet in Bacchanalien wie das Burning-Man-Festival. Auch dann gäbe es sie noch immer, die großen utopischen Visionen, z. B. die horizontalisierenden Versprechungen einer Welt ohne Nationen, in der die Grundbedürfnisse aller Menschen befriedigt würden und wir die Freiheit hätten, unserer individuellen und kollektiven Vervollkommnung nachzugehen.

Natürlich gibt es auch andere Wege, sich die Zukunft vorzustellen und sie auch zu verwirklichen, wie die Techno-Utopist*innen, die von einem System global wirkenden Regierungshandelns träumen, gesteuert von KI und Blockchain. Manchmal suggeriert diese Futarchie die Möglichkeit einer Flucht vor der Rücksichtslosigkeit kapitalistischer Extraktions- und Ausbeutungsweisen. Nehmen wir Satoshi Nakamoto – das Pseudonym des Bitcoin-Erfinders, gleichzeitig eine Schlüsselfigur bei der Entwicklung der Blockchain-Technologie –, der wie frühere Technolibertäre und Cypherpunks die Macht der Großbanken und anderer Monopolisten durch den Einsatz neuer Technologien aufbrechen wollte. Im Film wird Nakamoto durch die Wortkreuzung „botomori“ – Bootstod – assoziativ mit einem Aussteigen aus dem Netz in Verbindung gebracht. In der spekulativen zukünftigen Vergangenheit des Films ist Nakamoto auf See verschwunden, anscheinend entsetzt über die Folgen seiner Erfindungen. In dieser Zukunftswelt sind KI und Blockchain dafür eingesetzt worden, eine G-DAO, eine Globale Dezentrale Autonome Organisation, zu bilden, die über die Menschheit herrscht und die Ressourcen verteilt. Bis sie es anscheinend nicht mehr tut: „Tut mir leid, Dave, aber das kann ich nicht tun.

Oftmals spiegeln Ideen darüber, wie Gegenwart und Zukunft rekonfiguriert werden könnten, einfach nur bestehende Ungleichheiten wider und drohen diese zu überhöhen, indem sie herrschende Bedingungen als quasi-unvermeidlich darstellen. Man denke nur an die Transhumanisten, die ihr Bewusstsein in die Cloud hochladen wollen, um ewig zu leben, oder an die Milliardäre aus der Weltuntergangsszene, die Pläne schmieden, wie sie sich gegen die Auswirkungen des Klimawandels wappnen könnten. Technologisch-deterministische Träume von einer zukünftigen, perfekt ausdifferenzierten allgemeinen KI werden mit der Realität unserer aktuellen algorithmischen Systeme konfrontiert, die Unterdrückungen oftmals eher reproduzieren als sie zurückzunehmen. „Wenn man an KI denkt, dann denkt man an Zukunft. Aber KI basiert auf Daten, und Daten sind ein Spiegelbild unserer Geschichte. In unseren Algorithmen verharrt also Vergangenheit.“ Čákanyovás Film legt nahe, dass ein Großteil des techno-utopischen Denkens weniger davon träumt, Freiheit für alle zu ermöglichen. Vielmehr spiegelt es unsere gegenwärtigen Realitäten wider. Im schlimmsten Fall ist techno-utopisches Denken von antidemokratischen und sogar faschistischen Vorstellungen geprägt, sowohl, was unsere Gegenwart betrifft als auch auf unsere Zukunft bezogen. Wir sollten uns daher nicht so sehr um den Aufstieg der Maschinen sorgen, sondern eher um den Aufstieg der Rechten und um unsere schmerzerfüllte Innigkeit mit Gaia.

Der Film endet damit, dass sich unsere Erzählerin mit der Depression ihres Originalcharakters verbindet. „Gut, das Spiel ist aus“, pflichtet die KI ihr bei. Wenn Depressionen doch nur in einen virtuellen Sandkasten verbannt werden könnten! Bis dahin werde ich mir ein Beispiel am fiktionalisierten Nakamoto nehmen: Ich habe kein Interesse daran, meinen Geist in die Cloud hochzuladen und endlos meine Lustzentren zu stimulieren, stattdessen klinke ich mich aus und gehe schwimmen, in einem echten Ozean, mit Freund*innen.

Shaka McGlotten ist Professor für Medienwissenschaft und Anthropologie am Purchase College-SUNY und Autor von „Virtual Intimacies: Media, Affect, and Queer Sociality“ (SUNY Press 2013) und „Dragging: or, in the Drag of a Queer Life“ (Routledge 2021).

Übersetzung: Stefan Pethke

 

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