Myriam U. Biharas THE BRIDE will zunächst wie ein fernes Feenmärchen anmuten, doch im romantischen Gespinst, das der Titel heraufbeschwört, versteckt sich ein bedrohlicher Kern. Auch die Anfangsmomente des Films sind zunächst eingebettet in ein unbeschwertes ländliches Idyll: Die jugendliche Hauptperson, Eva (Sandra Umulisa) – die dicken, bauschigen Locken bekränzt mit weißen Blüten wie bei einem fröhlichen Waldgeist – pflückt Avocados von einem Baum und unterhält sich scherzend mit einer Verwandten, die sich irgendwo in der Nähe aufhält. Die Off-Stimme der Frau verliert sich, während sie sich mit jeder zerstreuten Antwort weiter entfernt. Dann nimmt die Szene eine beängstigende Wendung. Ein fremder Mann mit unangenehmem Lächeln nähert sich Eva, die seine reine Anwesenheit zu beunruhigen scheint. Wir können uns denken, dass er eine Bedrohung darstellt, aber ihr Gesichtsausdruck verrät eine Dimension von Gefahr, von der wir uns noch keine Vorstellung machen. Er packt sie, und als sie sich loszureißen versucht, stürzen weitere Männer herbei und tragen das um sich schlagende Mädchen fort. Der gespenstische Nachhall ihrer verzweifelten Schreie ist noch präsent, als sie alle längst dem Blick entzogen sind.
Die Vergangenheit spielt nicht nur in die Gegenwart hinein; sie ist in jedem Eckchen Film präsent und füllt mit ihren zahllosen Phantomen den gesamten Raum aus.
Brautraub oder guterura – übersetzt in etwa „Hochheben“ oder „Wegtragen“ – ist ein alter Brauch, bei dem ein Mann mit Unterstützung seiner Verwandten und Freunde ein Mädchen (manchmal nicht älter als zwölf) kidnappt und zur Ehe zwingt. Nachdem das Mädchen vergewaltig und ihrer Jungfräulichkeit und damit ihrer Ehre beraubt wurde, schickt der Ehemann eine Abordnung an die Familie des Opfers, um ihnen irgendeine Form der Entschädigung anzubieten. Denn nachdem die Ehe erst „vollzogen“ ist, sind ihnen die Hände gebunden.
Die totgeschwiegene Tragödie
Birara, selbst Ruanderin, siedelt THE BRIDE im so fruchtbaren, grünen und doch mit so viel Unglück geschlagenen ländlichen Ruanda an. In der Eröffnungsszene wird das Jahr 1997 angegeben, nur drei Jahre nach dem von Hutu-Nationalisten angeführten brutalen Genozid, der über eine Million Opfer forderte, die meisten davon Tutsis. Schon lange bevor die Spuren, die diese Geschehnisse in der Psyche der Protagonist*innen hinterlassen haben, unausweichlich an die Oberfläche treten, liegt dieser hartnäckige Schatten des Todes über allem; einer Tragödie, die nach Aufarbeitung schreit.
Frauen sind von jeher in den häuslichen Bereich verbannt, über den die Männer wie selbstverständlich in absentia herrschen.
„Wir brauchen hier Lehrerinnen und Lehrer“, sagen Evas Tanten trocken zu ihr, als sie zu Besuch kommen. Diese Ehe hat die Träume des Teenagers, Medizin zu studieren und Kinderärztin zu werden, abrupt zunichte gemacht. „Die meisten von ihnen waren Tutsis. Sie wurden alle getötet. Andere sind außer Landes geflohen“, erklären sie. In der nächsten Szene steht ein Kind vor einem selbstgemachten Hausaltar und fährt abwesend mit dem Finger über den Goldrahmen eines Fotos, das noch verborgen bleibt. Dann ein Schnitt, und wir sehen ein liebevolles Arrangement von Schwarzweiß-Fotos, ein Andenken an die Verschwundenen und Toten. Später entdeckt Eva, dass die Abgebildeten nicht etwa die Verwandten ihres neuen Ehemanns sind, sondern die Familie, die einst in diesem Haus gelebt hatte, ehe sie entweder floh oder getötet wurde. In diesem Film ist die Vergangenheit nicht nur ungebetener Gast in der Gegenwart; sie beansprucht jedes Fleckchen und besetzt es mit ihren zahllosen Phantomen. THE BRIDE ist alles andere als ein Märchen, es ist eine Gespenstergeschichte.
Ähnlich wie Biraras vorheriger Kurzfilm HOME (2021) – in dem eine junge Frau vor dem Ehemann flieht, der sie misshandelt, um dann die Missbilligung ihrer Familie ertragen zu müssen – setzt sich THE BRIDE mit Hilfe der Darstellung problematischer Familienstrukturen kritisch mit generellen Genderfragen und kulturspezifischen Sozialstrukturen auseinander. Eva nimmt, wie zu erwarten, ihre Gefangenschaft nicht klaglos hin. Sie verweigert jedes Wort an ihren jungen Ehemann, der oft schemenhaft am Bildrand bleibt, während die Kamera unverwandt auf Eva gerichtet bleibt, die im Bett liegt, den eigenen Körper engumschlungen, den Blick trotzig ins Leere gerichtet, wenn sie nicht gerade verzweifelt die Augen zukneift. Ihre Tanten mögen Mitgefühl mit ihrer Zwangslage haben, sind jedoch in erster Linie pragmatisch. Sie drängen sie dazu, sich mit den neuen Gegebenheiten abzufinden.
Vereint in der Verbannung
Eva selbst sträubt sich hartnäckig, sich mit ihrer unverdienten Lage abzufinden. Trost findet sie allein bei der verwaisten Kusine ihres Ehemanns, und der Film nimmt sich viel Zeit für die Freundschaft, die sich zwischen beiden anbahnt. Immerhin sind ihre Lebensumstände fast identisch: Ans Haus gefesselt, die meiste Zeit alleingelassen, und das mit Vorsatz. Frauen sind von jeher in den häuslichen Bereich verbannt, über den die Männer wie selbstverständlich in absentia herrschen. Doch in ihrer vereinten Isolation knüpfen diese beiden eine dauerhafte Verbindung.
Als Verlängerung der ambivalenten Häuslichkeit werden Hände zu einem beherrschenden Thema des Films und sind als Close-ups und Weitwinkelaufnahmen in verschiedenste Szenen präsent, die Frauenhände bei der Arbeit zeigen: bei der Essenszubereitung, beim Einflechten bunter Perlen, beim Wäschewaschen. An anderer Stelle wiederum stehen Hände für den invasiven Prozess der Schamlippenweitung, der angeblich beiden Partnern mehr Freude am Sex verschaffen soll. Evas Tanten scharen sich um sie auf dem Bett, dann folgt sofort ein Schnitt auf eine Küchenszene, in der Spinat auf einem Blech angerichtet wird – alles Routine, bis Evas Schreie das unheilvolle Schweigen zerreißen, ein weiterer Moment, der die die gespenstische Grundstimmung des Films betont. Natürlich ist dieser böse Spuk nicht auf das Haus beschränkt, er sucht auch die Seen und lichten Wäldern heim, in denen Menschen scharenweise abgeschlachtet wurden. Evas unerwartete Zuneigung zur Kusine ihres Mannes lässt sie in ihren Fluchtabsichten schwanken, doch zu bleiben ist für Eva ebenso ausgeschlossen, als zweifach Heimatlose in einem Haus voller Fremder, sichtbarer und unsichtbarer.
Kelli Weston ist eine in Boston lebende Programmkuratorin und Filmkritikerin; sie veröffentlicht u.a. in „Sight & Sound“, „The Guardian“ und „Film Comment“.
Übersetzung: Clara Drechsler, Harald Hellmann