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Ein Anfang, ein Ende, eine Fortsetzung. Vincent Dieutres THIS IS THE END beginnt gegen Ende der langen COVID-19-Isolation und zeichnet eine Reise auf, die nach vierzig Jahren seine Affäre mit seinem ehemaligen Liebhaber Dean wieder aufflammen lässt.

THIS IS THE END ist zugleich Roadmovie, Performance- und Kammerspielfilm und vereint in brüderschaftlicher Solidarität die Stimmen von Performern aus der The End Poetry Lounge, die des Filmemachers selbst und die Stimme Éva Truffauts, welche Auszüge aus „Los Angeles, Hauptstadt des 20. Jahrhunderts“ des Philosophen Bruce Bégout vorträgt. Wie pazifistische Waffen des Ungehorsams feuern aus der Lounge – die Menschen dazu einlädt, ihre eigenen Gedichte oder die anderer vorzulesen – die Worte von Allen Ginsberg, Jim Morrison und Elizabeth Acevedo Fragen, Aufforderungen und Warnungen in das Gesicht einer harschen Welt: „Hollywood wird das kriegen, was es verdient. (…) Die Regierung Amerikas wird fallen. Doch wie kann Amerika fallen?“ Die Gedichte, eine Mischung aus politischen Aufschreien, Protestliedern und verletzlichen Beschwörungen, deklamieren und prangern unerschrocken die Brutalität der Welt an: Wir leben in einem Amerika, in dem nicht alle die Schönheit der Einwanderung wertschätzen können.“

Unauffindbare Herzen

In THIS IS THE END stehen sich zwei Welten in einer dissonanten Spannung gegenüber. Wie kann man eine Stadt – und ihre charakteristische, unermüdliche Ausweitung – als paradoxen Ort des Entkommens und der Gefangenschaft darstellen? Ein Straßennetzwerk, ein Kreuzungs-Labyrinth, eine Verflechtung aus Linien, eine Falle aus anonymen Korridoren durch die eine Überzahl an Autos in gespenstischer Wiederholung fahren, in engen, geordneten, disziplinierten Reihen. Dieutre filmt diese Wellen des Verkehrs, welche sich aus einem scheinbar unendlichen Reservoir zu speisen scheinen, um die Stadt zu kolonisieren, vom Morgengrauen bis in die Nacht, von der Nacht bis ins Morgengrauen, ohne Ende.

„Wo sind die Menschen, die zu Fuß gehen?“, fragt sich Dieutre, konfrontiert mit den Massen an Fahrer*innen, die die Stadt verstopfen. Wo sind die Frauen und Männer, die die Stadt durch die Dynamik ihrer eigenen Schritte erforschen? In der gleichen Stimme, in der er Michael Snow, James Benning, Andy Warhol und Richard Serra als filmische Vorbilder nennt, protokolliert der Regisseur aktuelle katastrophische Geschehnisse: Das World Trade Center, Columbine, Orlando, Trump. Verschlungen mit den langen Kamerafahrten, die aus Deans Mustang aufgenommen werden, konstatiert er die Disintegration der Welt in dieser Stadt ohne Zentrum. Im Auto schweben die beiden Lover, lassen sich treiben auf der vergeblichen Suche nach dem unauffindbaren Herzen der Stadt der Engel.

Die Liebe der beiden Männer quillt aus einem privaten Innenraum heraus und blüht im öffentlichen Raum auf.

Durch die Augen des Filmemachers erscheint Los Angeles wie eine endlose Parade, der dauerhaft festgefahrene Stau suggeriert eine Welt, die zugleich verlassen und übersättigt ist. Die Stadt scheint fast von sich selbst entfremdet, überfordert von dieser sterilen Wiederholung, „ein unbewältigte Leere“ in den Worten Bégouts, die im Film von Truffauts bestimmter und pointierter Stimme gesprochen werden. „Auf den ersten Blick wird die urbane Erfahrung fast zu einem Nichts reduziert, zu einem Material, das so armselig und so locker ist, dass es fast dahinschwindet. So verwehrt Los Angeles demjenigen, der die Stadt entdeckt, die Zeit, die er braucht, um sie zu erleben, den kurzen Moment, in dem er sagen könnte: Ich bin da.“

Eine einhüllende Liebe

Los Angeles verströmt in THIS IS THE END eine teilnahmslose Kälte, es standardisiert und teilt: die Erben auf einer Seite, die Beraubten auf der anderen. Selbst in die Schwimmbäder, gedacht als Freizeitorte, dringen Schlangen ein, die wiederum selber durch die andauernden Waldbrände aus ihrem natürlichen Umfeld vertrieben wurden. Sie schlängeln sich durch das blaue Wasser, scheinen jede Bewegung zu blockieren, die die Stadt öffnen könnte; sie spiegeln die Zwänge einer Welt außer Atem, erschöpft.

Doch die Körper der wiedervereinten Liebhaber geben der Stadt neue Lebenskraft, umhüllen sie mit Leidenschaft. In einer unglaublich schönen Szene sitzen sich die weiß gekleideten Körper von Dean und dem Filmemacher gegenüber, sich umarmend, berührend, streichelnd, küssend, erkennend. Die eleganten Gesten ihrer Hände besiegeln – nach so vielen Jahren, nach den wiederhallenden Viren von COVID-19 und AIDS, nach der Isolation – die Schönheit der Wiederverbindung zweier Liebhaber. Der Körper der Liebe wird ausgedrückt, erfunden, erinnert, gehört, anvertraut in der geteilten Intimität von Fragen. Die Liebe der beiden Männer quillt aus einem privaten Innenraum heraus und blüht im öffentlichen Raum auf. Sie konfrontiert alles, was in der Welt kaputt gegangen ist und schmiedet Momente der Möglichkeit in einer Zeit der Unmöglichkeit. Hier ist Verlangen eine Form von Utopie, die ausgesprochen und bewohnt werden mochte..

Corrine Maury ist außerordentliche Professorin im Fachbereich Film der Universität Toulouse (Frankreich).

Übersetzung: Meret Weber

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