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Irgendwo reist jemand – ein Franzose, ein Filmemacher – melancholisch zu jemand anderem – einem Amerikaner, der vor 40 Jahren einmal sein Liebhaber gewesen war –, wieder verbunden durch die banale Magie der sozialen Netzwerke.

Stéphane Bouquet: Hat sich das wirklich so zugetragen?

Vincent Dieutre: Nein. Nicht wirklich. Aber ich habe eine Reihe vergleichbarer Erfahrungen gemacht, in denen ich Leute nach vielen Jahren über das Internet wiedergefunden habe. Ober in denen vom Tod von Personen online berichtet wurde. Und als ich das Bild von Dino Koutsolioutsos sah, zusammen mit der Bemerkung „Eine Person, die Sie vielleicht kennen“, habe ich mich sonderbarerweise sofort an diesen griechischen Liebhaber erinnert, den ich vor 40 Jahren auf Paros kennengelernt hatte, bevor er in den achtziger Jahren an AIDS starb. Es war, als sei mir auf dem Bildschirm sein Geist erschienen und als wäre er jetzt dieser in Rente gegangene und in Los Angeles lebende Psychoanalytiker. Als wäre Facebook eine moderne Version der Vorhölle, eine Art Schleuse zwischen Leben und Tod, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Da hatte ich den Einfall, solch eine fiktive Wiederaufnahme einer Bekanntschaft zu filmen. Ist diese virtuelle Vorhölle nicht auch ein Ort der Möglichkeiten, ein Ort der aktuellen Poesie? Das musste einfach ein Film werden …

Der eine heißt Vincent, der andere Dean. Es ist eine Geschichte über heutige Netzwerke … Vincent trifft Dean, oder besser: Vincent trifft Dean wieder. Dieses Wiedersehen ist voller Entdeckungen, kurzer Begegnungen, Überraschungen und vor allem voller Reflexionen.

SB: Ein weiterer melancholischer Liebesfilm?

VD: Ja, noch ein weiterer. Was könnte ich in meinem Alter anderes machen?

Vom Flughafen zu Deans Haus in der Cheremoya Avenue. Der Weg ist weit, die Reise lang und langsam, umso besser, denn was von Anfang an zählt, ist nicht so sehr das Erreichen eines Ziels als die Reisebewegung selbst, das Sprechen-Denken in all diesen Alleen dieser versprengten, geisterhaften Stadt Los Angeles. Entstanden ist eine Art „Wiederverheiratungstragikomödie“, eine Komödie für Senioren, wie es in der rauen Sprache von heute heißt. Ein Paar, das sich für einige Wochen wieder verbindet, mitten in einer Pandemie, das wieder Liebe macht, angetrieben weniger von Begehren als vielleicht von einer liebevollen Treue gegenüber der Vergangenheit.

Es geht mir nicht um Nostalgie oder darum zu behaupten, dass früher alles besser war. Es geht mir darum, eine Realität anzuerkennen: Poesie ist die einzig verbliebene demokratische Sprache in der amerikanischen Kultur.

SB: Ist Los Angeles ein guter Ort für deine Filme, die ja vor allem vorangetrieben werden von diesem Drang zum gleichzeitigen Sprechen und Denken?

VD: Ja, ich dachte am Anfang sogar daran, während des Herumfahrens zu improvisieren. Ein Mäandern entlang dieser endlosen Alleen. Direkt am Meer. Dann haben mich diese Stand-up-Dichter inspiriert, diese großartigen Deklamationen am Mikro, die ich gesehen hatte. Da beschloss ich, einen Text für meine Stimme zu schreiben und ihn außerhalb des Bildes aufzusagen, den Bildern der Stadt unterlegt. Als wäre der ganze Film ein langes Gedicht in zwei Sprachen, bei dem alles miteinander verflochten ist.

Denn zu dieser Zeit tragen im winzigen Raum der vergessenen The End Poetry Lounge Dichter Texte vor, die den unrühmlichen Zustand dieses Landes und dieser Stadt abhorchen – als würden alle auf das Eintreten der Katastrophe warten. Auch hier scheint es so, als würde etwas zu einem Ende kommen. Dürren, Waldbrände, Viren, Polizeihubschrauber auf der Pirsch, durstige Schlangen, die sich in Swimmingpools flüchten. In Hollywood ist immer noch alles geschlossen, wegen des Lockdowns. Dumpfe Bedrohung liegt über der Stadt, hinter heruntergelassenen Jalousien. Unbekannt, unaussprechlich. Doch sie verleiht dieser Reise den Ton dringlicher Klage und leichter, aber greifbarer Angst. Vor dem großen Erdbeben? Vor dem Ende aller Zeiten, das die Fernsehprediger ankündigen? Das spielt keine große Rolle.

SB: Du sagst: „Amerika hat mich geschaffen“, doch gleichzeitig scheint es so, als würdest du das Ende dieses Amerikas bezeugen? Ist außer der Poesie nichts mehr davon übrig?

VD: Das stimmt. Mit der Zeit ging mir auf, dass ein bestimmtes Amerika – Minimalismus, literarische Experimente, repetitive Musik – für meinen Werdegang sehr wichtig gewesen war. Ich begriff aber auch, dass wir heute nur noch auf eine ironische – wenn auch häufig brillant gemachte – Karikatur dessen blicken, worin ich in der prägenden Zeit Ende der siebziger Jahre während meiner ersten New York-Aufenthalte eingetaucht war. Es geht mir nicht um Nostalgie oder darum zu behaupten, dass früher alles besser war. Es geht mir darum, eine Realität anzuerkennen: Poesie ist die einzig verbliebene demokratische Sprache in der amerikanischen Kultur. Also weltweit.

Als die Poetry Lounge schließen muss, wandern die Liebenden ziellos durch die Alleen mit ihren Motels, Swimmingpools, Palmen und Einkaufszentren. Das ganze L.A. zieht an ihnen vorüber: das grüne Eden der die Stadt umgebenden Wüsten, der Schwulenbezirk, der Latino-Markt voller Jungfrauenfiguren aus Plastik, Hunderte von behelfsmäßigen Zelten auf den Bürgersteigen der meist schwarzen Wohnviertel. Eine Stadtreise bei Dämmerung, während der weder der Erzähler noch Dean kaum je ihrem Ford Mustang entsteigen, denn wir wissen ja: Los Angeles ist keine Stadt der Fußgänger*innen. Wir wissen: L.A. hat – vom Surfen zum Skateboard-Fahren, von Helikoptern zu Autos – das Gleiten zu so etwas wie dem höchsten Wert gemacht.

Ich wollte dieses Gefühl einer endlosen Wiederholung übertragen. Wir alle spüren es in unserer heutigen Welt, doch in L.A. wird es konkrete Wirklichkeit.

SB: Du beziehst dich auf den französischen Denker Bruce Bégout und dessen Buch über L.A. Hat die Stadt in ihrer besonderen Anlage die Form deines Films bestimmt?

VD: Ich fahre nicht gern Auto. Also habe ich Monate auf dem Beifahrersitz zugebracht. Selbst um Zigaretten zu holen, musste ich mehrere Meilen fahren. Folgerichtig vollzieht der Film die Bewegungen eines Automobils durch die Stadt nach, lotet ihre Unermesslichkeit aus. Dann ist mir Bruce Bégouts Text begegnet. Ich fand seine städtebauliche Analyse von L.A. sofort faszinierend, auch wenn sie inzwischen weitgehend überschrieben worden ist durch neue Migrationsbewegungen und virtuellen Urbanismus. Mir kam es so vor, als hätte Bégout auf seine Weise auch ein soziologisches Gedicht geschrieben. Das hat es mir erlaubt, eine neue, eine dritte Stimme einzuführen, als Kontrapunkt zu meinen persönlichen Anmerkungen und zu den in der Lounge vorgetragenen Gedichten. Man kann sagen, Bégout hat das Analytische übernommen und mir gestattet, im Bereich der Gefühle zu bleiben, auch wenn mir Analyse persönlich ebenfalls sehr wichtig ist.

So läuft das ziemlich gut. Nicht enden wollende Kamerafahrten wischen durch die Stadt, als wäre sie ein einziger Strom, ein einziges Gedicht, ein einziger Körper, der einfach nur ein weiteres Mal gestreichelt werden möchte. Die Liebesszenen sind als GIFs gefilmt – Umarmungen und Zärtlichkeiten, die in einer Zeitschleife ständig wiederholt werden, darin den harmonischen Windungen der Autobahnen nicht unähnlich.

SB: Um die Sinnlichkeit des Paares darzustellen, verwendest du GIFs. Was hast Du mit diesen geloopten Umarmungen bezweckt?

VD: Ich wollte dieses Gefühl einer endlosen Wiederholung übertragen. Wir alle spüren es in unserer heutigen Welt, doch in L.A. wird es konkrete Wirklichkeit. Und meine Beziehung zu Dean oszilliert zwischen Erinnerung, Erkennen und der Unmöglichkeit, sich eine Zukunft vorzustellen, sei es in der Liebe, in der Kunst oder in der Politik. Gibt es Schönheit in dieser Schleife? Eine Schönheit der Wiederholung? Wenn Film „der zeitgenössischen Liebe direkt in die Augen schaut“, dann sind GIFs eine so brutale wie sanfte Art, diese Liebe in der Schwebe zu halten.

Ich denke, das Gegenwartskino ist viel stärker mit Themen befasst als mit Fragen der filmischen Formen. Und als über 60-Jähriger weiß ich, dass das falsch ist.

Text und Interview: Stéphane Bouquet und Vincent Dieutre

Stéphane Bouquet ist Lyriker, Drehbuchautor und Filmkritiker. Er arbeitet regelmäßig mit Regisseuren wie Sébastien Lifshitz, Patric Chiha und Vincent Dieutre zusammen.

Übersetzung: Stefan Pethke

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