Direkt zum Seiteninhalt springen

Wie die Geschichten des Krieges erzählen? Wie einem Thema begegnen, von dem uns Fernsehen, Radio und Internet unentwegt berichten? Die Handys der ukrainischen Soldat*innen, der Zivilist*innen und internationalen Journalist*innen sind immer im Einsatz. Fotos und Videos gelangen wenige Minuten nach ihrem Entstehen an die Öffentlichkeit. Was also einem Publikum anbieten, das Explosionen, abgefeuerte Raketen, zerbombte Panzer, plündernde russische Soldat*innen und in Überwachungsvideos auftauchenden Raketenhagel gesehen hat? Wie da noch überraschen? Wie bei den Zuschauer*innen noch Interesse wecken, angesichts dieser Flut an Eindrücken, grausamen Tragödien und humanitären Katastrophen?

Für uns hieß die Antwort, in unserem Film nicht den Krieg selbst zu zeigen. Wir wollten uns auf die Kriegsfolgen konzentrieren. Wir suchten nach ganz gewöhnlichen, ja banalen Szenen des Alltagslebens vor dem Hintergrund des Krieges. An spektakulären Aufnahmen von Tragödien, Tränen und Verzweiflung war uns nicht gelegen. Sie gibt es in anderen Berichten aus der Ukraine mehr als genug. Wir verfolgten das einfache Konzept, mit Hilfe von Totalen, gefilmt mit einer statischen Kamera, die Betrachter*innen aus dem Kinosessel in die Ukraine zu versetzen. Wir wollen, dass sie das tragische Geschehen und die Atmosphäre dort nachfühlen können. Dass sie eine Zeitlang mit den Ukrainern leben, in deren Welt, unter den grausamen Bedingungen dieses Ausnahmezustands. Wir wussten von Anfang an, dass die Stärke dieses Films nicht in einzelnen Szenen sondern in seiner Gesamtwirkung liegen würde, diesem langsamen Eindringen in die Materie des Krieges.

Mit W UKRAINIE (In Ukraine) folgen wir nicht dem Schicksal einzelner Figuren. Wir nehmen das Kollektiv in den Blick. Unser Hauptdarsteller ist ein Land im Krieg. Das Land und seine Menschen. Es gibt kaum Dialoge in unserem Film. Es gibt keine Stimme aus dem Off, niemand gibt lange Erklärungen. Wir erzählen die Geschichte über Bilder, mit Totalen und Weitwinkel. Wir wollen den Zuschauer*innen Zeit geben, über die Realität nachzudenken, die wir beschreiben, sie sich selbst zu erschließen, sie neugierig auf das „Was nun?“ machen, damit sie sich auf die Menschen einlassen, die gezwungen sind, die Auswirkungen des Krieges zu ertragen.

Der Blick von außen scheint für das Verständnis von Geschichte und, in diesem Fall, den Krieg in der Ukraine, unabdingbar zu sein. Darum haben wir uns die Freiheit genommen, zu dokumentieren, was auf der anderen Seite unserer Ostgrenze geschieht.

In seinem Buch „Zone des Übergangs“, das sich mit dem Fall der Berliner Mauer befasst, analysiert der Philosoph Boris Buden, wie unterschiedlich dieses Ereignis von den unmittelbar daran Beteiligten einerseits und außenstehenden Beobachter*innen andererseits wahrgenommen wurde. Er kam zu dem Ergebnis, dass erst die Außenperspektive den erforderlichen Rahmen für das Verständnis der Vorgänge und deren geopolitischen Konsequenzen lieferte. Der Blick von außen scheint für das Verständnis von Geschichte und, in diesem Fall, den Krieg in der Ukraine, unabdingbar zu sein. Darum haben wir uns die Freiheit genommen, zu dokumentieren, was auf der anderen Seite unserer Ostgrenze geschieht. Vor allem, da wir in so vieler Hinsicht in diesen Krieg verstrickt sind, indem wir unseren Nachbarn beistehen. Nur einige wenige Kilometer von uns in Polen, in der Europäischen Union, sterben Menschen, verlieren Menschen alles, was sie sich im Leben aufgebaut haben, durchleiden Menschen unaussprechliche Tragödien. Als Dokumentarfilmer mussten wir einfach festhalten, was uns seit dem 24. Februar 2022 so sehr deprimiert.

Mit unserem Film streben wir ähnliche Eindrücke an wie jene, die heute in uns wach werden, wenn wir die Klassiker des polnischen Dokumentarfilms ansehen, etwa BALLADA F-MOLL von Andrzej Panufnik oder SUITA WARSZAWSKA von Tadeusz Makarczyński. Beide Filme entstanden unmittelbar nach 1945. Sie zeigen das ganze Ausmaß der Zerstörung Warschaus, die Rückkehr der überlebenden Einwohner*innen und den Wiederaufbau der Stadt. Die Aufnahmen der Ruinen von Warschau weiten derart die Vorstellungskraft, dass sie in ihrer Wirkmächtigkeit denen von Kampfhandlungen in nichts nachstehen. Man ergänzt automatisch das Geschehene; jedes einzelne zerstörte Gebäude steht stellvertretend für die Tragödie, jeder herumirrende Heimkehrer trägt in seinem Gepäck die durchgestandenen Leiden mit sich. Wir wollten ähnliche Gefühle wecken, als wir W UKRAINIE drehten, den Schrecken, die Brutalität und Sinnlosigkeit des Krieges zeigen. Es ist unsere Pflicht als Filmemacher, zu diesem Thema nicht zu schweigen, seine Trivialisierung zu verhindern. Die Realität, mit der wir es zu tun haben, bestärkt unsere Überzeugung, dass wir Menschen wenig aus der Geschichte lernen und aus dem Gelernten keine Konsequenzen ziehen. Bedauerlicherweise. Wie also die Geschichten des Krieges erzählen?

Piotr Pawlus, Tomasz Wolski  

Übersetzung: Clara Drechsler, Harald Hellmann

ZURÜCK ZUM FILM

Gefördert durch:

  • Logo des BKM (Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)
  • Logo des Programms NeuStart Kultur