CARTAS DO ABSURDO (LETTERS FROM THE ABSURD) beginnt mit Feuer. Feuer evoziert Gewalt, aber auch die Geister der Potiguara. Der Text des Films beruht auf kürzlich gefundenen Briefen, verfasst in Tupí, aus dem siebzehnten Jahrhundert. Diesen Briefen kommt eine besondere Bedeutung zu. Sie gehören zu den seltenen Aufzeichnungen, die die Geschichte Brasiliens nicht aus der Perspektive der Sieger*innen, sondern aus der Sicht der Besiegten, der Indigenen erzählen. Gabraz Sanna nimmt diese Dokumente als Ausgangspunkt, um eine Lesart des Kontakts zwischen der „Zivilisation” und der indigenen Bevölkerung Brasiliens vorzuschlagen. Dabei entsteht kein erklärendes Handbuch im Sinne einer soziologischen Analyse. Vielmehr ist der Film ein poetischer Versuch, die Implikationen dieses Kontakts zu ergründen, bei dem die Gewalt in den Prozess der Bildproduktion selbst eindringt.
Auch das Kino ist ein zivilisatorischer Apparat der weißen Kultur.
Die Briefe beschreiben die Unterdrückung, der die Indigenen während des Bergbaus ausgesetzt waren. In einer schöpferischen Geste schlägt Gabraz Sanna einen Bogen durch die Zeit und verbindet die jüngsten ökologischen Ungleichgewichte im Bundesstaat Minas Gerais mit dem Zusammenbruch der Staudämme von Mariana und Brumadinho in den Jahren 2015 und 2019, bei dem mehr als dreihundert Menschen ums Leben kamen und über tausend Familien betroffen waren. Die Multi-Künstlerin Sara Não Tem Nome tritt in einer Performance auf. In einer Einstellung wird Narziss, der sich in einem verzerrten Spiegel betrachtet, von der Gier nach Land überschattet. Die Tonspur trägt zu einer suggestiven Atmosphäre bei, die den Film in einer Mischung aus Delirium und Traum durchdringt.
Diese Einstellung könnte aus einem der Travelogues der Brüder Lumière stammen, allerdings durch das Prisma des zeitgenössischen Kinos im Stil von James Benning.
In einem Briefauszug berichtet ein Indigener, dass er beim Aufwachen große Schiffe sah, die sich dem Pier näherten. Und genau dies ist auch die letzte Bewegung des Films: eine sehr lange Einstellung, gefilmt aus der Perspektive des Schiffsbugs. Die Augen des Kapitäns dominieren das Schiff, das an das sogenannte „Zeitalter der Entdeckungen“ erinnert, als Portugal den südamerikanischen Kontinent betrat – ein Bild kolonialer Herrschaft. Diese Einstellung könnte aus einem der Travelogues der Brüder Lumière stammen, allerdings durch das Prisma des zeitgenössischen Kinos im Stil von James Benning. Wir können sie aber auch ganz anders lesen: als die Gegenaufnahme zum Bild des Indigenen im Vordergrund des Films. Es ist das Bild des Kolonisators, der auf dem Festland ankommt. Und mit ihm die Filmkamera. Die Ankunft der Zivilisation fällt mit der Ankunft des Kinos selbst zusammen. Auch das Kino ist ein zivilisatorischer Apparat der weißen Kultur.
Marcelo Ikeda
Marcelo Ikeda hat an der Universidade Federal de Pernambuco (UFPE) in Kommunikation promoviert und ist Professor für Film an der Universidade Federal do Ceará (UFC). Er schreibt Filmkritiken für die Website www.cinecasulofilia.com.