Wie kam es zur Entscheidung, Ihren Film auf den Fall Mawda Shawris, einer zweijährigen Tochter von Geflüchteten zu fokussieren, die 2018 von der Polizei erschossen wurde, als diese die irakisch-kurdische Familie auf einer belgischen Autobahn verfolgte?
Seit einigen Jahren arbeite ich an Filmen, die sich mit solidarischem Aktivismus beschäftigen. Ich beschloss, mich auf die Solidarität rund um den Fall Mawda Shawri zu konzentrieren, der damals mit dem Gerichtsverfahren im Jahr 2021 seinen Höhepunkt erreichte. Damals war ich überrascht, wie ignorant sowohl die Medien als auch die belgische Öffentlichkeit gegenüber der steigenden Zahl von Todesfällen im Zusammenhang mit der versuchten Überquerung des Ärmelkanals durch Geflüchtete zu sein schienen. Die Soziologin Rachida Brahim weist darauf hin, dass auf – zum Teil tödliche – polizeiliche und staatliche Gewalt systematisch ein Szenario folgt, das durch Leugnung und Gaslighting geprägt ist. Man könnte sagen, dass es dadurch zu einer zweiten Tötung kommt – in diesem Fall der Familie und der Freund*innen des Opfers. Wir wissen dies von anderen Opfern von Polizeigewalt in Belgien. Was den Fall Mawda einzigartig macht, ist nicht nur, dass es hier um ein zweijähriges Mädchen geht, sondern auch, dass die Vertuschungsversuche von Polizei und Staatsanwaltschaft so offensichtlich und eklatant waren. Umso wichtiger erschienen in dieser Hinsicht die Gegenbeweise, die die Aktivist*innen sammelten.
Mit diesem Film will ich aufzeigen, wie einfache Bürger*innen gemeinsam den Blick umdrehen und auf die Polizei und die Behörden und deren Handeln richten können. So kann der himmelschreiende Mangel an Respekt vor Menschen- und Bürgerrechten als Folge systemischen und strukturellen Rassismus, der die staatlichen Institutionen auf allen Ebenen zu durchdringen scheint, untersucht werden.
Als ich 2021 begann über den Film nachzudenken, fing ich mit der Frage an, wie sich das kollektive Imaginäre dieser breit aufgestellten, intersektionalen Solidarität darstellen ließe.
Im Film wird der Fall allmählich durch die Stimmen von Aktivist*innen, Rechtsanwält*innen und Journalist*innen entwirrt und beleuchtet. Die Bilder zeigen dazu die Anwesenheit stummer Zeug*innen. Eine Versammlung wird in den Räumlichkeiten einer politischen Organisation abgehalten, die für die Rechte undokumentierter Menschen eintritt (La Voix des Sans Papiers). Auch Sie sind unter den Zuhörenden. Inwieweit rekonstruiert der Film die von Aktivist*innen organisierten Anhörungen, die in den zwei Jahren vor Beginn des Prozesses stattfanden? Und inwieweit inszeniert der Film ein Forum für seine eigene Suche nach Gerechtigkeit? Was für ein Forum ist das?
Mawdas Fall hat eine Vielzahl von Solidaritätsinitiativen hervorgebracht, die sich in den Monaten und Jahren nach dem Mord an ihr gründeten. Die sichtbarsten waren Comité Mawda Justice et Vérité und #Justice4Mawda. Diese Initiativen führten zu verschiedenen öffentlichen Versammlungen: Proteste, Treffen, Wortveranstaltungen. Als ich 2021 begann über den Film nachzudenken, fing ich mit der Frage an, wie sich das kollektive Imaginäre dieser breit aufgestellten, intersektionalen Solidarität darstellen ließe. Mein erster Impuls war sicherzustellen, dass die Dialoge und Worte im Film direkt von den Aktivist*innen stammen. Es war mir wichtig, ihre Stimmen, Positionen und Perspektiven nicht zu verfälschen. Also organisierte ich kleine Zusammenkünfte und Einzeltreffen für Interviews mit etwa 20 Mitgliedern dieser Solidaritätsinitiativen. Dabei wurde nur der Ton aufgezeichnet. Die Dialoge, die im Film zu hören sind, sind entweder Auszüge aus diesen Originalaufnahmen oder basieren auf diesen. Für die Nachsynchronisierung habe ich weitere Aktivist*innen gebeten, mir ihre Stimmen zu leihen, um so den Unterstützer*innenkreis des Films noch zu erweitern.
Es war mir wichtig, einen strikt dokumentarischen Ansatz zu vermeiden – das kollektive Imaginäre sollte über sich selbst und seine Situiertheit hinausweisen.
Anschließend wollte ich die Vielstimmigkeit der Solidaritätsinitiativen in fiktionaler Form verdichten. Dabei sollten die Dialoge von ausgewählten Aktivist*innen vor der Kamera nachgespielt werden. Es war mir wichtig, einen strikt dokumentarischen Ansatz zu vermeiden – das kollektive Imaginäre sollte über sich selbst und seine Situiertheit hinausweisen. In künstlerischer Hinsicht erlaubte mir dieser Ansatz zudem, die fotografische Inszenierung der Aktivist*innen präziser zu gestalten. Das Treffen, das wir schließlich im Sommer 2023 gefilmt haben, bestand sowohl aus Menschen, die auf den Originaltonaufnahmen zu hören sind, als auch aus solchen, die einige der ursprünglichen Aufnahmen neu vertont hatten. Dann gab es noch ein Ensemble, das die vokalisierte Poesie des Films beisteuerte. Das war eine große Gruppe von Menschen – im Film sind sie die Zuhörer*innen –, in der Mehrzahl undokumentierte Aktivist*innen des Brüsseler Netzwerks La Voix des Sans Papiers.
Mit dieser Arbeitsmethode wollte ich betonen, wie das Kino als Ort der Zusammenarbeit mit emanzipatorischer Graswurzel-Arbeit fungieren kann. Es ging darum, Formen der sozialen Begegnung (sowohl vor als auch hinter der Kamera) zu erkunden, die als Probe für die gemeinschaftliche Veränderung einer Situation dienen.
Als Zuschauer*innen des Films lauschen wir den verschiedenen Berichten, die auf Französisch, Niederländisch, Kurdisch und Englisch und zum Teil mit „migrantischem“ Akzent vorgetragen werden. Es handelt sich um Gerichtsunterlagen, die von den belgischen Behörden und den Medien fabrizierte Geschichten, luzide Analysen von Anwält*innen und Aktivist*innen sowie um Stimmen, die Ärger und Trauer ausdrücken. Während wir also zuhören, haben wir viel Zeit, eine Landschaft aus Autobahnen und der sie umgebenden Natur zu betrachten. Und auch das Meer, das die französische Küste vom Ziel in England trennt. Was hat Sie dazu inspiriert, den Ort des Verbrechens auf solch detailversessene Weise erneut aufzusuchen und wie kam es zu den unterschiedlichen filmischen Verfahren, die Sie nutzten? Was transportieren diese Zeitbilder?
Die Dialoge konzentrieren sich auf die forensische Rekonstruktion des Falls. Es erschien deshalb nur logisch, auch den Tatort mit der Kamera aufzusuchen und so dieser Erzählung ein Bild zu geben. Doch für mich als Filmemacher war es zentral mich zuerst selbst zu fragen, was es bedeutet, eine Autobahn zu filmen – einen Ort, der oft als Nicht-Ort bezeichnet wird, ein Ort ohne Erinnerung. Meine erste Intuition war, gemeinsam mit dem Kameramann Diren Agaba auszuloten, wie wir filmisch festhalten könnten, wie es sich anfüllt an diesem Ort einfach zu verweilen, präsent zu sein, auf die vielen visuellen Details zu achten, in denen sich das Leben auf und an der Autobahn zeigt, sie also nicht als Nicht-Ort anzuerkennen. Ich fing an, mit analogem 8-mm-Film zu drehen. Das entsprach meinem Gefühl, das Bild der Autobahn mittels poetischer und opaker Fragmente zu repräsentieren. Das Potential dieser Vorgehensweise wurde uns sehr schnell bewusst – das Bild stellt eine Präsenz her, aber es ist nicht illustrativ. Also versuchten Diren und ich dies in andere Szenen und Sequenzen zu extrapolieren, die mit digitalem HD-Video gedreht wurden.
Die so entstandenen Bilder dienen als rahmende Umgebung für die kollektiven Anhörungen. Und obwohl sie sicherlich eine eindringliche, gespenstische Stimmung transportieren, zeugen sie doch auch von der Notwendigkeit, diese nekropolitische Landschaft aufzulösen und andere mögliche Welten in derselben Landschaft zu imaginieren.
Im Film wird das Sprechen immer wieder von experimentellen Gesängen unterbrochen, die von den Zeug*innen im Raum improvisiert zu sein scheinen. Wer singt hier und welche Rolle spielt der Gesang im Forum?
Ich wollte die wichtige Rolle der physischen stimmlichen Präsenz im Prozess der kollektiven akustischen Einstimmung während der Treffen hervorheben. Als Teil des Post Film Collective (einer Gruppe von Künstler*innen mit unterschiedlichen, durch ihren Aufenthaltsstatus bedingten Level des Zugangs zu künstlerischer Produktion) habe ich mich bereits mit Vokalisierung befasst. Mit meinen Freund*innen habe ich gelernt, wie vokalisierte Poesie einem gemeinschaftlichen Gefühl eine Grammatik hinzufügen kann. Während der Vorbereitung des Films habe ich ein neues, temporäres Kollektiv von Vokalperformer*innen gegründet. Wir haben unseren kollektiven Prozess mit einem Workshop begonnen, bei dem es ums Zuhören ging. Diesen haben wir 2022 an einer Autobahnraststätte abgehalten, die einen wichtigen Teil des Tatorts im Fall Mawda darstellt. Dort erforschten wir den flüchtigen Akt des Zuhörens an einem Ort, der mit tödlicher Polizeigewalt aufgeladen ist, von der aber keine sichtbaren Spuren zurückgeblieben sind. Das hat uns auf einen sehr produktiven Pfad der Erinnerung geführt, der aber auch Spiel, Imagination und Freude zuließ.
Mit diesem Film möchte ich die außergewöhnlich menschliche, einfallsreiche und eloquente Art hervorheben, in der die kollektive Arbeit an Gegenbeweisen sowie die Erinnerungsarbeit in diesen Kreisen abläuft.
Ein Leitmotiv des Films ist die Sprache, mit der wir diese Ereignisse beschreiben. Die Protagonist*innen meditieren über den Gebrauch bestimmter Begriffe wie „Migrant*in“ und beschreiben die Situation der Verfolgung von Migrant*innen durch die Polizei auf treffende Weise neu: „Menschen jagen andere Menschen“, zum Beispiel. Der Film vermittelt durchaus ein Vertrauen in die Fähigkeit von Bürger*innen, den Fall Mawda weder in politischer noch in menschlicher Hinsicht einfach aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden zu lassen. Kann ein Film diese Fähigkeit auch auf die Zuschauer*innen übertragen? Auch um dem allgegenwärtigen Gefühl der Ohnmacht angesichts der Straffreiheit der Polizei etwas entgegenzusetzen?
Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass die Thematisierung rassistischer polizeilicher und staatlicher Gewalt in einem Film das Risiko birgt, die Ausweglosigkeit dieses „Klimas“ zu reproduzieren, was wiederum zu dem angesprochenen Gefühl der Machtlosigkeit beitragen kann. Deshalb war es unabdingbar, auf die Infrastruktur der Solidarität zu fokussieren, die eine Suche nach der Wahrheit hinter dem Mord ermöglicht. Als Filmemacher ist mein Leitsatz, dass mein Film nur von dem ausgehen kann, was die Aktivist*innen bereits in den Händen halten. In meinen ersten Gesprächen mit den Mitgliedern dieser Solidaritätsinitiativen habe ich erfahren, dass sie sich bewusst sind, dass für Gespräche über die Ursachen systemischer rassisierter Gewalt schlicht kein Rahmen existiert. Für die Aktivist*innen ist dies aber kein Grund, sich aufhalten zu lassen. Vielmehr sehen sie dies als Einladung zu Imagination und Ausprobieren.
Mit diesem Film möchte ich die außergewöhnlich menschliche, einfallsreiche und eloquente Art hervorheben, in der die kollektive Arbeit an Gegenbeweisen sowie die Erinnerungsarbeit in diesen Kreisen abläuft. Beispielhaft hierfür steht die Passage, in der die Aktivist*innen die Macht benennen, die in der Sprache liegt. Die Abschaffung der Gewalt, die der gegenwärtigen europäischen Migrationspolitik innewohnt, kann mit einer ganz simplen, handfesten Geste beginnen: Lasst uns aufhören, ständig Worte und Begriffe zu verwenden, die Menschen in Bewegung herabwürdigen und entmenschlichen. Ich persönlich habe aufgehört, das Wort „Migrant*in“ zu benutzen, denn es ist ein regulatorischer Begriff. Das ist ein simples Werkzeug, um Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass eine menschliche Beziehung zu diesen Reisenden im Exil mit der Sprache beginnt, also mit etwas, das in unseren eigenen körperlichen Möglichkeiten liegt.
Ich hoffe, dass dieser Film die Gedanken, Praktiken und Gefühle, die den Versammlungen zugrunde liegen, erneut einüben kann. Von diesen Methoden zu lernen, kann uns helfen, die Ressourcen zu sammeln, die wir benötigen, um gemeinsam gegen die unmenschlichen Resultate dieser europäischen Migrationspolitik anzugehen.