Hintergründe
HIntergrund: Geografie, Ort, Arbeitslager und Kulturrevolution
Die Region “Obsthof” liegt im Südwesten der chinesischen Provinz Sichuan, tief in der autonomen Region Liangshan, im Südosten des Tibetischen Hochlands in China auf etwa 2400m Höhe NN. Sie ist umschlossen vom Gebirge und den Fluss Yalong, die locale Bewohner nennen ihn Jin Fluss. Zur nächstgrößere Stadt namens Xichang führt nur eine sechsstündige Busfahrt durch das Gebirge.
Es wurde ursprünglich von dem Minderheiten Yi-Volk bevölkert. 1958 wurde einem Militärlandwirtschaftsbetrieb aufgebaut. Er trug lediglich die Postfachnummer „909“ als Name. Während der Anti-Rechts Kampagnen wurde die Region durch Häftlinge besiedelt und zum Laogai Farm (Arbeitslager in VR China) umgewandelt. Umzäunt von der Berglandschaft. Häftlinge, die geflüchtet sind, erfroren oder verhungerten auf ihrem Weg. Die Kulturrevolution folgte nach der Errichtung. Viele Menschen wurden aus politischen Gründen verurteilt und in das Arbeitslager deportiert. Zahlreiche kamen durch die Verfolgung oder ihrer Deportation ums Leben.
Durch die Kampagne “Chaos beseitigen und zur Normalität zurückkehren (Boluan Fanzheng)” von Deng Xiaoping sollten die Fehler aus der Kulturrevolution korrigiert werden. Viele politische Häftlinge wurden rehabilitiert, aber waren bereits durch die jahrzehntelange Haft an dem Ort gebunden. Das Leben in Obsthof normalisierte sich und die starke Klassenunterteilung zwischen Häftlingen und Polizisten löste sich langsam. Damalige Häftlinge und Polizisten durften nun das gleiche Krankenhaus besuchen und ihren Kinder zusammen in der Schule lernen.
1994 wurden alle Arbeitslager zum Gefängnis umgewandelt. Ab 1996 hieß Obsthof „Yanyuan Gefängnis" (盐源监狱). 2012 wurde das Yanyuan Gefängnis verlegt und Obsthof wurde zur einem Drogenbehandlungszentrum. Der Name des Ortes wechselte erneut zu “Grüne Heimat”. 2013 wurde "Umerziehung durch Arbeit (Laojiao)” offiziell abgeschafft, die “Reform durch Arbeit (Laogai)” existiert aber immer noch.
Die unaufgearbeitete Vergangenheit gilt allerdings seither als Tabu-Thema unter allen Einwohnern. Die Zeitzeugen der damaligen Zeit sterben ohne Chronik oder Aufzeichnung. Die Spuren werden durch Verdrängung vernichtet und verwischt.
HIntergrund: Mein Vater
Mein Vater wurde 1938 geboren und überlebte den damaligen Sino-Japan Krieg. In der Zeit der Volksrepublik China (VR China) wurde er mit 13 Jahren wegen Diebstahl zu Zwangsarbeit als Straßenbauer zwischen Tibet und Sichuan deportiert.
Aus Gerüchte wollten er mit ein paar anderen durch den Yarlung-Zangbo Fluss ins Ausland fliehen. Während der Flucht wurde mein Vater verhaftet. Er wurde als Konterrevolutionär für 20 Jahre verurteilt und musste weitere Zwangsarbeit zunächst als Minenarbeiter, dann beim Straßenbau und schließlich als Obstbauer im Obsthof leisten.
Er verbrachte den größten Teil seines Lebens im Gefängnissystem. In dieser Zeit waren viele Häftlinge zuvor Lehrer, Ingenieur, und andere Intellektuelle. Die Häftlinge bildeten meinen Vater weiter: er lernte Chinesisch, Gedichte, Kaligraphie und konnte Mundharmonika und Erhu spielen. Er lernte auch das Überleben, indem er mit ansehen musste, wie seine Freunde durch Hungersnot, Verfolgung, Selbstmord starben. Es blieben für ihn am Ende nur Überleben als Perspektive. Der endlose Horror, der sich als Albtraum festsetzte, ließ ihn keine ruhige Nacht mehr.
Durch die Reform von Deng Xiaoping wurde er von einem Häftlinge zum Arbeiter. Er konnte zu seiner Familien zurückkehren, jedoch haben ihn die Umstände des Arbeitslagers sozial unfähig umerzogen. Er war hitzig, vertraute niemanden und verdächtigte ständig alle um ihm herum, ihn schaden zu wollen. Er lebte weiterhin daher weiter in Obsthof und arbeitete als Gärtner.
Nach Renteneintritt blieb er in der „Alten und Behinderten“ Gruppe mit anderen Häftlingen aus der damaligen Zeit, die auch nicht mehr in das familiäre Leben passten und Obsthof als zu Hause sahen. Jede Veränderung des Ortes veränderte nichts für die Gruppe, die im Ort nur noch auf ihr Lebensende wartet.
Mein Vater wünscht sich nur, dass ich ein ganz normales Leben haben kann. Das heißt: heute, morgen und übermorgen nicht zu verhungern.
Hintergrund: Ich
Ich bin in der Zeit von Deng Xiaopings „Reform und Öffnung“ geboren, nach all den Jahren politischen Aufruhrs. Vier Jahre nach meiner Geburt hieß der Ort offiziell Obsthof. Trotz weiterer Namensänderungen ist meine Identifizierung zu dem Ort nach wie vor bei „Obsthof“.
Ich wachse wie die andere Kinder in dem Ort auf. In der lokalen Gefängnisschule waren all meine Lehrer Polizisten, Die Mitschüler waren meist Kinder der Polizisten. Daher wollte ich eine Zeit lang auch Polizistin werden. Wie eine Selbstverständlichkeit dachte ich, dass meine Familie auch zur den Angehörigen der Polizei gehörten. Andere Menschengruppen, wie die Häftlinge und Bauern, waren für mich “die Anderen” und ignorierte sie üblicherweise.
Wir und ihr.
Polizei und Häftlinge.
Gut und schlecht.
So nahm ich die Gesellschaft von Obsthof als die Norm wahr. Ebenso, wie die Begriffe Verbrecher, schießen, Todesurteil, eisende Fußfessel. Die Begriffe klangen schon zwar erschreckend, aber durch die Wiederholung verloren sie im Alltag ihre sonst angsteinflößende Funktion.
Als ich 5 oder 6 Jahre alt war spielten meine Eltern mit vielen andere Leute Mahjong im alten Gemeinschaftsraum des Gefängnis. Ich hing an einer eisernen Tür am seitlichen Eingang und schwenkte hin und zurück. Ein dünner, großer Mann in Polizeiuniform wollte durch. Er war ein Bekannter, der mit meinen Eltern ab und zu Mahjong spielte. Ich schwang im kindlichen Spieltrieb die Eisentür zu. Er war sofort wütend und hatte durch die Tür mich am Kragen gepackt und mir eine Ohrfeige gegeben. Ich war im Schock. Ich schämte mich, dass er mich einfach so schlagen konnte und erzählte das auch nicht meinen Eltern. Ab diesem Moment realisierte ich, dass es zwischen meiner Familie und der Polizei einen gesellschaftlichen Unterschied gab, wie ein Klassenunterschied.
Als das Gefängnis umzog wurde auch der lokale Schulbetrieb schrittweise abgebaut. Ich zog zu meiner Tante in die große Stadt um, um weiter zu studieren. Ich betrachtete zum ersten Mal Obsthof von außen, von der Ferne.
Die schrecklichen Begriffe im Obsthof verloren ihre Normalität. Mir wurde zum ersten Mal bewusst, dass Obsthof ein Arbeitslager ist. Die Ortsteilnamen entfalteten ihre Bedeutung. Farmverwaltung, Produktionsbrigade Nr. 3, 5 oder 7, Grundaufbaubrigade, Viehzuchtbrigade, die Brigade der Alten und Behinderten. Die Polizisten waren im Obsthof allseits dominant. Sie waren Polizisten und gleichzeitig Bürgermeister, Richter, Lehrer oder Ärzte. Die damaligen Gefangenen üben handwerkliche Berufe aus, wie Friseure, Gärtner, Köche. Die Häftlinge und die Yi-Minderheit waren im Alltag versteckt. Keiner der Bewohner im Obsthof redet über die Vergangenheit. Nur das Spiel Mahjong bringt sie alle schweigend an einen Tisch.
Als ich erfuhr, dass mein Vater ein Häftling im Obsthof war, wollte ich schon nicht mehr Polizistin werden. Durch Marktwirtschaft eröffnete sich mir eine breitere Perspektive in die Gesellschaft. Die Politik und Vergangenheit spielten dabe aber auch eine immer kleinere Rolle in unserem Alltag. Die “Mao-Zeit” ist das Trauma vieler Familien, aber darüber wird geschwiegen.
Einen damaligen Häftling als Vater zu haben schien exotisch und gefährlich zugleich. Ich hatte großes Lust, mehr von der Geschichte zu erfahren. Ich wusste nur grob, dass alles mit der “Kulturrevolution” zu tun hatte und dass es eine schwierige Zeit war. Ich hatte aber keine Ahnung was genau das bedeutete und wie ein Arbeitslager, wie Obsthof, entsteht. In meinen Schulbüchern wurde genau dieser Teil mit ein paar zweideutigen Sätzen zusammengefasst. Die offene Fragen treibt mich weiter, noch mehr davon wissen zu wollen.
Die politischen Häftlinge, die Straftäter, die Polizisten und all dessen Nachwuchs, wie ich, lebten “harmonisch” auf dem Grab der Opfer unserer gemeinsamen Vergangenheit. Niemand vermochte darüber sprechen. Wie wurde die Vergangenheit zum Tabu?
HIntergrund: Geistergeschichten
If I am getting ready to speak at length about ghosts, inheritance, and generations, generations of ghosts, which is to say about certain others who are not present, nor presently living, either to us, in us, or outside us, it is in the name of justice. […] It is necessary to speak of the ghost, indeed to the ghost and with it.
—Derrida (1994, xix)
In der chinesisch-kommunistischen Narration und der patriotischen Erziehung gibt es viele Märtyrergeschichten. Sie setzten als Helden ihr Leben gegen Gewalt (wie „japanischer Imperialismus“) und für das Land ein.
Die in der Kulturrevolution-Zeit als Volksfeind dargestellte Menschen werden hingegen als “Kuh, Schlage und Geister (牛鬼蛇神)” bezeichnet. Diese Personen werden vom “kommunistischen”, gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen und als ein “Beispiel” von “den Anderen” dargestellt.
Parallel existiert ein anderes Narrativ rund um tote Personen. Diejenigen, die nicht als Märtyrer erinnert werden, existieren als Geist weiter und suchen die Bewohner heim.
Auf dem Berg sind zahlreiche Leichen begraben. Ihre ungeklärten Todesfälle wurden zu Geistergeschichten, die meine Mutter zur Abschreckung nutzte: “Tu das nicht, sonst kommt der Geist XXX und nimmt dich weg!” Die Erinnerungen an die Verfolgungen und Ungerechtigkeiten wurden mit Geistergeschichten zu einem Instrument der Repression. Sie werden genutzt, um den Nachwuchs zur Gefolgschaft zu disziplinieren.
Nana Xu