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Barbara Wurm: Wann hast Du begonnen, dich näher mit dem Ort, an dem Du aufgewachsen bist zu beschäftigen? Und wann kam die Entscheidung dazu, daraus einen Film zu machen? 

Nana Xu: Ursprünglich hatte ich mich vor allem für die Kulturrevolution interessiert. Dann habe ich weiter gegraben und immer mehr Verbindungen zwischen der großen Geschichte, die ja immer ein wenig abstrakt wirkt, gefunden und meiner persönlichen Geschichte, meiner Familiengeschichte. Als ich dann China verlassen habe und nach Deutschland gekommen bin, habe ich mich weiter mit der Geschichte beschäftigt. Zunächst arbeitete ich an einem anderen Filmprojekt, das auch auf dieser Geschichte basiert hat. Als ich 2018 zurück nach China gegangen bin und meinen Vater in Guochang besucht habe, habe ich auf einmal gemerkt, dass der Ort meiner Vorstellung von ihm gar nicht mehr entsprach. Alles wurde abgebaut, die Leute sterben nach und nach. Das war eigentlich der Moment, in dem ich angefangen habe, darüber nachzudenken, einen Film über diesen Ort, über meine Heimat zu drehen. Ich hatte auch tatsächlich vor, 2019 nochmal nach China zu fahren und den Film zu drehen, aber dann kam Corona. Also konnte ich nur aus großer Entfernung weiter über den Ort recherchieren – doch eigentlich gab es gar keine wirklichen Informationen darüber, außer einem Buch vom ehemaligen Arbeitskollegen meines Vaters. Ich habe mir das Buch also heruntergeladen und es gelesen. Da gab es sehr viel Ähnlichkeiten zu meiner eigenen Erinnerung. Das hat mich darin bestärkt, mich weiter mit dem Ort zu beschäftigen und den Film zu drehen, bevor alle Leute versterben, es keine Zeugen mehr gibt und bevor alle Gebäude und Spuren verschwinden. 

Christiane Büchner: Der Film wirkt ja auch selbst wie eine Recherche. Also ab wann hast du entschieden, zu drehen und wie hast du das gemacht? 

NX: Es gab unterschiedliches Material, teilweise aus 2018, das meiste ist allerdings später entstanden. 2018 habe ich zum Beispiel meinen Vater gefilmt, die zweite Reise war dann 2022 während des Lockdowns. Ich hatte geplant, mit einem kleinen Filmteam und einer Kameraperson hinzufahren, aber letztendlich hing diese Kameraperson dann auch im Lockdown fest und konnte nicht fahren. Ich bin dann mit meiner Mutter nach Guochang gefahren und dann kam raus, dass ich die Kamera vor Ort nicht benutzen kann. Also musste ich mit meinem Handy filmen. 70% des Materials im Film sind also Handy-Footage, dazu kommt ein bisschen Footage, das ich 2022 mit der Black Magic Kamera aufgenommen habe, an Orten, die keine Überwachungskamera haben, vor allem in leerstehenden Gebäuden. Manche davon hatten ein Schild dran, dass sie einsturzgefährdet sind. Das ist ein riesiger Vorteil, niemand geht da rein und es gibt keine Überwachungskameras, also konnte ich da ausnahmsweise die Kamera benutzen. 

Yun-hua Chen: Kannst du vielleicht ein bisschen über den filmischen Raum sprechen? Es geht in dem Film etwa ja auch um die räumliche Teilung durch die Mauer im Ort. 

NX: Ich habe da viel darüber nachgedacht, dieser Gegensatz von Geschlossenheit und Offenheit, Innenräume und Außenräume und der Imaginationsraum. Aber ganz kann ich letztlich nicht erklären, wie ich das eingesetzt habe, das war ziemlich intuitiv. Als ich zum Beispiel diesen Hügel mit den Gräbern gefilmt habe, hatte ich das Gefühl, dass ich einen Raum für die Geister aufgenommen hatte. Das klingt jetzt aber vielleicht ein wenig absurd … 

Fabian Tietke: Ich habe zwei Fragen. Die erste ist konkret zum Ort: Der Ort hat ja, wenn ich richtig verstehe, auch eine Gegenwart als Drogenentzugszentrum. Gibt es Berührungspunkte zwischen dem Ort, wo du aufgewachsen bist und diesem Ort der Gegenwart? 

NX: In meinem Film ist ja der Masterplan des neuen Orts zu sehen, der sich „Grüne Heimat“ nennt. Am Ende sieht man den Ort auch nochmal, aber leider konnte ich da nicht näher ran gehen. 

Als ich realisiert habe, dass ich für vier Jahre nicht zurückfahren konnte, habe ich mir unterschiedliche Formen und Formate vorgestellt, wie dieser Film am Ende aussehen könnte 

FT: Der Film beginnt ja so, wie man das von Stadtführungen kennt: Während der Fahrt bekommt man die Geschichte erzählt und wenn man ankommt, ist man in der Gegenwart. 

NX: Als ich realisiert habe, dass ich für vier Jahre nicht zurückfahren konnte, habe ich mir unterschiedliche Formen und Formate vorgestellt, wie dieser Film am Ende aussehen könnte. Er hätte auch ein Spielfilm sein können, in dem ich da hinfahre und die Orte und Landschaften als Teil einer Handlung benutze. Ich hätte mir auch eine Animation vorstellen können, in der ich die Leute als Stadtführerin durch den Ort führe. Die Interviews, die wir im Film hören, sind während des Filmens entstanden. Bevor ich nach Guochang gefahren bin, hatte mein Vater mir von einem Freund erzählt, der ihm einmal Medizin gegeben hat, aber ganz konnte er das chronologisch nicht mehr einordnen. Vor Ort habe ich ihn dann auf der Straße getroffen. Das war extrem hilfreich, ich wusste ja nicht, wo all diese alten Leute leben, viele waren öfter umgezogen. Dieser Bekannte hat mir dann weitere Leute vorgestellt. 

BW: Was den Film so besonders macht, ist nicht zuletzt das Sprechen über die eigene Geschichte, über verschüttete Spuren, auch solche von Gewalt. Es wirkt fast so, als wäre es für einige der Menschen, mit denen du dich unterhältst, das erste Mal, dass sie über ihr langes Leben überhaupt frei und öffentlich sprechen, mit dem Bewusstsein, dass ihre Aussagen nach außen gehen. War das so oder ist das ein falscher Eindruck? Und wie sehr musstest Du auch selbst beim Drehen aufpassen? 

NX: Ich habe einen großen Unterschied gemerkt zwischen den Interviews, die ich 2018 geführt habe und denen von Ende 2022. Allgemein haben Leute große Vorsicht gegenüber Kameras und Handyaufnahmen und sind sehr vorsichtig, was sie vor einer Kamera sagen. Das heißt, sie sprechen nicht wirklich frei. Auch als ich Geo Zijun gefragt habe, warum er ursprünglich nach Guochang gekommen war, war er zuerst erschrocken, warum ich so eine Frage stelle und hatte Angst, weil das noch immer ein Thema ist, über das nicht gesprochen wird. Was mich selbst angeht, ist der Film eine Aufarbeitung meiner Vergangenheit und darüber, was mich davon bis heute prägt. Ich merke, wo ich mich beim Prozess des Filmens selbst zensiert habe, was ich nicht ausgesprochen habe. Etwas auf der Leinwand zu verstecken, ist gar nicht so einfach. Aber ich hoffe, dass dieser Film meine künstlerische Sprache verändert hat und eine Art Prozess ist, eines Sich-Selbst-Zeugnis-Ablegens, um zu verstehen, wie ich mit dem, was passiert ist, weiter umgehen kann. 

CB: Du sagst, Du hast etwa 70% mit dem Smartphone gedreht. War das Telefon nicht genauso bedrohlich, wie es eine Kamera gewesen wäre? 

NX: Als ich mit meiner Kamera einen alten Wasserturm filmen wollte, kam ein Polizeiauto – das sieht man auch im Film – die Polizisten haben neben mir angehalten und gefragt, was ich da mache und dann gesagt, dass ich das nicht darf. Ab da habe ich in der Öffentlichkeit nur noch mit dem Handy gefilmt. Das Handy ist einfach kleiner und mobiler, das kann ich im Zweifelsfall immer schnell wegpacken. 

YC: War der Film für Dich auch eine Gelegenheit, mit Deinem Vater über diese Zeit zu sprechen und dieses Familientrauma zu verarbeiten? 

NX: Das ist leider nicht mehr möglich. Mein Vater hat Demenz. Das werde ich auch in meinem nächsten Filmprojekt aufgreifen. Ich habe durch Corona genau die kurze Zeit verpasst, in der ich noch mit ihm hätte sprechen können. Man denkt ja immer, es ist selbstverständlich, dass der eigene Vater lebt und dass er immer zugänglich ist, dass ich immer zurückgehen kann und ihn fragen, aber das ist nicht so. 

Alles könnte ein wunder Punkt sein und man weiß nicht, ob nicht die Vergangenheit an sich schon ein gefährliches Thema ist. 

BW: Möchtest du zur Zensur allgemein und zu deinen Möglichkeiten zu drehen, etwas sagen? 

NX: Besonders seit 2016, 2018 ist es immer schwieriger geworden. Alles könnte ein wunder Punkt sein und man weiß nicht, ob nicht die Vergangenheit an sich schon ein gefährliches Thema ist. 

YC: Dadurch hat diese Geistergeschichte etwas sehr Befreiendes. Das hat mich sehr berührt. 

NX: Ich habe immer noch Angst, auf diesen Hügel zu gehen. Meine Mutter sagt bis heute: „Geh da nicht hin!“ Bevor ich auf den Berg geklettert bin, habe ich den Geist gebeten, mich in Ruhe filmen zu lassen (schmunzelt). 

FT: Der Film verschränkt auf – wie Du vorhin gesagt hast – sehr intuitive Weise, deine Familiengeschichte, die Geschichte des Raumes und die Gewaltgeschichte der Volksrepublik China von der Kulturrevolution bis heute. Welche Veränderungen hast du an dem Raum, an dem der Ort liegt, beobachtet? 

NX: Der Ort ist ja quasi eine große Umsiedlung, bei der eine Gruppe Han-Chinesen auf dem Hügel angesiedelt wurde, während im Dorf weiterhin eine lokale Minderheit lebte. Als ich noch dort gelebt habe, hatte ich das Gefühl, dass die lokale Minderheit Yi eigentlich nicht zu beobachten ist. Aber als ich 2022 wieder kam, hatte sich das total verändert. Alle Läden verkaufen nicht mehr nur Kleidung für Han-Chinesen, sondern auch Schmuck und Kleidung der Minderheit. Die Läden sind wieder da, die lokale Minderheit ist wieder aktiv. Die sind deutlich präsenter in Ort, nicht mehr so wie damals. 

BW: Wie wichtig war es, dass du nun quasi aus dem Ausland kommst und dass Du einer jüngeren Generation angehörst? 

NX: Ich glaube, das war gar kein Thema. Die Menschen haben sich deutlich mehr dafür interessiert, ob mein Vater zurückkommt und ob es ihm gut geht. Wenn ich was erzählt habe, waren die Antworten immer sehr knapp. Was die Menschen primär interessiert hat, war, ob mein Vater zurückkommt oder nicht. Das war wichtig, weil alle Leute da kostenlos leben dürfen, aber der Platz sehr beschränkt ist. Deswegen wollen alle Leute einen Platz. Deshalb ist es so wichtig, ob mein Vater wiederkommt. Denn sonst können sie seinen Platz haben. 

CB: Du hast den Film ja im Rahmen deines Filmstudiums in Hamburg gemacht. Sind da noch neue Aspekte reingekommen, über die Diskussion mit anderen Studierenden? Oder waren die von etwas überrascht? 

NX: Ich hatte den Film lange mit allen möglichen Informationen überladen. Und am Anfang war es schwierig für mich, ein passendes Tempo für die Zuschauer zu finden. In der Universität hatte mein Professor regelmäßige Gruppenkorrekturen organisiert, in denen die anderen Studierenden mir sehr geholfen haben, den Film zurecht zu stutzen. 

BW: Aber neue Themen kamen keine mehr dazu? 

NX: Nur bei diesem Apfelbaum, der im Film zu sehen ist. Ich dachte, das ist so offensichtlich, dass die Sandsäcke an den Ästen hängen, damit sie besser wachsen und man besser an die Äpfel kommt. Aber scheinbar versteht das niemand hier. Nachdem ich mit mehreren Leuten gesprochen hatte, habe ich eingesehen, dass man das scheinbar erklären muss.

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