Direkt zum Seiteninhalt springen

Barbara Wurm: Ich freue mich sehr, Sabina, dass wir über deinen allerersten Film überhaupt, NUDITY sprechen können, der im „Jung und mutig“-Kurzfilmprogramm des diesjährigen Forum Special zum Thema „Open Wounds, Open Words“ Premiere hat. Er ist im Workshop des Atélier Varan in der Tashkent Film School in Usbekistan entstanden. In welchem Kontext und unter welchen Umständen hast du den Film konkret gemacht? 

Sabina Bakaeva: Ich arbeite als Journalistin und nahm an diesem Workshop teil, weil ich verstehen wollte, wie man dokumentarische Filme für die Medien dreht. Aber das war dann überhaupt nicht das Format, das uns in diesem Workshop vermittelt wurde. Es ging dort um experimentelle Autor*innen-Filme. Meine Erwartungen waren ganz andere, denn eigentlich wollte ich einen Film über die usbekische Nationalmannschaft im Straßenradfahren machen, oder über Ärzte in einem Kinderhospiz oder ähnliches. Alles, was eine Journalistin eben interessiert. Unsere Mentoren aber, besonders David Tret’jakov, meinten dann, es sei wichtig, die Protagonist*innen zu entfalten, ein bestimmtes Sujet zu bauen, einen Konflikt zu kreieren und so weiter. So kam ich auf die Idee, eine Geschichte über meine Mama zu erzählen. 

...mir wurde plötzlich klar, dass ich das alles nur sagen kann, wenn ich dabei filme. 

Christiane Büchner: Was wolltest du über deine Mutter erzählen? 

SB: Meine Mutter wuchs in einer traditionellen usbekischen Familie auf und das in der UdSSR. Die Frauen in solchen Familien leisteten viel harte Arbeit. Gleichzeitig gab es in der Sowjetunion die Devise, dass die Frauen den Männern gleichgestellt seien. In Usbekistan manifestierte sich das aber meiner Meinung nach eigentlich nur, was die Arbeit betrifft. Zudem hatte ich gewisse innere Konflikte. Ich hatte die einfach. Und ich wollte, dass meine Mama mir ein paar Erziehungsratschläge gibt. Aber das Gespräch, das ich im Film führe, wo ich spreche – mir wurde plötzlich klar, dass ich das alles nur sagen kann, wenn ich dabei filme. Das klingt vielleicht ein bisschen seltsam, weil die Menschen normalerweise gerade vor der Kamera ja nichts sagen wollen. Aber für mich wäre es gar nicht anders gegangen, ich hätte es wahrscheinlich nicht anders machen können. So ist dieser Film entstanden. Davor hatte ich noch nie eine Kamera in der Hand. 

CB: Du bist also in die Tashkent Film School gekommen, um Handwerk und Technik zu lernen, und herausgekommen ist ein Autorenfilm. 

SB: Na ja, ich wollte nicht einfach weggehen und den Workshop verlassen. Obwohl ich schon darüber nachgedacht habe … aber ich bin geblieben. 

Ich habe ihr erklärt, dass das der Weg der Transformation einer Frau zum Menschen ist. 

CB: Und wie hast du den Dreh mit deiner Mutter dann konkret begonnen? Habt ihr deine Idee vor dem Dreh selbst gemeinsam besprochen? 

SB: Ich kannte im Prinzip alle ihre Geschichten, die sie so erzählt, mit Ausnahme jener, wo eine Frau getötet wurde, als Mama noch klein war. Ich wusste im Prinzip wie sie aufwuchs, erzogen wurde, welche Zwänge und Grenzen es gab. Gleichzeitig war ich sehr stolz darauf, dass meine Mutter schwimmen lernte, denn ihre Schwestern zum Beispiel, die auch nicht schwimmen durften als Kinder, können es immer noch nicht. Ich war stolz darauf, dass meine Mutter im Chor singt, dass sie ausgeht, was für eine Frau in ihrem Alter in Usbekistan ungewöhnlich ist. Ich habe ihr erklärt, dass das der Weg der Transformation einer Frau zum Menschen ist. Und vielleicht wird das für eine*n der hiesigen Zuschauer*innen ein Beispiel sein, dass 66 Jahre alt zu sein noch nicht heißt, dass man zu Hause sitzen muss und Suppe kochen. Man kann immer noch etwas für sich selbst tun, sich weiterbilden. Damit war sie einverstanden. 

BW: Ich muss gestehen, dass wir während der Sichtung darüber diskutiert hatten, in welchem Verhältnis du zu dieser Frau stehst, mit der du so einen offenen Ton findest. Einige von uns waren überzeugt, dass es sich um deine Tante handeln muss. Selbst als eigentlich geklärt war, dass es deine Mutter ist, gab es Widerspruch. Wie kommt das? 

SB: Vielleicht lässt es sich über den Schnitt erklären, die Montage. Ich hatte ursprünglich eine andere Idee. Ich wollte den Film anders schneiden, aber die Rückmeldungen, auch die von David, signalisierten mir, dass der Eindruck entstehe, ich spräche mit meiner Therapeutin. Seltsam, in dem Gespräch nenne ich sie ja auch explizit Mama. Aber vielleicht konzentriert man sich beim ersten Mal nicht darauf, das kann sein. 

BW: Aber glaubst du selbst nicht, dass es zwischen dir und deiner Mama eine ganz besonders enge Verbindung gibt? Oder ist das etwa gar typisch für eure Generation oder Kultur? 

SB: Das weiß ich nicht. Bei uns ist das eben so, schätze ich. Wir sind da jedenfalls nicht auf einer Linie mit traditionellen Familien. Ich bin nicht in einer traditionellen Familie aufgewachsen, aber für meine Freundinnen, Russinnen, wäre das wohl auch nichts Besonderes, so eine Beziehung zur Mutter zu haben. Wie es in traditionellen Familien läuft, weiß ich nicht. Obwohl – als die Nachricht rauskam, dass mein Film bei der Berlinale laufen wird, rief mich eine Verwandte an und beglückwünschte mich, dass ich mit meiner Mutter so reden könnte, sie konnte das mit ihrer zu keiner Zeit. Nicht, weil sie nicht mehr am Leben wäre, sondern weil ihre Mama sie einfach nicht versteht. Für traditionelle Familien ist so eine Beziehung also vermutlich ungewöhnlich. 

BW: Sprichst du mit deiner Mutter immer Russisch? 

SB: Ja, in meiner Kindheit sprachen wir Tadschikisch, aber insgesamt sprechen Sowjetmenschen auf Russisch. Ich wurde von sowjetischen Eltern erzogen. 

CB: Wie hat das lokale Publikum auf den Film reagiert? 

SB: Ich habe ihn nicht vorgeführt. Ich habe prinzipiell Bedenken, diesen Film zu zeigen, weil ich Angst vor irgendwelchen radikalen Stimmungen habe. Obwohl mir klar ist, dass das auch stark übertrieben sein kann. Vielleicht wissen wir nach der Berliner Premiere mehr. Ich habe den Film einem meiner Kollegen gezeigt. Er denkt, ich übertreibe. 

BW: Übertreiben in welchem Sinn? 

SB: Nun, ich fürchte um die körperliche Unversehrtheit meiner Familie. Ich habe Angst, dass der Film, wenn ich ihn zeige, die Gespräche, die wir da führen, einen Teil der Gesellschaft empören wird und dass das zu körperlicher Gewalt führen könnte sozusagen. Ich bin im Grunde überzeugt, dass ich übertreibe, kann nur leider dagegen nichts tun, dass ich diese Bedenken habe, oder mir Sorgen um den Ruf des Mediums mache, für das ich arbeite. Das sind die beiden größten Bedenken. 

BW: Um deine Mutter musst du aber keine Angst haben? Sie selbst hat keine Angst, oder? 

SB: Meine Mama denkt darüber wahrscheinlich nicht nach. Ich aber arbeite im Medienbereich und ich lese so Einiges. Sehr Unangenehmes. Meine Mama liest das nicht. 

CB: Wie diskutiert eure Generation eigentlich all diese Themen gerade? Den Hass zwischen den Geschlechtern, um den es in eurem Gespräch ja auch geht. Die Rolle der Frau in der Gesellschaft. 

SB: Wie sich das in der Gesellschaft äußert, ist ein anderes Thema. Ich kann nur über meinen Bekanntenkreis sprechen. Es betrifft bei uns eigentlich nur das Privatleben, sonst nichts. Denn diese Zwänge, mit denen wir aufgewachsen sind, und die Tatsache, dass wir alle immer müssen, müssen, müssen, macht uns motiviert und zielstrebig. Wie soll man das anders als zielstrebig oder arbeitsam nennen? Meine engsten Freundinnen arbeiten im Management. Das Thema muss wohl sehr tief sitzen, denn es gibt dort ein Gesetz zum Schutz von Frauen und Kindern vor jeglicher Form von Gewalt. Es gibt dort ein Frauenkomitee. Das heißt, es wird immer wieder von Fällen berichtet, in denen gegen Männer, die Gewalt gegen Frauen ausüben, vorgegangen wird. Aber es gibt Fälle, in denen die Strafen sehr milde ausfallen. Oder es wird überhaupt nichts unternommen. Vor kurzem kam die Nachricht, dass ein Vater seine Tochter umgebracht, sie erwürgt hat, glaube ich. Oder der Bruder. Jedenfalls, weil sie nicht heiraten wollte. Sie behauptete, keine Jungfrau mehr zu sein, worauf hin er sie umgebracht hat. Bei der gerichtsmedizinischen Untersuchung stellte sich heraus, dass sie noch Jungfrau war. 

Es geht bei den Zwängen und Regeln für Frauen, die ansonsten ja ziemlich erfolgreich sind, vor allem um das Privatleben. 

BW: Wird es Aufruhr erzeugen, dass du diese Themen im Film aufbringst, der dann noch dazu im Ausland gezeigt wird? 

SB: Eigentlich mag ich diese Themen gar nicht wirklich, denn ich selbst bin nicht zu diesen Zwängen erzogen worden. Offenbar gibt es aber irgendwelche kulturellen Regeln für Frauen, wie die Keuschheit etwa, die geschützt werden muss. Ich wechsle kurz das Thema: Ich habe mich kürzlich mit einem meiner Kolumnisten getroffen, und er sagte zu mir: „Sie haben also einen Film gedreht. Sagen Sie mir, was war das für ein Film?“ Ich sagte zu ihm, dass wir erzogen wurden zum Gehorsam. Wir sollten keine eigene Meinung haben, nicht wahr? Was gibt es sonst, als einem Mann gehorsam zu dienen? Andererseits gilt es, die Keuschheit zu bewahren, dennoch aber einem Mann zu dienen. Ich sage ihm, ich habe hier einen Konflikt. Und er sagt zu mir, dass man den Männern dienen soll. Gemeint sind: der Bruder, der Ehemann, der Vater. Ich hatte aber gar keinen, er ist gestorben, als ich noch ein Kind war. Und weil das so war, blieb mein jüngerer Bruder auch der jüngere Bruder und ich musste ihm nicht dienen. Bei mir war das so. Es geht bei den Zwängen und Regeln für Frauen, die ansonsten ja ziemlich erfolgreich sind, vor allem um das Privatleben. Vermutlich gab es das in meinem Leben auch, aber ich erinnere mich nicht so genau. Dass man sich die Haare nicht schneiden darf zum Beispiel, oder die Augenbrauen nicht zupfen, denn das darf man nur nach der Hochzeit … 

BW: Vielleicht geht es gar nicht so sehr um die Zwänge an sich, sondern vielmehr um die Frage, wie man das verändert. Mir scheint, schon allein die Tatsache, dass du einen solchen Film gemacht hast, hat viel verändert und trägt zur Veränderung bei. Zumindest für mich. Es ist ein feministischer Film. 

SB: Je nachdem, in welchem Kontext er läuft, wird er schon etwas verändern, das kann gut sein. Im kleinen Kreis wird es doch eher um eine Menge an Gleichdenkenden gehen. Welche Gedanken er auslöst, weiß ich nicht. Sicherlich keine großartigen sozialen tektonischen Verschiebungen. Die meisten Menschen leben ja doch so, wie es ihrer Weltanschauung entspricht. Würde es eine Vorführung für ein riesiges Publikum geben, würde der Film vielleicht etwas ändern, aber um dahin zu kommen, müssten die Tashkent Film School und ich irgendwelche Behördengänge machen – und am Ende würde er doch nicht für ein breites Publikum zugelassen werden, davon bin ich überzeugt. 

CB: Aber vielleicht ist das ja gar nicht dein letzter Film? 

SB: Das ist vermutlich richtig. Ich mag das Theatralische. Ich meine nicht, dass ich da gespielt habe vor der Kamera. … Wer weiß, vielleicht filme ich noch einmal etwas. Ich habe da ein Thema, aber ich bezweifle, dass ich eine passende Person für diesen Stoff finden werde. 

CB: Wieso nicht? 

SB: Nun, weil ich einen Film über eine Frau drehen will, die eine Abtreibung macht, die sie eigentlich nicht machen will. Die Chancen, dass da jemand mitmacht, sind gering. 

CB: Eine Abtreibung, die sie gar nicht will? Wieder ein Frauenthema. 

SB: Ja, denn ich denke, dass es viele solcher Fälle gibt; es kommt auch oft vor, dass Babys einfach weggegeben werden. In Deutschland gibt es bestimmt Babyklappen. Bei uns nicht. So kann man Babys einfach irgendwo in einer Tüte lassen. Ich habe Geschichten gehört, dass ein Baby lebend in einem Sack gefunden wurde, aber auch, dass man eines in die Kloschüssel geworfen hat. Mehr als dass diese Frau nicht abtreiben konnte, bedeutet das oft gar nicht. Sie hat also ihr Kind geboren und weggeworfen. Das ist interessant, aber wir erfahren nie etwas über diese Frauen. Wer sind sie? 

BW: Ich wollte noch einmal auf die Frage des Postsowjetischen zurückkommen. Ist das für dich eine Kategorie? Betrachtest du die spezifischen kulturellen Gegebenheiten und Geschlechterverhältnisse im Kontext von Usbekistan als ehemaliger Sowjetrepublik? 

SB: Das Postsowjetische ist für mich eine Frage der Ökonomie, der Landwirtschaft, der ökologischen Probleme. Aber die Frauen, denke ich, haben damals in der Landwirtschaft unter ähnlichen Bedingungen gelebt wie sie das heute tun. Oder das Leben in schlecht entwickelten Städten, auch hier wird es keine so großen Unterschiede zu früher geben. Etwas anderes ist die Religion, die nunmehr großen Einfluss nimmt. Genau das meine ich, wenn ich über meine Angst vor Reaktionen radikaler Gruppen spreche. Das, was früher der Stempel der Sowjetunion war, ist heute für die jungen Menschen jener der Religion. 

BW: Und der Einfluss des Russischen, der „russischen Welt“? Gerade vor dem Hintergrund der ukrainischen oder der georgischen Erfahrung? 

SB: Das kann ich schwer sagen. In meinem persönlichen Umfeld gibt es auf der einen Seite eine sehr internationale Blase, auf der anderen Seite sind es ihrer Nationalität nach Russ*innen, die wieder eine andere Mentalität haben. Wenn es aber um Sowjet-Menschen geht, sind das Usbeken, die von sowjetischen Eltern erzogen wurden, obwohl ich, ehrlich gesagt, außer mir keine anderen kenne in meinem näheren Freundeskreis. 

BW: Sabina, wir freuen uns auf deinen radikal offenen Film und die Diskussion mit den anderen jungen Regisseur*innen im Programm „Jung und mutig“. Danke sehr für das Gespräch!

ZURÜCK ZUM FILM

Gefördert durch:

  • Logo des BKM (Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)
  • Logo des Programms NeuStart Kultur