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Ausgangslage / Historischer Kontext

von Nathalie Borgers

2025 jährt sich der Tag des Militärputsches von 12. September 1980 in der Türkei zum 45. Mal. Nur wenige Zeitschriften haben sich bisher für seine Bedeutung interessiert. Und doch ist dieses Ereignis ein wesentlicher Schlüssel, um das Abdriften der heutigen Türkei verstehen zu können. Dieser Militärputsch markierte einen Bruch mit der Zeitgeschichte des Landes und veränderte den türkischen Staatsapparat grundlegend. Er leitete eine neue politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ära ein, die vier Jahrzehnte später noch immer andauert.

Mit außergewöhnlicher Gewalt schloss die Militärjunta Oppositionsparteien und Medienhäuser, verbot Gewerkschaften, verhaftete hunderttausende Menschen und folterte linke Aktivist:innen systematisch. Auf diese Weise wurde die Infrastruktur im Keim erstickt, die letztendlich zu einer Sozialdemokratie nach europäischem Vorbild hätte führen können. General Kenan Evren war von jeglicher Opposition befreit und erarbeitete eine neue Verfassung, die er als demokratisch bezeichnete, die aber in Wirklichkeit ein autoritäres und autokratisches Regime begründete. Die scheinbaren Grundfreiheiten waren von der Bedingung abhängig, den Staat nicht zu gefährden – ein Status, denwiederum nur der Staat selbst beurteilen konnte.

Diese Verfassung ist bis heute das Fundament der türkischen Regierung. Präsident Erdogan kann daher jede Kritik an seiner Politik als Angriff auf die Integrität des Staates bezeichnen und Verdächtige ohne Prozess inhaftieren lassen. Die Situation im Land ist in dieser Hinsicht dramatisch: Alle Führungskräfte und Vertreter der einzigen Oppositionspartei, der HDP, befinden sich trotz demokratischer Wahl im Gefängnis oder im Exil. Gleiches gilt für alle kritischen Stimmen, ob Akademiker:innen, Journalist:innen, Anwält:innen, Vertreter:innen von Handelskammern oder Gewerkschafter:innen.

Damals beseitigte die türkische Armee, die von 1980 bis 1983 an der Macht blieb, nicht nur die Opposition, sondern sorgte sowohl für die Liberalisierung der Wirtschaft des Landes als auch für die Islamisierung der Gesellschaft. Nachdem das Land durch eine blutige Repression in den Terror gestürzt worden war, konnte die Junta die vom Internationalen Währungsfonds seit Jahrzehnten gewünschten Maßnahmen zur „Neoliberalisierung“ des Landes einsetzen. Diese Maßnahmen bestanden aus massiven Privatisierungen, Lohnkürzungen, Auslöschung von Arbeitnehmerrechten, Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben für Bildung und Gesundheit usw. Zu diesem Zweck suchte die Junta Unterstützung bei den konservativsten Kräften des Landes, einschließlich religiöser Bruderschaften, die in Folge sogar legalisiert wurden. Außerdem wurde in der neuen Verfassung die Verpflichtung des sunnitisch-muslimischen Religionsunterrichts an Grundschulen verankert. Dies stand im Einklang mit Amerikas „Grüngürtel-Politik“ zur Bekämpfung des Kommunismus durch die Unterstützung des politischen Islam in Grenzändern zur UdSSR.

Auffällig ist die Tatsache, dass damals wenig über die wahren Gründe für diesen Putsch und seine Folgen gesprochen wurde. Tatsächlich waren die westlichen Länder mit dem Coup zufrieden. Derweil konnte das Bündnis im besonders angespannten internationalen Kontext - nach der iranischen Revolution und dem Einmarsch der UdSSR in Afghanistan - die Machtübernahme eines autoritären und proamerikanischen Regimes in der Türkei, das den Schutz der Interessen des Westens vor Turbulenzen garantierte, nur beruhigen. Der Putsch wurde sogar mit Hilfe der Nato vorbereitet. In der Öffentlichkeit hieß es: nur die Armee könne das Land von der Gewalt zwischen „radikalen Linken und rechtsextremen Milizen, die auch in Straßenkämpfen aneinandergerieten, befreien.  Der Coup vom 12. September 1980 war somit gerechtfertigt und die Armee wurde als alleiniger Garant der Republik dargestellt.

Der offizielle Diskurs inklusive aller Literatur- oder Presseartikel zum damaligen Putsch stellte die verschiedenen gegnerischen Gruppen auf dieselbe Ebene. Nichts ist jedoch weniger wahr. Wenn die Situation am Ursprung der Intervention der Junta tatsächlich zu einem "Straßenkrieg" zwischen gegnerischen Fraktionen verkommen ist, liegt es daran, dass die von den Behörden instrumentalisierten rechtsextremen Milizen ab 1975 begonnen hatten, die linken Gegner des Regimes systematisch umzubringen. Erst in den letzten Jahren wurde untersucht, wie diese Ereignissetatsächlich vonstattengingen. Die Recherche bestätigt nun ihre Richtigkeit. Das Buch „La violence politique en TurquieL’État en jeu, 1975-1980“ („Politische Gewalt in der Türkei. Der Staat im Einsatz, 1975-1980“, 2014) des Politikwissenschaftlers Benjamin Gourisse weist zum Beispiel mit Belegen nach, dass die beiden beteiligten Gruppen überhaupt keinen Zugang zu denselben Ressourcen oder Maßnahmen hatten. Die eine Gruppe wurde von der MHP, einer damals an der Macht befindlichen ultranationalistischen Partei, unterstützt und koordiniert, während der anderen jeglicher Zugang zu Regierungs- und Staatsbehörden entzogen wurde. Dieser Größenunterschied stellt sowohl die Art und Natur der Gewalt, die zum Putsch führte, als auch die des Putsches selbst in Frage - zumal die ideologische Konnektivität zwischen den rechtsextremen Milizen und den Offizieren hinter dem Putsch mittlerweile zweifelsfrei ist.

Ebenso kann man sich darüber wundern, dass die Türkei niemals kollektive Erinnerungsarbeit an ihrer autoritären Vergangenheit geleistet hat, wie dies in Argentinien, Chile oder Polen der Fall war und noch ist, oder näher sogar, in Deutschland.

Doch auch wenn die Vorgangsweise noch sehr marginal ist, versuchen heute einige Leute, die 1980er Jahre zu dokumentieren. 

Zum Beispiel sammelte die türkisch-deutsche Soziologin Elifcan Karacan, Tochter linker Aktivisten, die zu dieser Zeit aus dem Land fliehen mussten, Erinnerungen der Opfer des Putsches an die Jahre im Gefängnis und an die Folter. Sie veröffentlichte 2018 ihre Studie. (Erinnerung an den türkischen Militärputsch von 1980: Erinnerung, Gewalt und Trauma.)

SCARS OF A PUTSCH ist im Kontext der Erinnerungsarbeit geboren und in einer Zeit, in der der Aufschwung der Repressionen und die zunehmend krasse Islamisierung der Türkei uns zwingt, in die Vergangenheit zu blicken, um die heutige Situation verstehen zu können.

Denn die Folgen des Putsches, insbesondere die "Re-Islamisierung" des Landes und die Stärkung der nationalistischen Ideologie, die am ersten Tag der Machtergreifung durch die Militärjunta 1980 begann, führten zu einer sozialen Zweiteilung zwischen Ultranationalisten und Unterstützern der Demokratie, die heute sogar in türkischen Gemeinden auf europäischem Territorium ausgespielt werden. 

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