2008 traf ich meinen zukünftigen Mann, Abidin, einen Türken, der vor dreißig Jahren, nach dem Putsch von 1980, nach Österreich geflüchtet war. Und obwohl er fest in seinem Gastland verwurzelt schien, ließ ihn die Türkei nicht los. Er sorgte sich um die Zukunft seines Heimatlandes, hoffte, dass sein Land sich demokratischen Werten zuwenden würde und sah, wie es sich jeden Tag weiter davon entfernte.
In den 70er Jahren war Abidin Teil der Studentenbewegung, die die Türkei zu einem freien und demokratischen Land, in dem soziale Gerechtigkeit herrschte, gestalten wollte. Seine Aktivitäten als Oppositioneller führten dazu, dass er von einer rechtsextremen Miliz angeschossen wurde. Als er zu Boden fiel, trat einer seiner Angreifer nahe an ihn heran, um ihn mit sechs weiteren Kugeln aus nächster Nähe zu töten. Aber Abidin überlebte. Nach seiner Rekonvaleszenz nahm er den Kampf wieder auf, bis der Militärputsch am 12. September 1980 dem Traum einer ganzen Generation ein Ende setzte.
Ich wusste nicht viel über die politische Komplexität seines Landes. Von der Türkei hatte ich Bilder vor Augen vom Ufer des Bosporus, der Süße des Lebens im Schatten der Olivenbäume und den Düften des Orients. Die Türkei erschien mir als eine säkulare Nation mit einer vielfältigen Schönheit der Natur und einem faszinierenden kulturellen Reichtum.
2008, als Abidin und ich einander kennenlernten, war Erdogan Premierminister und die westliche Welt wollte in ihm den Mann sehen, der die Synthese zwischen Islam und Demokratie schaffen würde. Aber Abidin war sich besser als jeder andere der autoritären Tendenzen des türkischen Staates und des unvermeidlichen Rückschritts bewusst, den ein solches politisches Projekt bedeuten könnte. Er meinte: „Der politische Islam als solches ist ein Gesamtprojekt, das die Gesellschaft als Ganzes reguliert, und seine Anwendung in der Politik führt natürlich zu einem totalitären Staat.“ Er tobte gegen die Europäer*innen, die den Premierminister unterstützten, statt einer seit Jahren unterdrückten Opposition zu helfen.
Die Europäer*innen sind in die Falle der Islamisten geraten. Heute beobachten sie mit Erstaunen die autoritären Auswüchse der Türkei, die in ein Land mit ultraliberaler Wirtschaft umgewandelt wurde.
Die Europäer*innen sind in die Falle der Islamisten geraten. Heute beobachten sie mit Erstaunen die autoritären Auswüchse der Türkei, die in ein Land mit ultraliberaler Wirtschaft umgewandelt wurde. Einer Wirtschaft, die allein den Interessen einer dankbaren Oligarchie dient, deren Allmacht auf dem Einfluss des radikalen Islam beruht. Durch diese gestützt wähnt Erdogan sich in der Rolle eines internationalen spirituellen Führers. Sein religiöser Konservatismus ist zu einer starken Mobilisierungskraft geworden, und seine „neo-osmanische“ Außenpolitik eröffnet Einflussbereiche in den ehemaligen Gebieten des Osmanischen Reiches, insbesondere im Nahen Osten.
Für Abidin und seine damaligen Mitkämpfer*innen begann der Niedergang der Türkei nach dem Putsch vom 12. September 1980. Damals legte die Junta den Grundstein für den politischen Islam und bereitete den ideologischen Boden für einen Mann wie Erdogan. Dies ist nicht nur Abidins subjektives Gefühl. Türkische sowie Europäische Historiker*innen sind sich in diesem Punkt einig. Ich bin immer wieder erstaunt über die Ignoranz der Europäer*innen gegenüber den Ländern des Nahen Ostens, insbesondere der Türkei gegenüber. Ich nehme mich da nicht aus. Und das angesichts hunderttausender Türken, die unsere Mitbürger*innen oder Nachbar*innen geworden sind. Mir ist inzwischen klar geworden, wie wenig ich über das Leben meines Mannes, dieses ehemaligen „Revolutionärs“, wusste, obwohl wir bereits seit zehn Jahre verheiratet waren. Dieser Film hat mir die seltene und besondere Gelegenheit geboten, eine große europäische Geschichte durch die persönliche Lebensgeschichte Abidins zu erfahren und darzustellen.
So war es mein Wunsch, den Prozess zu verstehen, der die Türkei dahin gebracht hat, wo sie heute ist, und den Sinn in den Narben zu finden, die den Körper meines Mannes bedecken. Nach 45 Jahren der Ignoranz war es an der Zeit, die Fäden der großen Geschichte zu verbinden, das Schweigen zu Durchbrechen und zu diesem grundlegenden Ereignis zurückzublicken, das in Vergessenheit geraten war.
Nathalie Borgers