[…] Lange Zeit wurde der rassistische Anschlag eines 18-Jährigen am Olympia-Einkaufszentrum in München als Amoklauf rezipiert. Der Täter erschoss im Juli 2016 neun Jugendliche, verletzte fünf weitere und tötete sich dann selbst. Es starben Armela S., Can L., Choussein D., Dijamant „Dimo“ Z., Guiliano-Josef K., Janos Roberto R., Sabina S., Selçuk K. und Sevda D. Obgleich die rechtsextreme Gesinnung des Täters rasch bekannt wurde, bezeichneten die Staatsanwaltschaft und das Landeskriminalamt die Tat als Amoklauf und gaben vor allem Mobbing und eine psychische Erkrankung als Ursachen an. Im Abschlussbericht heißt es am 17. März 2017: „Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass er bei dem Amoklauf die einzelnen Opfer gezielt ausgewählt hat. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die Tat politisch motiviert war.“ Dabei ist auffällig, dass die Opfer wohl nach physischen Merkmalen ausgesucht wurden, die sie aus einer südosteuropäischen Herkunftsregion auswiesen. Im März 2018 jedoch stufte das Bundesamt für Justiz das Geschehen als extremistische Tat ein. Über den Täter, seine iranische Herkunft, seinen Hass und seine Sozialisierung in rechten Foren erfuhr die Öffentlichkeit mehr Details als über die neun Ermordeten.
In Cana Bilir-Meiers Film THIS MAKES ME WANT TO PREDICT THE PAST (2019) ist der Anschlag ein Ausgangspunkt, um sich den Lebenswelten, Träumen, Ängsten und Wünschen migrantischer Jugendlicher zu nähern. Diese Perspektive verweist einerseits zurück auf die ermordeten jungen Menschen, die am 22. Juli 2016 ums Leben kamen. Andererseits ist der Film auch ganz der Gegenwart und Zukunft von Jugendlichen verschrieben, deren Eltern oder Großeltern aus einem anderen Land nach München kamen. Bilir-Meier begleitete einige Jugendliche mit der Kamera auf ihren Wegen durch das Einkaufszentrum, widmete sich ihren Wünschen und Hoffnungen, ihren Alpträumen und Ängsten. Damit wird eine grundlegende Frage aufgeworfen: Wenn sich Xenophobie und Rassismus durch Hass auf Kollektive oder Gruppen nährt, wie lässt sich diesen die Stimme, das Gesicht, die individuelle Identität im öffentlichen Sprechen zurückgeben? Wie werden aus „den“ Migrant*innen, Muslim*innen, Geflüchteten und Opfern des Anschlags Individuen mit Namen, subjektiven Erinnerungen und Träumen?
Am Ort selbst arbeitete Cana Bilir-Meier mit der künstlerischen Methode der Frottage: Das Olympia-Einkaufszentrum wird von ihr durch das Auflegen von Papier und mit Kreiden abgerieben, erfasst, angeeignet. Diese Methode, die bereits in ihrem Projekt zur Freimann-Moschee zum Tragen kam, ist Teil einer künstlerisch „dichte[n] Beschreibung“ (Clifford Geertz), bei der die Forschenden sich selbst und ihre Methoden in die Interpretation aufnehmen.
Die Frottagen sind Abdrücke der Architektur und eines traumatischen Schauplatzes, der wie ein Vexierbild erscheint: zugleich ein Tatort und ein Ort, an dem sich junge Migrant*innen gern und häufig aufhalten (und deshalb im Umkehrschluss vermutlich auch das Ziel des Attentäters waren). Cana Bilir-Meiers Arbeiten fügen dem Zeitstrahl der deutschen Geschichte Daten hinzu, die nicht oder nur wenig im öffentlichen Bewusstsein stehen: Am 24.5.1982 verbrannte sich eine Frau türkischer Herkunft, um ein Zeichen gegen Ausländerhass zu setzen; auf den 6.10.1967 datiert die geplante Grundsteinlegung für die erste bayerische Moschee in München-Freimann und markiert den Bau eines Werks zweier türkischstämmiger Baukünstler der deutschen Nachkriegsmoderne; am 22.7.2016 wurden neun Jugendliche migrantischer Herkunft von einem vermutlich rechtsradikalen Täter erschossen. Diese drei Ereignisse sind nicht miteinander vergleichbar, sie verkörpern so unterschiedliche Themen wie Selbstverbrennung und Rassismus, den Anteil migrantischer Künstler*innen und Architekt*innen an der deutschen Architekturgeschichte, ein extremistisches Attentat und das Leben von Jugendlichen in Deutschland. In ihren künstlerischen Forschungen und den damit einhergehenden Arbeiten gelingt es Bilir-Meier, aus dem Kollektiven das Individuelle zu destillieren und – vice versa – in den konkreten Einzelerzählungen Geschichte in Erscheinung treten zu lassen. Jede Geschichtserzählung beinhaltet unweigerlich die Perspektive ihrer Urheber*innen, der Blick auf Zeiten und Ereignisse ist nie neutral, sondern die Perspektive aus einem lebendigem Auge. Zugleich wird in Cana Bilir-Meiers Arbeiten evident, dass Historiografien anfällig sind für Glättungen, Auslassungen und Angleichungen. […]
Cana Bilir-Meiers Werke haben nicht den Anspruch auf lexikalische Sachlichkeit. Sie verweigern eine Vogelschau auf ein Leben, Werk, Bauwerk oder Ereignis, der Blick bleibt fragmentiert und prismatisch und ist subjektiv geprägt. Damit bekennt sich Bilir-Meier zu einer Unüberschaubarkeit, zu einem Gehen auf wankendem Boden, einem zersplitterten Sprechen und Denken.
Burcu Dogramaci
Zitat aus: Burcu Dogramaci: „Migration künstlerisch erzählen: Erinnerung, Vergegenwärtigung und Widerstand in Arbeiten von Cana Bilir-Meier“, in: Bettina Steinbrügge, Tobias Peper (Hg.): Düşler Ülkesi, Leipzig: Spector Books, S. 79–86.
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