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Barbara Wurm: Vitaly, wir freuen uns, dich zum zweiten Mal bei der Berlinale begrüßen zu dürfen, nach EASTERN FRONT, der 2023 in Encounters lief. CHAS PIDLOTU läuft nun im Forum: ein so starker, wirkungsvoller wie zurückhaltender Film. Nach CLOSE RELATIONS (2016), zwei Jahre nach der Annexion der Krim fertiggestellt, und dem Film über die Front ist das dein dritter Film über die Ukraine, oder? 

Vitaly Mansky: Es ist der vierte: 2005 drehte ich noch NASHA RODINA, dessen internationaler Titel OUR HOMELAND bzw. GARGARIN’S PIONEERS lautete. Er war von Arte produziert und handelte von meiner Schule in L’viv, von der „Treue“ zum Vaterland, zur Partei, zu Lenin und so weiter. Ich reiste damals durch die ganze Welt und traf meine Klassenkameraden und wir sprachen so indirekt wie möglich über die Frage der Heimat – ich mag das überhaupt nicht, das direkte Sprechen. Der Blick auf die Ukraine fiel damals ziemlich kritisch aus, unter den Leuten gab es kein einheitliches Heimat-Gefühl. Die Frage der Heimat stand irgendwie nicht auf der Tagesordnung. Auch ich habe sie mir nicht gestellt. Ganz anders als heute. Damals lebte ich in einem kosmopolitischen Raum, aber seit dem Ausbruch des Krieges 2014 spürte ich ganz deutlich, dass ich eine Heimat hatte, die in Gefahr war. Es klingt nach Pathos, aber es ist ernst gemeint. Reale Gefühle. 

BW: Was war die Leitidee für CHAS PIDLOTU, der sich mit so viel Leid und emotional schweren Situationen auseinandersetzt? 

VM: Ich habe überlegt, welche Art von Raum ich darstellen will und entschied mich dafür, das aufzunehmen, was öffentlich zugänglich, also alltäglich ist. Keine professionellen, exklusiven Bilder. Es gibt diese Vorstellung von der Exklusivität im Krieg. Im Krieg gibt es Dinge, die man nicht sehen kann, aus welchen Gründen auch immer. In meinem Film passiert das, was du als emotionale Schwere bezeichnest quasi auf den Straßen, die ganze Stadt hat daran teil. Die Gespräche sind allen mehr oder weniger vertraut, alles ist präsent, es gibt keine klassischen Interviews mit Helden, alles ist wie nebenbei mitgehört. Darin liegt für mich die Stärke – auch die emotionale Stärke – des Films. 

Christiane Büchner: Ja, es ist ein kraftvoller Film, der sich auf die Frage zu konzentrieren scheint, welche Opfer der Krieg fordert. Du dokumentierst auch ein Gefühl der Aufruhr. Wie suchst du die Szenen und Protagonist*innen, durch die sich dieser Zustand ausdrückt? 

VM: Ich bin da etwas stur. Ich verstehe, dass man vom Kino einen bestimmt ausgewählten Kamerablick erwartet, aber ich wollte, dass das, was der Betrachter sieht, auch dem Alltag der Stadt entspricht. In L’viv finden jeden Tag Beerdigungen statt. Da gibt es Plätze, wo täglich jeder vorbeikommt, wo sich die jungen Leute treffen. Städtische Rituale, in der Nähe sind Schulen und Krankenhäuser. Ich wusste nicht, dass gegenüber dem Friedhof, den wir drehten, eine Geburtskrankenhaus ist. Ich erfuhr es per Zufall, als ich auf dem Friedhof von einer Frau angehalten wurde, die mich erkannte und die begann, über ihren Sohn zu sprechen, zu dessen Grab sie gekommen war. Sie streckte die Hand aus und sagte, „Vor 33 Jahren habe ich ihn in diesem Haus zur Welt gebracht.“ Ich verstand es zuerst gar nicht richtig. Alles in diesem Film ist aus dieser alltäglichen, absolut fantastischen, tragischen Realität gewoben. Die Straßenbahnen fahren durch die Straßen, die Leute gehen auf die Straßen, seit drei Jahren, tagein, tagaus, bei Schnee und Regen knien sie sich hin wenn getötete Soldaten zum Friedhof gefahren werden, und alles wird irgendwie Teil deines Alltags, deines Lebens, so wie du morgens aufstehst, dir die Haare kämmst und frühstückst. Routine. 

BW: Ein passendes Wort, das sowohl die Banalität als auch die Normalität und Alltäglichkeit widerspiegelt, eine Gewohnheit, die auch die Länge deines Films in gewisser Weise rechtfertigt, die Wiederholungen wie auch die Abweichungen, die erst in der Wiederholung zu Tage treten. 

VM: Natürlich ist Routine aber auch eine nicht so anziehende Definition für einen Film … Aber ich habe mir erlaubt, ihn so zu machen und damit zu arbeiten, also auch die Pragmatik des Alltags im Krieg zu berücksichtigen. 

CB: Es gibt auch Szenen, wo die Beobachtung irgendwie arrangiert ist, als Szene aufgelöst, anders als in anderen Fällen. Es gibt auch immer noch spektakuläre Momente im Film, doch erst in der Wiederholung und den Verschiebungen zeichnet sich das ab, was der Krieg ist und wie er alles verändert hat. Du zeigst den Prozess. Hast du diesen Film für ein bestimmtes Publikum gemacht? Etwa auch für eine Gesellschaft, die ganz andere Ansichten über diesen Krieg hat? Oder ist es ein Film aus Liebe zu den L’viv-Bewohner*innen? 

L’viv ist vielleicht die europäischste Stadt der Ukraine, und sie bietet auf diese Weise die Gelegenheit, den Krieg in seiner Präsenz, plötzlich, wie „zu Hause“ zu spüren. 

VM: Ich denke, dieser Film wird erst viele Jahre nach dem Ende des Kriegs seine Wichtigkeit entfalten. Wahrscheinlich werden die Menschen dann darin sehen, was sie erlebt haben. Eine Konzentration. So lange das ihr Alltag ist, werde ich keine Prognosen zu ihren emotionalen Reaktionen auf den Film abgeben. Ich habe den europäischen Zuschauer im Blick. Denn in vielerlei Hinsicht konzentriert sich das Bild des Krieges, das in den Medien vermittelt wird, auf die Frontlinie und auf Strukturen nach sowjetischem Design. So kommt es für den europäischen Zuschauer zu einer Distanz zwischen diesem Krieg und seinem Leben. L’viv ist vielleicht die europäischste Stadt der Ukraine, auch architektonisch, und sie bietet auf diese Weise die Gelegenheit, den Krieg in seiner Präsenz, plötzlich, wie „zu Hause“ zu spüren. Was hier stattfindet, ähnelt dem Alltag anderer Europäer, der Deutschen, Franzosen, Italiener, Balten. Es geht darum, darüber nachzudenken, welchen Anteil man, jede*r von uns, an diesem Krieg hat. 

CB: Die Länge dieses Films ist sehr wichtig. Ich sehe einen Staat, eine Gesellschaft von Menschen, die respektieren, was vor sich geht, und sie tun es immer und immer wieder. Sie gehen auf die Knie, das hat mich am meisten berührt, weil ich gemerkt habe, dass sich hier eine Gesellschaft zeigt, die es zulässt, den Menschen, die gekämpft haben, Dank zu erweisen. Ich habe versucht mir vorzustellen, wie das in Russland aussähe … 

VM: Man braucht Gelassenheit, um manche Dinge wahrzunehmen. Es ist ein Film ohne Interview-Modus. Bei diesem Film ist es so, als wäre ich mitten drin, würde in der Zeit leben, aber spürte nichts. Ich wollte diese Zeit ins Bild setzen, montieren und dabei nicht-montieren, sondern sie neu arrangieren. 

BW: Über das Sterben und den Tod aus russischer Perspektive willst du nichts sagen? 

VM: Das ist schwierig, weißt du, ich habe mein halbes Leben in Russland gelebt, und ich denke zum Beispiel nicht, dass dieser Film für ein russisches Publikum ist. Was die Toten und die Beerdigungen in Russland betrifft, so habe ich sogar, als der große Krieg begann, angefangen, in den sozialen Netzwerken Material zu sichten. Ich wollte keinen Film drehen, aber ich wollte sehen, wie das aussieht. Ich war überrascht, verängstigte Menschen zu sehen, Verwandte, Mütter, Ehefrauen, die Skrupel hatten, Trauer zu zeigen. Die Menschen, die den lokalen Fernsehsendern Interviews gaben, sind nicht im Zustand der Trauer, sie befinden sich im Zustand der Angst. Der Angst, das Falsche zu sagen. Es gibt also einen kolossalen Unterschied zu den Menschen, die ich zeige. Ein paarmal habe ich sogar versucht, russische Kameraleute zu Militärbegräbnissen in Russland zu schicken, aber sie wurden unfreundlich empfangen, es ging überhaupt nicht. In L’viv gibt es dieses Sich-Distanzieren von der Trauer der Menschen und dem Schicksal nicht. Ich sage es noch einmal: Da war und ist eine irre Gelassenheit. Ich sah etwa die verwundeten jungen Männer ohne Arme und Beine in dieser Gasse sitzen, es fiel mir nicht leicht, sie anzusprechen, aber sie sagten, „Komm, setz dich zu uns und trink was mit uns“, klar, ich will das im Bild nicht zeigen, dass sie trinken, weil es beim Militär verboten ist, aber sie waren ganz gelassen. Anders in Russland – ich erinnere mich an das letzte Mal, als ich in Russland war, als der Krieg eine Woche lang andauerte, ich nahm den letzten Zug von Helsinki, ich wollte fotografieren, aber habe es nicht geschafft, weil die Aggression dieser militärischen Masse von Spionen und Offizieren, die diesen Raum kontrollieren, ganz anders ist. 

BW: In Russland wolltest du für diesen Film also auch ursprünglich nie drehen? 

VM: Nein. Gott bewahre. 

BW: Wie kamst du zu deinen Protagonist*innen – dem Orchester zum Beispiel? 

VM: Als ich durch L’viv reiste, um den Film über die Ostfront zu drehen, fanden schon täglich Beerdigungen statt und ich sah diese Leute, die zu den Beerdigungen kamen, und wünschte mir, sie seien jemand aus meinem früheren Leben in L‘viv. Es waren immer andere Leute, aber immer dasselbe Orchester. Irgendwie wurden sie, selbst im Schweigen, zu einer Art Kern des Films; die Szenen entstehen durch ihre Präsenz, auch wenn sie keine Handlung vorantreiben. Nach den ersten Dreharbeiten fuhr ich nach Hause, nach Riga, und ich stand an der Grenze, 15 Stunden oder so, das war im Sommer 2023, und genau in dieser Nacht wurde ihr Orchester bombardiert.

CB: Du sagtest, die Ukraine dürfe diesen Krieg nicht verlieren. Das ist sozusagen die Schlussfolgerung. Hältst du es aber nicht für möglich, dass dieser Film anders verstanden werden könnte? 

VM: Das ist natürlich das Paradoxe daran, dass es unmöglich ist, diesen Krieg fortzusetzen. Wenn man es von der politischen Ebene auf die Ebene der Kunst überträgt, ist die stärkste Bedingung in der Kunst, dass man nicht reagiert, wenn es keine endgültige Lösung gibt. Doch das ist die Art einfacher Politik, die der neue Herrscher jetzt wahrscheinlich vorschlagen wird. 

BW: Du meinst, den neuen Herrscher über die Welt? Trump? 

Ich sehe meine Rolle eher darin, die Tragödie darzustellen als einen Vorschlag zu machen, wie ein Szenario für einen Ausweg aus dem Krieg aussehen könnte. Ich habe keinen. 

VM: Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Vielleicht wird für diejenigen, die in Büros weit weg von den Schützengräben sitzen, alles auf die bestmögliche Art und Weise ablaufen. Aber für die Menschen, die in der Ukraine leben, die ihre Angehörigen verloren haben – ich weiß nicht, was für sie besser oder richtiger ist, edler, ehrlicher, akzeptabler, fairer. Ich weiß es nicht. Im Film gibt es zwar eine thematische Linie aller Kriege, die durch L’viv vom Ersten Weltkrieg an gingen, die mit der Geschichte des Landes, auf dem der Militärfriedhof liegt, verknüpft ist, aber grundsätzlich sehe ich meine Rolle eher darin, die Tragödie darzustellen als einen Vorschlag zu machen, wie ein Szenario für einen Ausweg aus dem Krieg aussehen könnte. Ich habe keinen. 

BW: Gab es während der Dreharbeiten hierüber Auseinandersetzungen mit Leuten, die von dir eine bestimmte Ansicht vermittelt bekommen wollten – oder die Meinung vertraten, dass die Darstellung einer widersprüchlichen Realität nicht hilfreich wäre? 

VM: Oft verstehen die Leute nicht, was ein Dokumentarfilm ist, auch diejenigen, mit denen man einen macht – sie wissen nicht wirklich, was das Ergebnis sein wird. Deshalb war es wichtig, dass wir alle auf der gleichen Wellenlänge sind. Alle, die wir gefilmt haben, mit denen wir getrunken und gesprochen haben, alle vereinte der Wunsch nach dem Sieg der Ukraine, das ist unbestreitbar. Wenn ich gesagt hätte, wisst ihr, Jungs, es wird keinen Sieg geben und es wird eine andere Regierung kommen, wäre das ein schwieriges Gespräch geworden. Obwohl, wie man im Verlauf des Films versteht, die Menschen nicht nur ihre Einstellung ändern, sondern auch ihre Emotionen irgendwie gelöscht werden. Sie werden in gewisser Weise der Realität überdrüssig und von ihr niedergedrückt, als würden sie verstehen, dass das, wovon sie träumen, wahrscheinlich nicht mehr realisierbar ist. Aber nur wenige Menschen wollen offen darüber reden, auch wenn man unter sich ist, es ist ein sehr schmerzhaftes Thema für alle. 

BW: Es wird wohl auch daran liegen, dass Sieg für jeden etwas anderes bedeutet. 

VM: Ich erinnere mich noch sehr gut daran, als ich 2014 den Film CLOSE RELATIONS über meine Familie drehte, die in allen Teilen der Ukraine lebte, als der Krieg begann. Damals sprachen alle viel ungezwungener über mögliche Szenarien, denn für alle diese Szenarien wurde noch kein so hoher Preis bezahlt, wie er bis heute gezahlt wurde. Meine Nichte Anka pflegte zu sagen: „Lasst sie den Donbass nehmen! Die Krim – ein Jammer …“. Heute ist es Anka, die ein Haustier hat, einen Sohn, der bis zu seinem 15. Lebensjahr mit seiner Großmutter im selben Bett geschlafen hat – sie haben eine kleine Wohnung –, der nun schon seit drei Jahren im Krieg ist, vier Verwundungen hat, der entweder schweigt oder in einer Art absolut mörderischem Bass spricht. Drei Jahre schon ist er für Raketenwerfer zuständig, die die Russen zu zerstören versuchen, drei Jahre lebt Zhenya im Zeichen des Todes und seine Mutter und Großmutter gehen jede Nacht in der Angst zu Bett, dass am nächsten Morgen die Nachricht von seinem Tod kommt. 

CB: Wie bist du bei der Auswahl der Szenen und Orte vorgegangen? Kirchen, Bekannte usw. – waren das Fallstudien oder eher Stränge einer allgemeinen Idee? Was brauchst du, um diese Art von Stadtporträt zu machen? 

VM: Wie gesagt, ich bin durch meine Stadt gelaufen und habe Szenen beobachtet. Ich wohnte im Zentrum über meinem Lieblingscafé, in dem ich meine ganze Jugend verbracht habe. Ich habe ursprünglich Kamera studiert, habe aber für meine eigenen Filme nie eine Kamera in die Hand genommen, bis ich merkte, dass meine Kamera gebraucht wurde, und selbst wenn wir keine Drehtage hatten, bin ich einfach mit meiner Kamera durch die Stadt gelaufen und habe gefilmt. Und sagen wir mal so: Die Szenen sind sehr wichtig, nur ich bin ihnen begegnet. Als gegen Ende des Films diese Soldaten im armenischen Hof gedreht werden, da waren sie gerade dabei, Fotos für ihr Album zu machen, bevor sie an die Front geschickt wurden. Dort war ein Ausbildungszentrum, ich kam vorbei, und als die Kundgebung stattfand und der Luftangriff begann, sagten sie: „Verteilt euch, denn sie können es schaffen.“ Ich war nur mit meiner Kamera unterwegs. Es gibt eine Menge völlig ungeplanter Momente im Film. z.B. die Szene mit der Schießbude und dem Typen, der da jeden Tag hinkommt – dieses Bild von Putin, das habe ich am 1. September gesehen, weil wir es in der Schule gefilmt haben. Warum in der Schule? Die Fenster der Schule blicken wirklich auf diese Ecke des Friedhofs, wo sie jeden Tag die Jungs hinbringen. Wir sind also in dieser Schule und das Bildnis war dort und ich habe es zum ersten Mal gesehen, nachher nie wieder. 

BW: Wie lange hast du insgesamt gefilmt? Wie oft warst du dort? 

VM: Sechs Mal, in der Regel jeweils drei Wochen. Ich habe sehr lange gebraucht.

BW: Gelegenheit dazu, mit deinen Protagonist*innen offen zu sprechen, zu zeigen, was sie denken, was sie sagen. Du zeigst kritisch und genau die Entwicklung in der ukrainischen Gesellschaft, die die Folge dieses Krieges sind. War das umstritten? 

Wenn dieser Film einen Nutzen hat, dann den, dass er eine Art Zeitkapsel ist, d.h. ein Bild, ein Ziegelstein, den du in diese Wand steckst und der dann eines Tages seziert wird. 

VM: Für mich nicht. Auf der einen Seite spüre ich ein sehr starkes Engagement bei mir – das ist mein Heimatland. Auf der anderen Seite habe ich diese Erfahrung, nicht in L’viv zu leben und von außen auf die Stadt zu schauen. Mir scheint, dass ich mir Nüchternheit wünsche, bei all meiner Liebe für die Stadt: Ich verspüre für jeden, der auch nur als Schatten im Bild vorbeizieht, immer noch bestimmte Aspekte, die ich kritisch oder zweideutig wahrnehme oder von denen ich möchte, dass sie gesehen werden. Ich bin sogar sicher, dass jemand, der nicht wie ich aus der Ukraine kommt und in der Ukraine lebt, nicht in der Lage wäre, sie zu sehen, weil er sie nicht „sehen“ würde. Mir scheint es sehr wichtig, diese Zeit, diesen Schmerz, diese Verwirrung und Sammlung und diese Bandbreite an sich gegenseitig ausschließenden Gefühlen am Vorabend einer gewissen Ungewissheit einzufangen. Wenn dieser Film einen Nutzen hat, dann den, dass er eine Art Zeitkapsel ist, d.h. ein Bild, ein Ziegelstein, den du in diese Wand steckst und der dann eines Tages seziert wird, d.h. er ist sehr wichtig für die Zukunft, ich weiß nicht, wie wichtig er für heute ist. Wir brauchen kein abgeflachtes Kino.

CB: Hat sich die Ukraine als Gesellschaft verändert? 

VM: Erinnern wir uns an diesen Soldaten ohne Beine, der auf einer Bank sitzt und sagt, dass die Ukraine nie unabhängig war: In gewisser Weise spiegelt das das innere Gefühl eines Menschen wider, dass die Ukraine erst jetzt, in dieser äußersten Tragödie, beginnt, sich unabhängig zu fühlen und erst jetzt der Beginn des Aufbaus eines globalen Verständnisses von Gesellschaft, Staat, Heimat, Kultur spürbar wird. Dr Preis, der dafür gezahlt wurde, ist unglaublich, aber vielleicht hätte es ohne diesen Preis gar keine Situation gegeben, in der dieses Thema aufgekommen wäre. Wenn man mich vor dem Krieg nach der Ukraine gefragt hat, habe ich die Ukraine nicht als meine Heimat empfunden. Ich bin dort geboren, das ist alles. Sogar für mich ist sie zu meiner Heimat geworden, weil sie etwas Klares, Greifbares, Artikuliertes geworden ist und für die Menschen, die dort leben und ihr Leben lassen, ist das absolut offensichtlich. 

BW: Vielleicht ist das ein Gefühl und ein starkes Gefühl, das dein Film vermittelt, mit dem wir an dieser Stelle aufhören können. 

VM: Ich beobachte all die internen ukrainischen Prozesse; das ist so wichtig. Meine nächste Station wird Odesa sein.

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