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Barbara Wurm: Ich freue mich sehr, Elmar, dass Dein so strenger, poetischer und überaus einfallsreicher Film, ein Film der anderen Realitäten, wenn man so will, im Forum seine Premiere feiern wird. DER KUSS DES GRASHÜPFERS – was ist das für ein Titel, wo kommt er her?

Elmar Imanov: Ganz lange war der Arbeitstitel RASTLOS, weil das das Gefühl war, mit dem ich angefangen habe zu schreiben. Immer wenn ich etwas Neues schreibe, oder wenn der Film entsteht, kommen verschiedene Gründe, Gedanken oder Inspirationen mit Stil, Sprache, Farbe und so weiter zusammen. Das entwickelt sich quasi wie ein Organismus. Wie ein Kind, das schon eine Haarfarbe hat – man weiß zwar noch nicht, ob es noch lockig wird, aber man weiß, es wird diese Haarfarbe haben. Nachdem mein Vater an Lungenkrebs gestorben ist – für mich war es das erste Mal, dass ich so einen Verlust erlebt habe – habe ich drei Monate später für sechs Wochen eine Wohnung in Berlin gemietet, die ziemlich dunkel war. Da habe ich jeden Abend das ganze Licht ausgemacht und saß vor meinem Laptop, vor einem leeren Dokument. Ich wusste nicht, wohin es gehen sollte. Es war nur ein Gefühl da, das ich wahrscheinlich mein Leben lang hatte, das sich aber in dieser Zeit potenziert hat. Diese Rastlosigkeit, die ich nicht stillen konnte. Und ich dachte damals, dass das der richtige Titel wäre für diesen Film. Dann kam es anders. Ein Kuss ist etwas, das einen Menschen verändern kann. Hier ist es eine Verabschiedung – von sich selbst, einem früheren Ich, da man nie wieder so sein wird, wie man bisher war, wenn man einen Elternteil verliert. Der Kuss begrüßt die Veränderung, wenn man ahnt, dass man dabei ist, sich zu häuten wie eine Schlange, und dann eine neue Haut bekommt. Ich dachte mir, dass dieser Titel das symbolisiert, denn der Film ist ja nicht nur düster, es gibt auch ein bisschen Slapstick, Komik und Poesie. Und Schönes, wie bei einem Kuss. Es ist poetischer als RASTLOS. Nicht so absolutistisch.

Eva Blondiau: Es war wahnsinnig schwierig für uns, einen Titel zu finden, der den Film greifen oder zusammenzufassen konnte. Wir haben mit diesem Film, ausgehend von dem Gefühl, das Elmar beschrieben hat, eine Reise gemacht. Es geht um Trauer. Trauerverarbeitung. Dann eher um Einsamkeit. Dann ging es darum, erwachsen zu werden – und dass man erst wirklich erwachsen wird, wenn man keine Eltern mehr hat und sich von den Dingen, die einem die Eltern mitgegeben haben, löst, darüber hinauswächst und seine eigene Welt definiert.

Christiane Büchner: Ich fand faszinierend, dass der Film so unheimlich viele verschiedene Zustände hat. Da gibt es Einflüsse von Köln, etwas Sowjetisches, etwas deutschen Stummfilm, aber auch Tatort, Fernsehserien. Es ist unglaublich, was der Film alles zusammenbringt und ich wüsste gerne mehr darüber.

EI: Normalerweise rede ich nicht gern über den Inhalt, über die Bedeutung meiner Filme. Aber ich denke, bei diesem Film muss ich. Sonst gibt es gar keinen Dialog mit dem Zuschauer. Wir hatten zum Beispiel dieses Footage von Euronews mit den fallenden Vögeln. Das habe ich als Schüler gesehen, und es hat mich total fasziniert: „Wow, das ist echt? Gibt es diese unerklärliche Gewalt, die um einen herum ist?“ Dann haben wir nach Material gesucht, um diese andere Realität darzustellen, die veränderte Traumvergangenheit des Vaters. In den Archiven des WDR, die den Film koproduziert haben, gab es verschiedene Reportagen und ich bin bei einer hängen geblieben – einer Reportage über Ruhestörung. Ruhestörung durch Vögel, die sich in der Nähe der Menschen sammeln und nisten. Sie war so poetisch gedreht, so unheimlich und mystisch. Mitten in dieser Reportage gibt es den Satz: „Und jetzt bricht die Nacht ein.“ Und eine Minute lang schweigt der Sprecher. Da würde man heutzutage sagen: „Bist du verrückt, das kann man so nicht senden.“ Ich dachte: „Okay, das korrespondiert mit dem ganzen Film.“

Wir haben nur dann die Möglichkeit, Kind zu sein, wenn unsere Eltern noch leben. Wenn sie sterben, wird die Kindheit zur Erinnerung.

CB: Und das Sowjetische? Die Kindheit?

EI: Ja, das Sowjetische, die Puppe… Mein Hintergrund und der von Lenn Kudrjawizki, der den Bernard spielt, sind ähnlich. Wir wurden beide in der Sowjetunion geboren und auch er hat früh seinen Vater verloren, und seinen Onkel, der mit meinem Vater eng befreundet war. Die Puppe erinnerte mich an meine Kindheit. Wir hatten Anfang der 90er-Jahre kein Geld, deshalb habe ich mit den Resten gespielt, die da waren. Genau so eine Puppe hatte jedes Kind in der Sowjetunion. Meiner fehlte die untere Hälfte des Körpers und trotzdem glotzte sie so insistierend glücklich. Und in der Szene mit dem Müllwagen stirbt diese Puppe dann in seinen Händen. Wir haben nur dann die Möglichkeit, Kind zu sein, wenn unsere Eltern noch leben. Geschwister geben dir nicht dieses Gefühl. Nur Eltern, egal, wie alt sie sind. Aber wenn sie sterben, dann wird die Kindheit zur Erinnerung, und die kann man nicht wirklich leben. Das wollte ich zeigen – dass die Kindheit ihm mit der Krankheit des Vaters aus den Händen gleitet.

CB: Und der Tatort?

EI: Ich glaube, wenn man irgendwo in Deutschland einen Film macht, dann kommt die Fernsehserie Tatort immer irgendwie um die Ecke, entweder durch ein Polizeirevier oder allein schon durch die Ästhetik der Architektur in Deutschland. Das kann man nicht vermeiden. Als wir über das Szenenbild gesprochen haben, fragten wir uns: „Wie gestalten wir diese Polizeisache und die ganze kriminelle Linie?“ – „Okay, die Kostüme müssen sitzen!“ Und dann haben wir entschieden, dass wir es im Stil der 90er-Jahre drehen. Also eine richtige Hommage.

BW: Wann hast Du begonnen, an diesem Projekt zu arbeiten?

EI: Das Drehbuch habe ich 2016 geschrieben.

BW: Du hast damit angefangen und es dann zwischendurch beiseitegelegt?

EI: Ich arbeite an jedem Projekt anders. Als ich vor der leeren Seite in der Wohnung in Berlin saß, dachte ich mir, okay, da ist ein Gefühl… Das Drehbuch muss aus diesem Gefühl kommen und nicht aus einer Idee, von einem Plot oder so. Und dann habe ich angefangen zu schreiben, habe die 85 Seiten geschrieben und kein Mal die Augen nach oben bewegt. Ich habe das Drehbuch in sechs Wochen geschrieben und mir dann eine längere Auszeit gegönnt, bevor ich zum Text zurückgekehrt bin. Ich dachte: „Okay, es wird bestimmt lange dauern, das Projekt zu finanzieren. Und ich will, dass ich dieses Gefühl behalte, aus dem es entstanden ist.“ Ich wusste, es wird nie alt, weil es um etwas geht, das zeitlos ist. Ich wusste, ich werde mich auch verändern in der Zeit, meine Perspektive auf bestimmte Dinge wird sich verändern. Also habe ich gesagt, ich arbeite in größeren Abständen und dann konzentriert daran.

BW: Das ist interessant, weil was du beschreibst, ist der Zeitlichkeit und Außerzeitlichkeit dieses Films durchaus ähnlich, der immer ein bisschen den Plot weiterspinnt und dann aber ganz wunderbare Abzweigungen findet, die dann eigentlich zum Kern des Films werden. Das sind Bildwelten, irgendwo zwischen Erinnerung oder Traum.

EI: Gut, dass du das sagst, es ist eine Art experimentellere Dramaturgie, eine doppelte Dramaturgie. Es gibt die narrative Ebene: Der Vater wird geschlagen, dann kriegt er die Diagnose, stirbt er oder stirbt er nicht? Das ist eine Dramaturgie, die reicht ja eigentlich schon. Aber es geht eigentlich viel mehr um die Dramaturgie, die darunter liegt. Ein bisschen wie bei dem Film LA DOLCE VITA. Den habe ich immer als Beispiel genommen. Dass du jemandem folgst, und zeigst, wie er in einer bestimmten Phase seines Lebens lebt. Bernard hat eine Freundin, dann muss er zu seinem Vater, dann geht er in eine Bar, dann hat er ein Problem mit sich selbst und so weiter. Es ist so ein „ride“ durch die Gesellschaft, aber gleichzeitig durch seine Emotionen, durch die Vergangenheit.

Während der Arbeit an diesem Film war es so, dass jedes Gewerk stets etwas neu erfinden musste. Sie konnten das, was sie schon mal gemacht haben, nicht anwenden.

CB: Kannst du etwas über die Bildgestaltung erzählen? Denn auch da setzt der Film ja immer wieder neu an. Dass er dieses Schwanken reinholt über Kamerabewegungen, die sehr klar gesetzt sind und die dann aber wieder verschwinden, und sich nie wiederholen.

EI: Irgendwann am Anfang habe ich Borris Kehl, dem einzigartigen Kameramann und Menschen, gesagt: „Du hast alle Freiheiten“. Wir haben natürlich festgelegt, wie das Licht sein soll, wie hell, dunkel, die Farbpalette. Aber während der Arbeit an diesem Film war es so, dass jedes Gewerk stets etwas neu erfinden musste. Sie konnten das, was sie schon mal gemacht haben, nicht anwenden. Weder die Effekte, noch das Szenenbild, noch die Kamera. Sogar die Schauspieler. Und ich mag das. Für Szenen, in denen es darum geht, Dinge zu verstehen, gab es ein dramaturgisches Konzept: Wenn jemand etwas sagt, Dialoge stattfinden, wenn der Plot weitergeht oder Beziehungen erklärt werden, dann darf die Kamera nicht ablenken, sondern muss so klassisch sein, wie es nur geht. Schuss, Gegenschuss, vielleicht eine nahe Einstellung. Aber wenn wir freier weitergehen im Film, dann ist alles möglich.

BW: Der Tatort stellt schön die Herausforderung dieses Films an Zuschauer*innen in einem Festival dar, die dann etwas sehen, bei dem sie eben an Fernseherfahrungen denken, aber keine kriegen. Der Film macht es sich auch ästhetisch nicht leicht, indem er irgendwelche Abstraktionsebenen sucht, sondern geht mitten rein in ein klassisches Filmkerngeschäft. Ich fand hierbei die Arbeit mit den Schauspieler*innen absolut herausragend und zentral, gerade weil man sie auch aus dem TV- und Serienkontext kennt. Wie hast du konkret mit ihnen gearbeitet?

EI: Ich hatte Glück, dass ich sie gefunden habe. Bei jedem Film ist die Arbeit mit den Schauspielern anders. Meine früheren Filme habe ich mit den Schauspielern improvisiert. Bei END OF SEASON zum Beispiel wussten wir bei Drehbeginn nicht, wie der Film enden wird. Beim KUSS DES GRASHÜPFERS war es so, dass die Sprache eine zentrale Bedeutung bekommen hat, dass eine bestimmte Melodie entstand, in dem, was ich geschrieben habe und wie die Schauspieler es interpretiert haben. Meistens geben wir unseren Filmen eine englischsprachige Identität, damit die Leute wissen, das ist für alle gedacht, der Film ist nicht lokal. Hier war mir aber wichtig, dass es in den Credits alle Äs und Üs der deutschen Sprache gibt. Es war uns wichtig, zu sagen, dass es ein deutscher Film ist.

BW: Trotzdem ist es eine sehr internationale Produktion. Waren jemals zuvor so viele Georgier*innen an einem deutschen Film beteiligt?

EB: Der Film war von Anfang an eine deutsch-italienisch-luxemburgische Co-Produktion. Wir haben die Hälfte des Drehs in Georgien gemacht, weil wir den Film über Jahre finanziert haben, in denen alle Preise enorm stiegen. Wir haben vor der Pandemie angefangen, und waren am Ende sehr unter Zeitdruck, sodass wir auch gar nicht das Budget anpassen konnten an das, was der Film eigentlich an finanziellen Mitteln gebraucht hätte. Und das war dann unsere Lösung, wie wir mit einem eigentlich zu kleinen Budget trotzdem den Film machen konnten, den wir wollten. Elmar und mir ist das total entgegengekommen, weil wir schon viele Filme in Georgien gedreht haben, aber noch keinen in Deutschland gemacht hatten. Insofern waren wir froh, dass wir dort mit Leuten zusammenarbeiten konnten, die wir schon kannten. Das hat einen entscheidenden Einfluss auf den Film genommen, da waren wirklich kreative Künstler dabei, die alles Mögliche eingebracht haben.

EI: Und in Georgien sind die besten Leute alle jung, zwischen 20 und 35, unüblich in einer Filmindustrie. Die haben sich die Industrie nach dem Zusammenbruch selbst wieder aufgebaut. Die Leute dort können unglaubliche Sachen… zum Beispiel die Szenen in der Bahn. Ich meinte: „Okay, wir brauchen einen Zug.“ Und sie haben gesagt: „Wir finden einen Zug.“ Und haben mir einen total kaputten sowjetischen U-Bahnwagen gezeigt. „Wir machen dir das!“ Und dann haben sie den Zug komplett neu gemacht, für die lange Einstellung am Ende einfach eine Seite von dem Zug abgesägt und eine Seil-Konstruktion für die Kamera erfunden. Die Szene ist ganz grau und metallisch und die Leute haben alle graue Sachen an. Man denkt immer, das ist ein Filter. Für einen solchen Effekt müsste man normalerweise noch mal zwei Millionen haben. Aber diese Leute wussten, dass sie das alles können.

CB: Ich hätte noch eine Frage zu ‚The Face‘ – eine Figur, die es als Auslöser braucht. Aber der Mann taucht ja auch schon früher auf. Der ist unangenehm, irgendwie eine Gefahr. Was ist das für eine Figur?

So ist die Figur: Man will ihn akzeptieren, aber er ist auch ein bisschen böse. Du willst es akzeptieren, das ist das Leben, aber es ist auch böse – so eine Krankheit und überhaupt der Tod. Es ist ja nicht romantisierend gedacht.

EI: ‚The Face‘ war früher im Drehbuch lange eine ganz andere Figur. Als wir zusammen das Konzept gemacht haben, haben die georgischen Szenenbildner Mariam Iakobashvili und Giorgi Karalashvili irgendwann so ein Gesicht gemalt, ein bisschen Francis Bacon-artig, „nur so als Anregung“. Und ich dachte: „Ja. Genau das ist der Charakter. Das ist ‚The Face‘.“ Als dann die Kostümbildnerin mich nach seiner Kleidung gefragt hat, wussten wir sofort die Antwort: Der zieht das Unauffälligste an, das es gibt, denn er ist schon auffällig. Also einerseits ist es eine echte Person, wie es sie in jeder Großstadt, in jedem Viertel gibt. Jemand, der ein bisschen entstellt ist… diese Typen, die überall sind, aber die man nie bemerkt. Wenn zum Beispiel vor dem Kiosk eine Gruppe steht, Bier trinkt und redet, steht irgendwo daneben so ein Typ – immer. Der steht da und gehört irgendwie dazu, aber redet nie. Der lacht mit, wenn alle lachen und hat einen Kapuzenpulli an. Gleichzeitig war ‚The Face‘ für mich auch immer der Krebs. ‚The Face‘ ist der Auslöser, der Schlag und auch der Tumor, der kann ja auch so etwas wie Zähne und Haare entwickeln. Als wir dann am Schneidetisch saßen, habe ich Beppe Leonetti (Editor) gesagt: „Da gibt es doch ‚The Face‘ in der Bahn und der fährt den Zug. Das kann man so interpretieren, dass er den Lebenszug in den Tod steuert. Aber was macht er da? Er ist wie eine Metastase, an einem Ort, wo man ihn nicht erwartet, wo er nicht hingehört. Er muss genauso zufällig und unerwartet auftauchen wie Metastasen. Den Fluss des Films stören.“ Man vergisst ihn und geht weiter. Rasim Jafarov hat ihn gespielt, ein hervorragender Schauspieler. Er hat mich gefragt: „Was ist das für ein Typ?“ Und ich habe gesagt: „Man muss schon Angst vor ihm haben. Also manchmal, wenn er so komisch guckt. Aber er muss auch selbst ängstlich sein.“ Und so ist er: Man will ihn akzeptieren, aber er ist auch ein bisschen böse. Du willst es akzeptieren, das ist das Leben, aber es ist auch böse – so eine Krankheit und überhaupt der Tod. Es ist ja nicht romantisierend gedacht.

BW: Auf welcher Ebene hast du dich mit Männlichkeit beschäftigt? Sind das für dich gebrochene Männlichkeiten oder sind das Kategorien, die für dich gar keine Rolle gespielt haben?

EI: Ja, doch. Wir haben immer mal wieder darüber gesprochen, im Prozess der Finanzierung. Man schreibt ja immer wieder Texte, muss sich erklären. Mir war wichtig, dass man keinen einfachen Charakter erzählt, sondern eine Figur, die selber im Film lebt. Bernard weiß selbst nicht, wer er ist. Deswegen ist er auch immer anders. Es hängt davon ab, wo er ist. Wenn er zum Beispiel unter Leuten ist, ist er sehr streng und provokativ, weil er weiß, die Gesellschaft akzeptiert ihn nicht. Zumindest tut er so. Aber dann gibt es mit dem Vater (Michael Hanemann) eine Art Körperlichkeit, eine Nähe, eine stumme Liebe. Irgendwann sagt er das sogar: fürsorgliche Distanz, kühle Geborgenheit. Und mit Agata (Sophie Mousel) ist es dann so, dass sie wie ein Magnet ist, er kann nicht ohne sie. Eine On-Off-Beziehung. Mir war es wichtig, immer auch seine Verletzlichkeit zu zeigen. Vor allem wenn er allein ist. Er kommt nicht mit sich selbst zurecht, versucht, sich zu beschäftigen, arbeitet an dieser Maschine. Sie ist wie ein Selbstmordgedanke, der sich materialisiert. Eine andere Realität, in der er versucht, seine Schrauben in Ordnung zu bringen und wenigstens damit zu fliegen – enjoy the sadness.

BW: Eine meiner Lieblingsszenen ist die mit dem ‚anderen‘ Carlos, oder vielleicht ja demselben Carlos, dem Vater (nur in jünger) – das weiß man nicht so genau, ich weiß auch nicht, wie wichtig das ist in diesem Film, der so zwischen Realismus, Symbolismus, dem Magischen oszilliert.

EI: Ja, dieser Carlos ist sowohl ein realer Nachbar, als auch ein Weg. Wenn man durch diesen Korridor geht, sieht man, dass die Tapeten immer mehr abfallen und irgendwann Kindersachen herumstehen. Bernard geht quasi graduell in die Vergangenheit zu dem Nachbarn, aber auch in die Vergangenheit seines Vaters. Und man erlebt den Vater mit seiner Mutter. Das ist das Thema der transgenerationalen Traumatisierung. Dann kommt er hin, aber der Vater sieht ganz anders aus, weil es im Traum immer diesen Zensor gibt, der Dinge anders aussehen lässt – eigentlich stehen sie für etwas Bestimmtes, aber damit du es nicht erkennst, wird es verändert. Es gibt verschiedene Ebenen dieser Szene. Es ist auch ein Dialog zwischen Beseeltem und Unbeseeltem. In dieser Szene mit dem Parcours von Carlos – oder dem Tanz – war mir wichtig, dass es echt aussieht, dass man spürt, dass es Möbel sind, über die er geht… es gibt diesen einen Moment, als er sich an dem Gemälde entlang hangelt, wo man denkt: „Das ist nicht real, da muss er fallen. Das kann er nicht. Das kann nicht sein.“ Wenn man alle Dinge fühlen kann, die um einen herum sind, also das Gemälde, den Tisch, wenn man selber einfach alles anfassen würde, dann würde man sich direkt viel wohler fühlen in einem fremden Raum. Und das macht Carlos quasi für Bernard und entspannt ihn dadurch. Er sagt: „Guck mal, du bist hier sicher, das ist alles deins“.

CB: Könntest Du noch etwas zur Musik sagen?

EI: Die Musik kam irgendwie von selbst. Ich glaube, ich habe sie in einem Café in Istanbul gehört und sie dann irgendwo gespeichert. So wie es zusammengekommen ist, hätte ich das jetzt nicht bauen können. Das war irgendwie unterbewusst.

BW: Die Musik in der Tanzszene von Carlos ist großartig und sitzt so gut, wie die Szene selbst im Film sitzt. Es ist eine Erlösungsumarmung, die diesen verunsicherten Menschen, Bernard, plötzlich wieder zurückholt in eine Gemeinschaftlichkeit. Eine wahnsinnig berührende Szene, wie oft habt ihr sie gedreht?

EI: Ich glaube, das war gar nicht so kompliziert. Das Komplizierteste war, in der alten Wohnung dieses Gemälde festzuschrauben, denn die Wände waren so morsch. Aber wir haben die Szene geübt. Mir war wichtig, dass das jemand macht, der Parcours kann, aber der auch einen ästhetischen Sinn hat. Gott sei Dank haben wir dann Felix Schnabel gefunden, der eigentlich Tänzer ist, und sehr athletisch und geübt. Dann kam er da hin, super professionell, hat gesagt: „Hält das?“ Und dann: „Okay, ich brauche zehn Minuten.“ Ich glaube, wir haben zwei Takes gedreht. Er hatte alles vorher im Kopf choreografiert. Das war wichtig, damit es diese körperliche Sicherheit ausstrahlt.

BW: Zwischen formaler Sicherheit und menschlicher Unsicherheit, das ist schön – da bewegt sich dieser Film. Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch, Elmar, das …

CB: …. dem Film seine Geheimnisse nicht abgeluchst hat. Mehr noch: Es wurden jetzt noch mehr Spuren gelegt, neue inhaltliche Fäden, über die es sich lohnt nachzudenken.

El und EB: Wir danken euch.

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