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Das Alltägliche war schon immer politisch und wird es auch bleiben, insbesondere wenn man untrennbar Teil des urbanen (und sehr politischen) Umfelds von Tbilissi ist. Als ich mit der Arbeit an meinem Dokumentarfilm begann, begab ich mich auf eine introspektive Reise und fertigte eine visuelle Erzählung von zwei Freunden an, die in der urbanen Umgebung von Tbilissi leben. Die Geschichte erforscht ihre individuellen und gemeinsamen Erfahrungen und beleuchtet die emotionalen Veränderungen, die alle jungen Erwachsenen durchleben. Mit meiner Kamera in der Hand wurde ich zur dritten Protagonistin im Film. Mit einem subjektiven, handgeführten Filmstil folgte ich Tina und Luka auf Schritt und Tritt: zu Hause, auf der Straße, an der Universität. Im Laufe dieses Prozesses wurde die Kamera mehr als nur ein Werkzeug. Sie wurde zu einer weiteren Protagonistin in der Geschichte, sowohl getrennt von mir als auch eine untrennbare Erweiterung meiner selbst.

Mein Hauptinteresse als Filmemacherin lag in der Beobachtung eines Schwebezustands, des „Limbo“, und dem Versuch, ihn zu durchbrechen. Außerdem wollte ich meinen eigenen emotionalen Zustand während einer sehr selbstreflexiven Lebensphase aus der Distanz betrachten. Erinnerung und Transformation sind die beiden Themen, die mich aktuell am meisten faszinieren, und ich entschied, sie mit dem Film zu verbinden. Ich fing an, meinen Alltag festzuhalten und meine Freunde durch die Linse meiner Kamera neu zu entdecken.

Am 8. April 2024 diskutierte das georgische Parlament während einer Sitzung des Parlamentspräsidiums den Gesetzesentwurf mit dem Titel „Über die Transparenz ausländischer Einflussnahme“. Am 12. April begann der Rechtsausschuss mit der Arbeit an diesem sogenannten „Ausländische Agenten“-Gesetz. Bald darauf kam es zu groß angelegten Protesten und Demonstrationen gegen das „russisches Gesetz“, die zu einem untrennbaren Bestandteil unseres täglichen Lebens wurden. Der ruhige, alltägliche Rhythmus des Lebens wurde plötzlich durch einen Prozess unterbrochen, in den wir unfreiwillig hineingezogen wurden.

Eine politische Krise beginnt und du erkennst, dass sich der politische Kurs deines Landes radikal ändert.

Routinen werden zerschlagen, und die Umgebung versetzt dich in einen Schockzustand. Die Verpflichtungen, die früher Priorität hatten, treten nun in den Hintergrund. All dies entfaltet sich, während du erkennst, dass deine Zukunft in Gefahr ist. Eine politische Krise beginnt und du erkennst, dass sich der politische Kurs deines Landes radikal ändert. Du findest dich in einem gewaltigen, kollektiven Kampf wieder, in dem du für eine bessere Zukunft deines Landes kämpfst. Allmählich wird es zur neuen Normalität, stundenlang vor dem Parlament zu stehen, Tränengas einzuatmen und mit der ständigen Enttäuschung fertig zu werden. Dieser Prozess wird zur Routine, zu deiner Hauptaufgabe.

Natürlich wurden diese Ereignisse zu einem untrennbaren Teil des Films. Zusammen mit Tina, Luka und meiner Kamera nahm ich an den Protesten teil und der narrative Fokus des Films verlagerte sich auf die plötzlich veränderte politische Landschaft im Land. Das Demonstrieren wurde zu einem grundlegenden Teil unseres Alltags – eine Routine, an die wir uns schließlich gewöhnten. Es übertraf bei Weitem alles, was wir je zuvor erlebt hatten, auch wenn ein permanenter Protestzustand für uns nichts Neues war.

Die Autoethnografie wurde zu meiner wichtigsten Methode und zur Erzählform, die ich während des Filmemachens wählte. Ich beobachtete eine Realität, die mir zutiefst vertraut war: die Menschen und die Umgebung, die ich so gut kannte. Durch die Linse der Kamera begann ich, Erinnerung und Veränderung aus meiner eigenen Perspektive zu verkörpern, zu bewahren und zu untersuchen. Die Kamera verwandelte sich in eine Mitstreiterin, die gemeinsam mit mir beobachtete. Sie wurde auch zu einer Beobachterin meiner selbst als dritte Protagonistin des Films. In gewisser Weise entwickelte sich der Film sowohl zu einem Porträt von Tina und Luka als auch zu einem autobiografischen Selbstporträt.

Während des Kampfes gegen repressive Kräfte wurde mir klar, dass ich eine Waffe hielt, die mächtiger war als jede andere: die Kamera.

Mit der Kamera in der Hand hatte ich die Macht, einen Moment einzufangen und ihn zu kontrollieren. Ich konnte ein Ereignis oder eine Person in etwas Greifbares, Physisches verwandeln. Ich wurde zu ihrer Besitzerin und konnte entscheiden, wie ich sie neu interpretieren wollte. Während des physischen und emotionalen Kampfes gegen repressive Kräfte wurde mir klar, dass ich eine Waffe hielt, die mächtiger war als jede andere. Es war eine Waffe, die von allen gefürchtet wurde, eine, die die Leute instinktiv mieden. Ich hielt eine Kamera in der Hand – ein Instrument, das reale Ereignisse genau so einfängt, wie sie sind. Sie hält Gewalt, Ungerechtigkeit, Lügen, Angst und Triumph genau so fest, wie sie wirklich sind. In einem entscheidenden Moment wusste ich, dass ich mit meinem Presseausweis in der Hand eine stärkere Frau sein konnte als ein maskierter Polizist mit Gewalt in den Händen.

Ich fand mich selbst in meiner Stadt widergespiegelt, in meinen Freunden und an meinen Lieblingsorten. Ich glich mich an die Kamera an, kämpfte mit ihrer Hilfe und ließ mich von ihr beschützen. Meine Protagonist*innen haben durch ihre Beteiligung an den politischen Veränderungen in Tbilissi ein kollektives Bild und Gesicht für alle jungen Menschen geschaffen, die sich in diesem Prozess engagieren, mich eingeschlossen. Meine kleine Gruppe von Freunden zeigte sich als politisch sehr engagiert. Die persönlichen Geschichten von Tina und Luka bekamen eine öffentliche und politische Bedeutung. Wir machten gemeinsam Erfahrungen und gewöhnten uns an die Umstände. Autoethnografie wurde zu einer Praxis der Anpassung – eine Möglichkeit, sich an die Rhythmen, Kräfte und Strömungen zu gewöhnen, die unser soziales Leben in diesem Moment prägten.

Tiku Kobiashvili

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