Wir sind Anfang der 90er Jahre in derselben ländlichen Kleinstadt in Deutschland aufgewachsen. Ein Skatepark, eine Tankstelle, eine Kirche, ein Supermarkt, Hektar von Wäldern und Maisfeldern und der letzte Bus um 19 Uhr – seit jeher hat die dazugehörige Langeweile unsere Fantasie beflügelt. Der Fernseher war wie ein Fenster zu einer anderen Welt, in der magische Dinge geschehen konnten; die Serien und Filme, in die wir stundenlang abtauchten, präsentierten die USA als ein gelobtes Land der Popkultur und Mythen. Wir wuchsen mit Geschichten über amerikanische Vorstädte, Disney-ähnlicher Freizeitarchitektur, den Geistern aus Horrorfilmen und Abschlussbällen auf. Unsere ambivalente Faszination für Show-Momente und polierte Oberflächen, und die zerbrochenen Träume dahinter, wuchs stetig.
Im Jahr 2017 erfuhren wir online von einer Subkultur in Portland, Oregon: Menschen, die sich als mer-folk identifizieren. Sie gaben an, sich nicht nur als Sirenen in Silikon-Kostümen zu verkleiden, sondern das Dasein als Sirenen tatsächlich als Identität in ihrem Alltag zu leben. Nachdem wir „Una the Mermaid“ in Portland kennengelernt hatten – eine Gefängnispsychologin und Traumatologin im Alltag – fühlten wir uns sofort auf ganz besondere Weise verbunden. Una und ihr Kollektiv hatten schon lange die Dinge umgesetzt, die wir uns für unsere Figur vorgestellt hatten: eine Sirene mit interdisziplinärem Wissen, die Mensch, Natur und Maschine verbindet und gleichzeitig versucht, neue Wege des Miteinanders und des Umgangs mit der Welt zu finden.
“We're all playing a character in a script, but very few of us get to write their own story.” Im Fall der Hauptfigur von SIRENS CALL, Una, dreht sich die Story nicht mehr um weibliche Selbstaufgabe oder die romantische Erfüllung konventioneller Meerjungfrauen-Erzählungen. In unserem Film kämpft Una als hybrides Wesen in einer fragmentierten Welt, die kurz vor dem Kollaps steht, ums nackte Überleben. Ihr menschlicher Körper ist dysfunktional; das Atmen an Land wird immer schwieriger. “I was drying out from the inside”: eine Meerjungfrau der Gegenwart, die als Seismograph für den zukünftigen Zustand der Menschheit fungiert.
Der Film verkörpert, wie seine Figuren, eine hybride Natur, zwischen Dokumentation und Fiktion, situativen Einsichten und narrativer Erkundung wandelnd.
Bei SIRENS CALL war die Idee, dass Film als eine Form spielerischen Experimentierens dienen kann, von Anfang an essenziell für uns. Von der ersten Szene in einer Laborumgebung, über das Studio-Setting bis hin zu unseren offenen Interviewfragen an Una strebten wir danach, die Bedingungen der Produktion selbst offenzulegen. Auf diese Weise verkörpert SIREN'S CALL, wie seine Figuren, eine hybride Natur, zwischen Dokumentation und Fiktion, situativen Einsichten und narrativer Erkundung wandelnd. Daher haben wir uns entschieden, von klassischer Dramaturgie abzuweichen und uns auf einen fließenden Stil zu konzentrieren, der vom japanischen kishotenketsu inspiriert ist, bei dem es keine festen Höhepunkte gibt, sondern, wie bei Wellen, einen eher fließenden Erzählstil.
Una lädt uns auf eine Reise quer durch die Vereinigten Staaten ein, von den strahlenden Megastädten der Mojave-Wüste bis zu den Sumpfgebieten der Kleinstädte Floridas. Die Meer-Wesen, denen sie begegnet, haben sich in Disney-artige Karikaturen ihrer selbst verwandelt – gefangen hinter dicken Glaswänden, den gierigen Blicken der Menge ausgesetzt, von der Peepshow zur Freakshow. Als ruheloses Wesen ohne Biografie wandert Una durch eine entfremdete Welt, eine Welt, in der das Atmen selbst zur Ware geworden ist: Willkommen in der BREATHE Bar.
Unas Existenz ist liminal – weder ganz Fisch noch ganz Mensch, weder Frau noch Mann, sondern etwas dazwischen. Ihre Reise ist eine Reise des Widerstands, des Überlebens und der ständigen Transformation, die auf verschiedene Weise die Transformationsprozesse widerspiegelt, die wir als Individuen und als Gesellschaft durchlaufen müssen, um in einer posthumanen Welt zu überleben.
Erst als Una bei einer nächtlichen Begegnung auf einem Walmart-Parkplatz Teenager*in Moth trifft, beginnt sich ihr Schicksal zu ändern. Gemeinsam begeben sie sich auf die Suche nach einer Gemeinschaft anderer Meermenschen in Portland.
Hier verschiebt sich der Stil des Films allmählich in Richtung Dokumentarfilm. Wir treffen andere queere Meermenschen, die sich politisch organisieren, schwimmen, feiern und ihren Alltag leben. Eine Zeit lang scheint Una ihren Platz gefunden zu haben. Doch die Frage, wer sie in dieser Welt ist, holt sie bald ein. Woher stammt ihr Körper und kann man ihn möglicherweise überwinden? Sind vermeintliche Biografie und Trauma eine starre Erzählung oder kann man die eigene trans-Identität annehmen?
Die Dualität von Faszination und Zweifel spiegelt unsere Neugierde auf die Beziehung zwischen Erscheinung, Wahrheit und (Selbst-)Bewusstsein wider.
Unsere Filme beschäftigen sich oft mit Themen wie Sehnsucht, konstruierten Gefühlen und den Faktoren, die unsere Wünsche beeinflussen – sowohl im privaten als auch im politischen Kontext. Wir konzentrieren uns auf die Magie, die zwischen Illusion und Realität liegt, und fangen das „Nicht-ganz-Vollkommene“, das leicht Abweichende ein. Es sind diese spezifischen Motive, die wir in unserer Arbeit immer wieder erforschen – Themen, die uns finden: das Haus, das Dorf, die Kernfamilie, die Biografie, romantische Beziehungen, Darstellungen des Alltags und die Strukturen des Begehrens. Oft scheinen diese Motive von etwas oder jemandem heimgesucht zu werden. Etwas, das sich leise ankündigt, erscheint und dann verschwindet, aber immer ungreifbar bleibt. Das Gleiche gilt für SIRENS CALL.
Die Dualität von Faszination und Zweifel spiegelt unsere Neugierde auf die Beziehung zwischen Erscheinung, Wahrheit und (Selbst-)Bewusstsein wider. Die Grenzen zwischen alternativen Lebensstilen, ganzheitlichen spirituellen Werten und neoliberalen Selbstoptimierungsbemühungen sind hier fließend, da es niemandem wirklich zu gelingen scheint, diesen Grenzen zu entkommen.
Für uns ist das Filmemachen das ideale Medium, um mögliche Utopien zu hinterfragen, und es erlaubt uns, diese Ideen während des gesamten Recherche- und Drehprozesses zu erforschen. SIRENS CALL wurde von einem kleinen Team aus nicht mehr als fünf Personen realisiert und auf Super 16 gedreht. Als kollaborativer Prozess stellt er auch unsere Hierarchien, Produktionsprozesse und Interaktionen mit den Protagonist*innen in Frage.
Letztendlich besteht der Film nicht nur aus 121 Minuten auf der Leinwand, sondern repräsentiert auch eine siebenjährige künstlerische Reise – ein Geflecht aus Begegnungen, Beziehungen und Erfahrungen, die uns in dieser Zeit geprägt und auf vielfältige Weise verändert haben. In dieser Hinsicht ist Unas Spurensuche auch unsere eigene.
Ein Akt des Verlangens, der Wunscherfüllung und des Widerstands zugleich.
Miri Ian Gossing & Lina Sieckmann