Barbara Wurm: Zum fünften Mal bei der Berlinale, zum dritten Mal im Forum. Wir freuen uns, Gerd! STOLZ & EIGENSINN. Ist das Jane Austen?
Gerd Kroske: Das wäre naheliegend, aber ich dachte eher an Alexander Kluge und Oskar Negts Buch „Geschichte und Eigensinn“ [1981, ed.]. Das ist thematisch relevanter, weil es um Industriearbeiterinnen geht. Diese gegenständliche Arbeit verschwindet historisch und das kann man im Film ganz gut abspulen, in einem sehr kurzen Zeitraum.
BW: Was war der Ausgangspunkt?
GK: Ich war für eine andere Recherche im Archiv der Bürgerbewegung der DDR, Leipzig e.v. im Haus der Demokratie. in Leipzig. Da kam der Archivar zu mir und druckste so herum. Er sagte, er müsste mich da mal fragen, er hätte ja so ein Konvolut von diesem Kanal X, ein ehemaliger Piratensender in Leipzig. Jedenfalls kam heraus, dass er dabei war, dieses Material zu digitalisieren und die Rechtefragen zu klären. Und es gab mehrere Sendebänder, wo mein Film KEHRAUS [1990, ed.] drauf war, der von diesem Piratensender ausgestrahlt wurde. Das wusste ich nicht – und war ganz begeistert. Er war erleichtert, dass ich nicht die Urheberrechtskeule schwinge.
Dann kam er wieder und sagte, er hätte da Material, das mich interessieren könnte. Dann hat er mir zwei Stunden von diesem Rohmaterial gezeigt, von einem Film, der hieß FRÜHER WAREN WIR GUT GENUG. Da sind, glaube ich, 25 Frauen drin, der ist im Auftrag der Gewerkschaft entstanden. Ich habe mir das angesehen und fand das absolut toll. Später habe ich dann auch den Norbert Meissner getroffen, der das mit der Soziologin Bärbel Moser Minx zusammen gemacht hat. Ich dachte, eigentlich müsste man versuchen, diese Frauen wieder zu finden. Die Lage des Materials war sehr rudimentär, es gab keine Aufzeichnungen mehr, wer wo wohnte. Namen waren falsch geschrieben und so habe ich ein gutes halbes Jahr gebraucht, die Frauen zu finden und drei von ihnen wollten nicht mitmachen. Das war im Herbst 2023.
Annina Lehmann: Wie war die Erfahrung mit den Frauen, die Sie dann gesucht und auch wiedergefunden haben. Wie viele haben Sie tatsächlich wiedergefunden und wie haben die reagiert?
GK: Sehr unterschiedlich. Die Interviews sind 1994 entstanden, das ist jetzt knapp 30 Jahre her. Ich persönlich habe diese alten Aufnahmen ja nicht gemacht, die kannten mich also nicht und wir mussten immer Überzeugungsarbeit leisten, was ein bisschen schwierig war anfangs. Denn das ist eine Generation, die offenbar sehr mit Werbeanrufen belästigt wird. Wenn eine fremde Nummer anruft, geht man erstmal nicht ran. Diese erste Kontaktanbahnung war relativ schwierig. Ich hatte die passenden Filmausschnitte schon dabei, um ihnen das zu zeigen und dann setzte natürlich auch das Erinnern ein.
Was mich am Dokumentarfilm interessiert, ist filmisch daran teilzuhaben, wie Leute Erinnerungen freilegen.
Was mich am Dokumentarfilm interessiert, ist ja auch filmisch daran teilzuhaben, wie Leute Erinnerungen freilegen. Wie das passiert und wie man sich durch so ein Gespräch bewegt und mitbekommt, wo die Angst ist, wo die Themen umgangen werden, oder was sich besonders eingeprägt hat. Natürlich mit dem Wissen, dass so eine Erinnerung etwas Konstitutives hat. Jeder erinnert sich sehr persönlich und selektiert dabei. Und durch dieses Material, das zeigt, was sie vor 30 Jahren schon erzählt haben, war ich natürlich immer sehr gut präpariert und konnte dann in die Lücken gehen und herausfinden, was danach passiert ist oder wie sie es heute bewerten. Ich mache das ja mit Lisa Böttcher, der Regieassistentin, schon ein paar Jahre. Wir könnten wahrscheinlich auch gut Bibeln verkaufen.
BW: Ich würde gern zu der zentralen Konstellation des Filmes im Split-Screen kommen. Die Frauen reflektieren schon 1994 über ihre eigene Erfahrung, haben schon die Wende hinter sich. Und 30 Jahre später sprechen dieselben Frauen über beides: Einmal über sich selbst damals, reflektierend, aber auch über den Geschichtsprozess selbst. Mir scheint, dass das die zentrale Fragestellung des Filmes ist: Eine Verschiebung, die auf den ersten Blick gar nicht so greifbar ist. Die Differenzen zwischen den beiden Zeitebenen sind manchmal sehr gering. Und das ist ja der Kern des Films. Wie verschieben sich die Wahrnehmungen dieses Verlustes?
Wir waren immer darauf gefasst, dass wir verbitterte Schilderungen treffen. Die sind aber so gar nicht durchgeschlagen.
GK: Was diese zwei Zeitebenen betrifft, habe ich versucht, den Frauen beim Dreh möglichst nicht alles Material zu zeigen, um zu vermeiden, dass ein bestimmtes Repertoire immer wiederholt wird. Also haben sie immer sehr kurze Ausschnitte gesehen. Es war oft eine Überraschung, sich selbst zu sehen, da spielten auch jung sein und Alter eine Rolle. Was mir aufgefallen ist, und wo die beiden Ebenen sich dann treffen, war, dass die Verbitterung gar nicht größer geworden ist. Es gibt inzwischen so einen Abstand über die 30 Jahre, in dem sie sich eine Würde bewahrt haben. Das war wahrscheinlich auch ihre Rettung, um mit dieser Situation fertig zu werden. Wir waren immer darauf gefasst, dass wir ganz verbitterte Schilderungen treffen. Die sind aber so gar nicht durchgeschlagen. Es wurde als ein Abschnitt wahrgenommen, der wahrscheinlich nicht der schönste im Leben war, aber der auch irgendwie überwunden ist. Und damit habe ich immer versucht, eine Balance herzustellen, dass man auch noch mitbekommt, dass da natürlich auch sehr viel offen ist.
Zumindest bei der Lokführerin, bei der Frau Schurmann, ist es ja zu hören, wie das so in die Familien reingeschlagen hat. Wie sie versucht hat, die Kinder davor zu schützen und das Außen draußen zu lassen. Da klingt an, dass es eine Prägung war, die sie Zeit ihres Lebens schon auch demoliert hat. Aber dass sie trotzdem nicht anfängt, rechte Parolen zu formulieren. Man muss natürlich auch wissen, welchen Stellenwert solche Arbeit, die man über Jahrzehnte gemacht hat, für Leute hat. Da ich selber mal einen Bauberuf gelernt habe, den ich zwar nur ein Jahr lang ausgeübt habe, habe ich eine Ahnung davon, wie das sein muss, wenn man das 30, 40 Jahre Schichtarbeit macht und dann plötzlich aus dem Nichts seinen Job verliert und zu gehen hat. Und dafür, finde ich, schildern sie das sehr souverän.
BW: Zwischen der Abwicklung in den 90ern und der Gegenwart bleibt in den Biographien eine Lücke. Wir bekommen keine Transformationsgeschichte, wie das vielleicht zu erwarten wäre, sondern einen zweiten Kommentar, zeitversetzt. Die Lücke bleibt. War das eine bewusste Entscheidung?
GK: Die Lücke war zum Teil mit vorgegeben. Beim Drehen und später beim Arbeiten an dem Material ist aufgefallen, dass ich in den Fragen zwar versuchte habe, die Familie mit hineinzubringen, oder die Männer, aber dass die Frauen selber das eigentlich am wenigsten thematisiert haben, sondern immer mit einem sehr klaren Pragmatismus ihre Arbeitssituation geschildert haben. Und wie sie dabei gleichzeitig auch diesen Stolz mitentwickeln, den sie ja berechtigt haben dürfen für das, was sie da gestemmt haben. Zum einen liegt es daran, dass die Männer meistens schon verstorben sind und die Kinder inzwischen eigenständig waren. Familie als Thema war gar nicht mehr so zentral.
Aber dann gab es auch die Frau Grätz, die Anlagenfahrerin aus der Steinkohle. Die hatte eine Tochter und ich habe das auch versucht zu thematisieren. Aber sie hat gesagt, das führt so weit. Sie hätten mal in einem Radio-Podcast teilgenommen und da hätten sie das ein paar Stunden thematisiert. Das kann man gar nicht so zusammenfassen. Da sind auch kritische Themen, die sie mit der Tochter aushandelt, aber nicht mit mir. Und damit musste ich umgehen, auch zu respektieren, wie weit Leute ihr Innerstes preisgeben oder auch nicht.
BW: Ich fand es sehr toll, dich als Gesprächspartner wieder zu erleben. Wie waren die Frauen für dich als Film-Dialogpartnerinnen. Anders als in deinen bisherigen Filmen?
GK: Vom Herangehen gab es den Unterschied, dass ich sehr fokussiert war auf das, was es schon an Material gab, denn die Grundidee, mit dem Split-Screen-Format zu arbeiten, war von Anfang an da. Aber beim Drehen habe ich es nicht als grundsätzlich andere Situation wahrgenommen. Das hat damit zu tun, wie man zuerst auftritt und dass man eine Vertrauenssituation herstellt. In diesem Fall war es wirklich wichtig, dass ich selber aus dem Osten bin. Das wurde auch ein paar Mal richtig abgefragt. Dann habe ich erstmal meinen Hintergrund und den des Teams mitgeliefert. Das ist seit ein paar Jahren am Kippen, das hat früher nie eine Rolle gespielt. Aber seit ein paar Jahren ist das immer ein Thema, wenn man mit Leuten dreht, wo man jetzt herkommt. Und so geschieht dann auch die Öffnung.
AL: Ich würde gerne noch eine Frage zur Gegenwart stellen, denn es ist natürlich ein Film, der zurückblickt, aber der auch jetzt gemacht wurde und jetzt gezeigt wird. Können Sie das noch etwas einordnen, also: Warum jetzt dieser Film? Oder auch: Was wäre die Botschaft des Films heute?
GK: Na ja, ich habe immer versucht, aus diesem Reflexiven herauszukommen. Wo das am prägnantesten gelingt, ist natürlich bei den beiden Frauen, die noch arbeiten. Frau Butzlaff, die seit der Lehrzeit auf verschiedenen Großgeräten im Tagebau sitzt und noch zehn Jahre bis zur Rente weitermachen wird. Oder Steffi Gänkler aus der Schuhfabrik, die jetzt seit 28 Jahren bei Ikea mit einem vorgewärmten Teller an der Theke steht. Man sieht, wie sich die gegenständliche Arbeit in Dienstleistungsgewerbe wandelt. In Weißenfels ist die ganze Schuhindustrie völlig weg. Da gibt es jetzt eine aufgehübschte Altstadt und ansonsten einen wahnsinnigen Leerstand und Industriebrachen, wo vorher ein paar tausend Leute gearbeitet haben. Da ist schon eine andere Stimmung als in Berlin.
Wir haben am Tag nach der Europawahl angefangen zu drehen. Und gleich der erste Vermieter in Spremberg hat uns als Berliner beschimpft und quasi mit der Regierung gleichgesetzt. Da dachten wir, wenn das so weitergeht, dann können wir einpacken. Alle, die drehen, wissen, dass sich das seit ein paar Jahren verändert hat. Früher haben Leute höflich gefragt, was man da macht. Dann hat man es erklärt und dann haben sie sich an die Seite gestellt und zugeguckt. Heute wird man da auf der Straße angeschrien, als Lügenpresse bezeichnet, ist Vorhaltungen ausgesetzt. Da muss man einen Umgang mit finden. Es ist nichts passiert, aber man merkt, wie die Leute auf Medien im Allgemeinen reagieren, dass sie das gar nicht mehr differenzieren können.
AL: Haben Sie eine Hoffnung zur Wirkung des Films?
GK: Das kann ich nicht beurteilen. Ein Impuls für den Film war, dass über das Thema „Treuhand“ und die Abwicklungen sehr pauschalisierte Erzählungen im Umlauf sind. Auch darüber, wie souverän und toll die Ostfrauen waren, das findet man auch. Aber wenn man sich nur so Häppchen herausholt, die dieses Bild befüllen, wie toll das war, das ist mir zu wenig. Ich habe einen unglaublichen Respekt vor diesen Arbeiten, die sie geleistet haben. Ich komme selber aus einer Familie, wo beide Eltern berufstätig waren. Meine Mutter hat vier Kinder großgezogen, mehr oder weniger eigenständig, obwohl der Vater im Haushalt war, und hat trotzdem voll gearbeitet, ohne, dass mir irgendwie Klagen bewusst sind. Es war der Alltag. Und das erkenne ich in dieser Frauengeneration natürlich so wieder. Wie sie sich mit völliger Selbstverständlichkeit größter Plackerei ausgesetzt haben. Wenn ich mit meiner Tochter spreche, also die würde so ein Leben nicht führen, ganz klar.
AL: Das lässt mich an den Beginn des Films denken, an diese Identifikation der Frau mit dem Bergmann: Sie will nicht Bergfrau genannt werden, denn es ist eben die Tradition des Bergmanns. Das ist spannend, gerade in Bezug auf den heutigen Feminismus. Man könnte sagen, ja, sie waren feministisch in ihrer Art, einfach das durchzuziehen, was sie wollten. Aber gleichzeitig scheint es auch eine Identifikation mit dem Patriarchat zu geben, oder mit dieser männlichen Welt: Ich bin eben eine Frau, deswegen muss ich härter arbeiten. Das wurde nicht wirklich hinterfragt.
Ich habe sehr großen Respekt vor Leuten, die so eine redliche Arbeit machen, die mit den Händen denken.
GK: Ja natürlich. Sie haben ein anderes Herangehen. Viel selbstverständlicher, pragmatischer. Natürlich ging es auch darum, Geld zu verdienen. Aber das hieß auch, sich souverän, unabhängig bewegen zu können, trotz dieser wahnsinnigen Belastung. Sie haben ja auch körperlich sehr hart gearbeitet. Da habe ich schon sehr großen Respekt davor, vor Leuten, die so eine redliche Arbeit machen, die, sag ich mal, mit den Händen denken. Wenn man gegenständlich arbeitet, ist das ein völlig anderer Vorgang, als wenn man Texte schreibt oder Filme macht. Da habe ich unglaublich Hochachtung vor, wenn Leute das tagein, tagaus leisten und sich auch daran freuen können, wenn sie sehen, was sie da tun. Und diese eigene Wertschätzung, die formulieren sie ja auch immer wieder. Das ist, finde ich, vielleicht ein Signal ins Jetzt.
BW: Durch die Offenheit des Gesprächs sind in der Mehrheit der Erzählungen die Frauenschicksale und Frauenbiografien fast stärker als die Ursprungsfrage Ost/West, DDR/BRD. Der Film gibt den Frauenbiografien viel Raum und räumt auch auf mit Klischees. Das ist eine Stärke des Films, dass er diese grundlegenden Fragen nach Realisierungsmöglichkeiten von Frauen, nach Organisation von arbeitenden Frauen, nach der aktiven Teilnahme des gesellschaftlichen Lebens von Frauen reflektiert – vielleicht ja doch ein wenig Jane Austen … . Das sind Fragen, die Männer nicht haben, unabhängig vom System.
Für mich ist deshalb das Christa Wolf Zitat, das dem Film vorangestellt wird – „Der Mantel der Geschichte weht zugunsten derjenigen, die genug Puste haben, die Windrichtung zu bestimmen.“ – in gewisser Weise auf beiden Ebenen des Films zutreffend, er meint die historischen „Sieger“, aber eben auch die Welt der Männer. Einige Frauen kommentieren diesen Zusammenhang sehr gut. War dir das von Anfang an klar, dass die Gespräche auch dahin gehen werden?
GK: Das habe ich natürlich durch Nachfragen mit forciert, das hat mich schon interessiert. Der generelle Hintergrund ist natürlich der, jetzt mal unabhängig von Frauen- oder Männerarbeit, dass alle eine Grunderfahrung gemacht haben und aus dieser Erfahrung heraus Vergleiche mit der Jetztzeit ziehen können. Und die sind manchmal sehr positiv, manchmal auch sehr abwertend, weil eben verglichen wird mit der selbst gemachten Erfahrung. Und das ist ein Thema, das komischerweise immer so hinten herunterfällt, das nicht so oft in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Dass es immer noch diese andere zeitliche Erfahrungsebene gibt. Wenn ich durch Berlin Mitte gehe, dann weiß ich noch, wo der Koffer-Kratky war und wo die Kneipe war usw. Das ist jetzt völlig verändert. Und gleichzeitig hat man so einen inneren Film, der sozusagen mitläuft. Und das geht natürlich allen so, die aus dem Osten kommen.
Diese Rückblicke auf das, was sie konnten und gemacht haben, das ist wahrscheinlich der Boden, der sie hält.
Und wenn dann, so wie jetzt in dem Film beschrieben, noch ein Abbruch im Berufsleben stattfindet – die waren ja in einem Lebensalter, wo man nicht damit rechnet, dass man jetzt in die Pension geschickt wird –, das prägt natürlich Leute. Es gibt fast so eine Akzeptanz über diesen Fortgang, ich kann es gar nicht so richtig deuten, ich bin da selber ein bisschen verwundert. Weil da auch durchaus viel mehr Wut akzeptabel wäre. Aber das rechne ich jetzt mal dem Lebensalter zu, dass man da offenbar noch einen Abschluss findet. Diese Rückblicke auf das, was sie mal konnten und gemacht haben, das ist wahrscheinlich der Boden, der sie hält. So stark war das. Und das andere war nicht so relevant. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Zu erleben ist das aber auch, wie der Verlust der Arbeit in die Familien reingeht. Silke Butzlaff formuliert das ja, was die heutige Transformation in der Lausitz betrifft, dass da sofort die Gedanken an die 90er Jahre wieder hochkommen und die Situation, als es um die Arbeitsplätze ging. Das steht der Region noch bevor. Da sind ja ein paar tausend Leute noch beschäftigt.
BW: Ein Fall für Kanal X.
GK: Ja, und um diese Schleife zu machen: Es ist toll, dass es dieses Material gibt. Norbert Meisner von Kanal X hat mir gestern noch auf der Raststätte Michendorf eine Festplatte übergeben, weil er noch Material gefunden hat, womit wir ein Bild austauschen können. Also sehr kooperativ. Es ist toll so einen unterstützenden Menschen zu treffen, der dieses ganze Archiv völlig uneitel der Bürgerbewegung übergeben hat, ohne daraus finanziellen Nutzen zu ziehen. Die haben wahnsinnig viel gedreht über fast zwei Jahre. Gerade im ganzen sächsischen Raum ist das eine riesige Fundgrube mit Material, das kein Fernseharchiv hat. Die haben sich mit völlig freier Themenauswahl durch die Stadt bewegt und alles gemacht, was ihnen gerade in den Sinn kam.
BW: Bist du der Erste, der das wieder groß aufleben lässt?
GK: Das wird gerade ein bisschen bekannter, denn es gibt vom Stadtmuseum Leipzig eine Veranstaltungsreihe, da war ich auch im Herbst mit einem der Kehraus-Filme. In der Veranstaltung danach ging es dann um den Kanal X, mit dem sich ein paar Universitätsprofessoren beschäftigt haben und versucht haben, dieses Konvolut irgendwie zu deuten. Aber das ist ein ungehobener Schatz. Das muss man ganz klar sagen. Ich glaube, das wird noch relevant.
BW: Eine abschließende Frage, sehr schön und prägnant. Du hast sie selbst formuliert. „Was war gewonnen? Was ist verloren?“
GK: Ja, das soll der Film erzählen und jeder selber rausfinden. Da ist natürlich dieser Punkt, dass Erwerbsarbeit mehr ist als nur das, wenn es gleichzeitig ein Wertgefühl für eine Persönlichkeit zuträgt. Das ist ja mehr als Geld und das ist eine Konstituierung von einem. Die Frau Nitzsche sagt es, das war eben der zweite Teil des Lebens. Also erst die Familie und der Mann. Und dann diese Arbeiten, gleichwertig auf einer Ebene, das war ein ganz wichtiger Lebensbereich für die Frauen. Das ist bei allen irgendwie spürbar. Und das ist auch, glaube ich, was so angeschrammt ist, wenn man aus dem Beruf gedrängt wird. So brachial, wie es hier zum Teil geschildert wird. Dann weiß man, was gewonnen und was verloren ist.
BW: Eine wunderbare Antwort. Sie hat immer noch nicht die große Frage des Marxismus gelöst, ist die Frauenfrage nur ein Nebenwiderspruch? Vielleicht werden wir sie gemeinsam lösen, im Anschluss an deinen Film.
GK: Ich freue mich, dass ihr ihn zeigt.