Barbara Wurm: Eva, danke für Deinen großartigen, feinfühligen Film. Lasst uns mit dem Titel des Films beginnen: WHEN LIGHTNING FLASHES OVER THE SEA.
Eva Neymann: Der Arbeitstitel hatte um das Thema Träume gekreist. Schließlich aber lernte ich einen Jungen kennen, der mir das Wahrsagen beibrachte. Er meinte, dass wenn es über dem Meer blitzt, Wünsche in Erfüllung gingen. Ich nahm das sehr ernst. Daher stammt der neue Titel.
Christiane Büchner: Wie hast Du das Projekt begonnen? Wie lief das Kennenlernen der Menschen und die Arbeit mit ihnen?
EN: Der Beginn des großen Krieges am 24.2.2022 erwischte mich in der Ukraine. Ich war dort und erlebte den ersten Schock mit allen gemeinsam, auch die Evakuierung. Das war sehr schwer. In den ersten Tagen besonders. Ich wusste sofort, dass ich ein Dokument der Zeit und des Ortes machen muss, dass ich diesen Film machen würde, egal was kommen würde, ob mit Finanzierung oder ohne. Es war mir unglaublich wichtig. Zu Beginn musste ich mir etwas ausdenken und ich vereinbarte Treffen mit meinen Freunden, Bekannten, Verwandten. Das Wichtigste aber war für mich die Stadt selbst. Ich wusste von Anfang an, dass ich mit der Kamera auf die Straße muss, um den Geist der Zeit einzufangen. Das war ziemlich schwierig, denn als ich zu filmen begann, gab es an der Oberfläche eigentlich gar keine Veränderungen. Außer der Warnsirenen. Während ich drehte, schien aber niemand auf sie zu reagieren. Es war damals relativ ruhig, es gab keine Bombardements, den Albtraum von aktuell gab es damals nicht. Dennoch aber hing irgendetwas Unsichtbares in der Luft. Ich setzte mir zum Ziel, diese Stimmung in Odesa einzufangen. Odesa ist eine besondere Stadt, man kann dort auf die Straße gehen und Menschen einfach ansprechen, mit ihnen sprechen, und sie sprechen mit dir. Diese spontanen Begegnungen sind dort absolut normal. Ich hoffte also sehr darauf und arbeitete damit. Ein Teil der Protagonist*innen sind meine Freund*innen, Bekannte und Verwandte, der andere Teil sind Menschen, die ich während des Drehs kennengelernt habe.
BW: Wenn du sagst, äußerlich hätte sich nicht so viel verändert, aber innerlich und atmosphärisch doch alles – wie bist du damit umgegangen?
EN: Ja, die Geschäfte waren geöffnet, die Friseur- und Schönheitssalons auch. Nicht einen Tag lang waren sie geschlossen. Die Friseure wurden dann meine Hauptquelle für Informationen aller Art. Beim Friseur wird über alles diskutiert, im Ernst, dort wurde das Ende des Kriegs vorgeschlagen, der Beginn des Getreidedeals…dort wurde im Prinzip schon alles entschieden. Täglich wurden neue Lösungen gefunden, unter großem Druck, mit viel Leid und Schmerz verbunden, in der gesamten Stadt. Die Menschen sprachen darüber, später wichen sie diesen Gesprächen aus, sie fanden sich mit der Situation irgendwie ab. Seither dreht sich alles natürlich – damals wie heute – um das kolossale Leid im Inneren, das äußerlich kaum sichtbar ist.
CB: Mir gefällt an dem Film sehr, dass jede Szene wie für die jeweilige Person gebaut ist. Die Leute sind so unterschiedlich und mit ihnen ändert sich auch die Herangehensweise. Die jeweilige Methode führt zu großer Offenheit. Wie hast du das jeweils gebaut?
EN: Für mich ist die Freiheit des Geschehens, diese kreative Freiheit, zentral. Sie bedeutet mir alles als Regisseurin. Ich begegne jedem Menschen natürlich anders, jede*r hat eigene Werte. Ich verstand, dass die Szenen nicht zueinander passten. Einen einheitlichen Stil beizubehalten, schien mir aber auch zu langweilig. Jede*r hat einen anderen Sinn für Humor. Mir gefallen unterschiedliche Dinge im Gespräch. Ich bin wohl schon alt genug, ich kann schon so leben wie ich es will, und mit jedem Menschen so sein, wie ich das will. Es geht um die Menschen, nicht um den Stil, den ich mir ausdenke.
BW: Welches war das spannendste Gespräch?
EN: Nicht alle haben es in den Film geschafft. Es gab da eine Frau, um die unzählige Katzen kreisten. Ich habe sie angesprochen, und es stellte sich heraus, dass sie aus der Nähe von Mariupol stammte und 2014 geflüchtet war. Seither lebt sie in einer Mietwohnung in irgendeinem Hinterhof und hatte 28 Katzen mitgebracht! Sie erzählte, wie sie im Auto herkamen, und begann zu weinen, wie ich es bisher kaum gesehen hatte. Sie sagte, dieses Jahr war unheimlich schwer, das schwerste ihres Lebens. Sie zählte auf, wer alles gestorben war, Anatoly, Liza, Tatyana Stepanova. Dann sagte sie nichts mehr, weinte und entschuldigte sich, dass sie nur über die Katzen sprach. Anatoly, Liza, Tatyana Stepanova, das waren ihre Katzen. Ich verstand, dass der Krieg ihr alles genommen hatte, die Stadt, in der sie lebte, existierte nicht mehr, alles drehte sich um ihre Katzen. So ist das bei uns allen – jede*r hat etwas eigenes, über das wir mehr als über alles andere weinen.
Ich durchlebte selbst diverse Wellen. Anfangs war da sogar Euphorie, dann Enttäuschung, Erschütterung, dann Müdigkeit, Gewöhnung, dann wieder Euphorie, dann ging irgendwann das Leben einfach weiter.
CB: Wie lange hast du gedreht?
EN: Sehr lange. Man sieht die Jahreszeiten im Film, also einen ganzen Jahreszyklus lang, genau genommen sogar nicht nur einen. Ich begann im Herbst 2022 und drehte bis April 2024.
BW: Die Atmosphäre hat sich dabei sicherlich verändert.
EN: Absolut. Ich durchlebte selbst diverse Wellen. Anfangs war da sogar Euphorie, dann Enttäuschung, Erschütterung, dann Müdigkeit, Gewöhnung, dann wieder Euphorie, dann ging irgendwann das Leben einfach weiter. Ich hoffte natürlich, den Film nicht rechtzeitig fertig zu bekommen. Das war meine Hoffnung: Dass der Krieg vorher vorbei ist. Wenn er nun andauern muss, so ist die Stimmungsänderung ganz natürlich. Dass die Müdigkeit von all dem kommt und die Euphorie weicht. Das konnte man schon wissen, als man euphorisch war, es ist schließlich nicht der erste Krieg, den die Welt kennt. Es gab das Beispiel Jugoslawien schon: Mein Kameramann und Gatte ist aus Kroatien. Genau deshalb habe ich nicht die eine oder andere Lage fokussiert. Ich verstand nur eins: Dass sich die Lage wieder ändern würde. Und dass dieser Film länger leben sollte: über den einen eingefangenen Zustand hinweg. Ich hoffte, einen Film machen zu können, der von universaler Gültigkeit ist, und der nicht entweder vom Höhepunkt der Euphorie oder dem Höhepunkt der Verzweiflung oder gar dem Rückzug der Gefühle handelt.
CB: Könntest du über die Besonderheit der Stadt Odesa sprechen?
EN: Ich kam in Zaporozhe zur Welt und wuchs dort auch auf. Odesa ist die Stadt, die ich für mich ausgewählt habe. Die Stadt meiner Träume. Bis heute noch. Ich habe mir sozusagen eine Heimat gewählt. So also hat es sich ergeben, dass alle meine Filme – seit meiner Zeit als Studentin – in Odesa gedreht wurden. Hier ist meine Mitte, eine Wurzel, die mich ernährt, von der ich Angst habe, mich zu sehr zu entfernen. Das bedeutet Odesa für mich. Es ist eine überraschende Stadt, wo unwahrscheinlich viel Unterschiedliches zusammenkommt und lebt. An einem Tisch können hier Menschen mit völlig divergierenden Ansichten völlig ruhig sitzen. In Odesa ist irgendwie alles möglich. Keiner sieht dich hier komisch oder schief an. Sie bleiben deine Nachbarn, denken sich über dich das ihre, aber wir existieren friedlich weiter. Genau dieses Umfeld, diese Umgebung erzeugt das Gefühl von Freiheit. Odesa wurde wahrscheinlich zur Stadt meiner Träume, weil die Freiheit dort ein absolut greifbarer Zustand ist, an dem du einfach gern teilhast. So sind die historischen Voraussetzungen für diese Freiheit. Eine multinationale, multikulturelle Stadt. So war das immer. Und ich hoffe, dass es sich fortsetzt.
BW: Die Mythologie der Stadt spielt also eine geringere Rolle, Eisenstein, Babel‘, die Touristen. Es geht dir eher um die Menschen und die Atmosphäre.
EN: Das gehört alles dazu, Babel‘, der Mythos, die Touristen, was auch immer dort zusammenkommt, wird zu etwas irre Bezauberndem, Faszinierendem. So scheint es mir. Die Stadt ist nicht einfach, sie ist nicht immer angenehm, manchmal sogar richtig unangenehm. Es gibt Kriminalität. Wenn ich von Freiheit spreche, dann würden andere genau das wohl den Mythos nennen. Odesa ist reich an Mythen und Charme, und an Geschichte und Menschen. Aber alles verändert sich. Heute leben dort ganz andere Menschen als in meiner Kindheit.
CB: Wie hast du das Material montiert, das du so lange gedreht hast?
EN: Eigentlich ohne große Katastrophen oder Anstrengungen. Die Aufnahmen selbst haben die Montage bestimmt. Den jeweiligen Zugang zu den Protagonist*innen haben die Aufnahmen, Intuition und ein paar Funde definiert. Das passierte alles gleichzeitig. Nach einem der Treffen setzte ich mich an den Schneidetisch und verstand, dass ich die Protagonist*innen hintereinander montieren muss. Zum einen haben die Gespräche die Montage geleitet, zum anderen aber ist die Stadt selbst ja auch eine der wichtigsten Protagonist*innen. Das ist für mich enorm wichtig. Es geht nicht nur um die Übergänge von einem Helden zum nächsten, sondern um die Stimmung und den Spirit in der Stadt. Außerdem stand fest, dass wir alle Jahreszeiten in der Stadt zeigen wollen.
Als Regisseurin und Künstlerin ist es für mich zentral, mehr zu sehen als die Realität, etwas, das länger leben wird als der konkrete Zustand. Ich bin nicht dafür, den Menschen nur als Produkt seiner Umstände zu sehen.
BW: Mir scheinen die Übergangsmomente sehr wichtig zu sein, die Blicke aus dem Fenster, die Katzen, das, was die Porträts verbindet – die Abchasierin in der Küche, die vor der Kamera so aufgeschlossen ist und spricht, den Philosophen auf der Parkbank … Es ging dir ja um die Träume, die sie alle haben. Ich habe gelesen, dass das von den Erzählungen „Träume aus zehn Nächten“ von Natsume Soseki inspiriert ist.
EN: Ich las das, kurz bevor ich die Idee hatte, dass es um Träume gehen sollte, es bestärkte mich. Da geht es um die irrsten Träume, schöne, unlogische, alles, was man sich in der japanischen Kunst dazu vorstellen kann. Diese Freiheit innerhalb eines Traumes, wie er sich mit dem literarischen Material bewegt, damit umgeht. Ich fand das unendlich spannend und wollte es auch so machen. Ich bin überzeugt, dass wenn wir uns selbst bewahren wollen, es absolut wichtig ist, dass wir unsere Fähigkeit zu träumen bewahren. Es geht um etwas jenseits der sogenannten Wirklichkeit. Wir müssen uns unserem Inneren zuwenden. Dort können wir Trost und Hoffnung finden. Mir war das wichtig, diese Suche, und auch anderen Menschen dabei zu helfen. Als Regisseurin und Künstlerin ist es für mich zentral, mehr zu sehen als die Realität, etwas, das länger leben wird als der konkrete Zustand. Ich bin nicht dafür, den Menschen nur als Produkt seiner Umstände zu sehen. Sind die Menschen im Krieg Opfer? Ja, zweifellos. Aber ich will nicht, dass sie sich nur als Opfer, als Produkt der Umstände sehen. So sind sie für einander nicht interessant. Man wird leicht dazu verführt, aber ich will dieser Verführung widerstehen.
BW: Hast du deine Gesprächspartner*innen in diese Überlegungen eingeweiht?
EN: Nein. Sie fragten mich, was das für ein Film werden würde, wie er heiße. Ich sagte, ein Dokumentarfilm, mit dem Titel „Träume“. Was meinst du damit, fragten sie. An dieser Stelle versuchte ich dann, die Spuren zu verwischen. Mehr wollte ich über mich und zur Frage, warum ich mit einer Kamera ausgestattet bin, nicht sagen. Wir haben dann einfach angefangen zu leben.
CB: Vielleicht kommt daher das Gefühl, dass die Protagonist*innen im Grunde in sich selbst hineinhorchen. Hier setzt das Paradox ein, dass man etwas zeigen muss, was man nicht zeigen kann.
EN: Genau so ist es! Ich verstecke mich ja nicht, es geht nicht nur um sie, es ist ganz offensichtlich, dass während sie sprechen, ich auch da bin, ein Mensch mit einer Kamera. Meine Anwesenheit ist auch ein Teil des Dokuments. Ich spreche mit ihnen und sie mit mir. Wir spiegeln uns gegenseitig.
CB: Eine Frage zur Musikauswahl. Ich bemerke die Musik erst nach einem Drittel des Films und verstehe, dass auch sie etwas erzählt.
EN: Wisst ihr, bisher war es bei mir immer so, dass ich zuerst die Musik finde, und dann erst über den Film nachzudenken beginne. Das war bisher immer so. Diesmal aber tat ich mich schwer. Ich wusste, was für ein Film es werden würde, hatte aber keine Musik. Bisher trieb mich die Musik an, alles ergab sich daraus. Irgendwann kam dann alles von selbst, der Zugang zu den jeweiligen Protagonist*innen, zu jeder Episode auf der Straße. Ich habe viel Straßenmusik aufgenommen oder Musik, die an dem jeweiligen Ort zu hören ist. Ein Kirchenchor, ein Bajan-Spieler, Flötenspieler, Menschen, die auf der Straße spielen. Sie bestimmten die Situation und den Sound. Auch das geschah gleichzeitig mit allem anderen, dem Drehen und der Montage. Manche Musik hörte ich aus dem Fenster. So war es mit dem Marsch, der die Katzen begleitet. Ich hörte das so: Auf der Straße waren die Katzen, in meinen Ohren war die Musik.
BW: Wer sind die älteren Protagonist*innen, die schon frühere Kriege erlebt haben und davon erzählen?
EN: Da ist einmal Valery Bassel, Gott habe ihn selig. Wir arbeiteten gemeinsam, daher kannten wir uns. Er ist Schauspieler, spielte in zwei meiner Filme. Ein talentierter und hochintelligenter Mensch. Wir hatten es immer sehr lustig. Wir schätzten und verstanden einander. Ich besuchte ihn auch noch, als wir nicht mehr miteinander arbeiten konnten, als Freund. Er vertraute mir und ließ mich unser Gespräch aufzeichnen. Es gibt im Film diesen Moment, wenn seine Augen anfangen zu leuchten. Sie haben sich nicht verändert! Ja, er liebte das, charmant zu sein, zu flirten. Die Augen leuchten und er hört auf, ein alter Mann zu sein. Auch das war mir sehr wichtig: Das ist nicht nur ein alter Mann. Das ist ein Mensch, dessen Augen strahlen. – Da ist aber auch noch Dora. Eine Frau, die mitten im Gespräch ins Jiddische wechselt. Unsere Bekanntschaft geht so weit, wie sie im Film dargestellt ist: Wir haben uns nur einmal getroffen. Wir waren entspannt, so ging sie einfach ins Jiddische über, in ihre Sprache. Dann wurde sie müde, legte sich hin, und erzählte mir weiter. Sie war mit ihren Gedanken beschäftigt, ich mit meinen. So lief das ab. Ich bin sehr glücklich, so einen Menschen getroffen zu haben.
Dabei geht es nicht um Vergebung. Es sind Dinge passiert, die man nicht vergeben kann. Es geht darum, sich selbst zu bewahren, Mensch zu bleiben und den Wert und Sinn des Lebens zu verstehen.
BW: Was den Film besonders auszeichnet, ist, dass er gleichzeitig poetisch und authentisch ist. Mir gefällt, wie du von der Freiheit sprichst, denn das berührt das Paradox, das ebenfalls spürbar wird: Der Krieg ist omnipräsent und doch ist es ein Film, der keine Schwere hat, der leicht ist.
EN: Auch das liegt an der Besonderheit von Odesa. Wie ein Phönix kann die Stadt sich jedes Mal aufs Neue regenerieren. Sie spendet Energie. Ich wollte unbedingt auch in dieser schrecklichen, so schmerzhaften Zeit ehrlich bleiben und die Menschen nicht in etwas hineinziehen. Jetzt ist Krieg. Sprechen wir also über den Krieg. Selbst wenn ich das gewollt hätte: Dabei wäre nichts herausgekommen. Meine Aufgabe bestand darin, zu sehen und zu hören, woraus diese Menschen bestehen. Kann sein, dass das etwas ist, was man nicht erwartet, aber ich hoffe, dass es mir gelingt, auch den Zuschauer davon zu überzeugen.
BW: Siehst du deinen Film denn im Kontext der Filmindustrie bzw. der künstlerischen Ausdrucksformen im Krieg? Oder bist du eher frei von solchen Erwartungshaltungen?
EN: Das hat mich sehr beschäftigt. Ich verstehe ja, dass ein Film während des Krieges über den Krieg so nicht aussehen soll. Aber wir sprechen über Freiheit: Freiheit wird nicht gegeben, Freiheit nimmt man sich. Ich bin ein Risiko eingegangen. Von Beginn an – ein finanzielles. Ich dachte darüber nach und beschloss, ihn zu machen, was immer auch passieren würde, ich wollte das der Ehre wegen machen. Auch wenn es schrecklich ist und furchtbar klingt, aber es ist einfacher, mit aggressiven Methoden Eindruck zu machen, oder indem man Leid, Tränen, Blut filmt. Auch das ist wichtig, den Menschen das zu zeigen, all diese Dinge zu dokumentieren. Aber darüber hinaus ist es wichtig, den Menschen zu sehen, auch wenn er im Moment nicht weint. Vielleicht weint er morgen. Gott möge es ihm ersparen. Das heißt aber nicht, dass er deshalb uninteressant ist. – So ein Film wie meiner macht keinen starken, schrecklichen Eindruck. Er ist irgendwie fast zärtlich, oder? Aber genau darin bestand das größte Risiko. Ich fand, dass ich es so machen muss. Das ist meine Pflicht, weil ich mich in Odesa befinde. Auch in Odesa gibt es einen Friedhof mit Flaggen. Auch in Odesa finden täglich Beerdigungen statt. Jeden Tag. Aber in Odesa geht es darum, das alles zu überwinden. Und jedes Mal, wenn ich meine Tante anrufe, nach jedem Luftangriff, frage ich: „Und?“, und sie: „Das Leben geht weiter.“ Und das Leben geht weiter. Ich musste mich zurückhalten. Daher schätze ich es sehr und bin sehr dankbar, dass ihr meinen Film trotzdem erkannt habt und ihn schätzt. Ich hoffe sehr, dass uns allen ein Leben nach dem Krieg gegeben sein wird. Dabei geht es nicht um Vergebung. Es sind Dinge passiert, die man nicht vergeben kann. Es geht darum, sich selbst zu bewahren, Mensch zu bleiben und den Wert und Sinn des Lebens zu verstehen.
BW: Eingangs sagtest du, dass es in Odesa während des Drehs noch nicht so schrecklich war wie heute. Wäre es aktuell schwieriger, diesen Film zu machen?
EN: Eigentlich nicht. Es gab genug gefährliche Situationen, genug Schreckliches. Aber wenn ein Mensch arbeitet, einen Film dreht – dann hat man keine Angst. Es gab sogar eine Zeit, als dieser Getreidedeal wirklich in Kraft war, und uns schien es so, als sei es der Bewahrer der Ruhe in der Stadt. Ich weiß nicht, ob das ein Zufall war oder nicht, aber davor und danach, als alles sehr angespannt war, beschlossen mein Mann und ich, dass wir kein Recht haben, gemeinsam in Odesa zu sein, denn wir haben ein Kind und das darf keine Waise werden. Darüber sprachen wir. Es gab Momente, da schien es, dass wir fahren müssen, aber wir durften das Verwaisen unseres Kindes nicht riskieren. Auch jetzt, in all diesem Horror, ist das alles aber nicht mit jenem Ort zu vergleichen, an den meine Kolleg*innen fahren, an die Frontlinie, das ist wahrlich schrecklich. Mir scheint, dass ich verstehe, was zugleich schrecklich und nicht-schrecklich ist.
CB: Ich sehe in deinem Film zwar einen Krieg, aber auch eine Gesellschaft, die Widersprüche ohne Streit ausbalancieren kann, und eine solche Gesellschaft ist nicht leicht besiegbar. Auch darin liegt eine Perspektive für die Hoffnung, die dieser Film gibt.
EN: Ja, es gibt diese Einstellungen, in denen die Mädchen Selfies machen. Jeder Mensch ist nur einmal 20, oder 48 oder 54. Das ist nicht wiederholbar. Man muss diese Momente also mit vollem Elan erleben. Die Mädchen mit 20 wissen das. Mädchen mit 20 kannst du nicht besiegen. Eine Gesellschaft wie die in Odesa weiß, dass es Dinge gibt, die man aktuell, heute, nicht besiegen kann. Ich hoffe sehr, mit meinem Film den Menschen beim Hoffen zu helfen.
BW: Mir scheint, dass wir mit dieser hoffnungsvollen Intonation enden sollten!
EN: Einen Riesendank auch euch! Es war sehr interessant für mich, mit euch zu sprechen.