Die Schönheit von O TRIO EM MI BEMOL liegt in der Interesselosigkeit an der Vorlage, Éric Rohmers gleichnamigem Theaterstück.
Im November 2020, im ersten Jahr der Pandemie, zieht sich Rita Azevedo Gomes mit einer Gruppe von Schauspieler*innen und Techniker*innen in ein Strandhaus im Norden Portugals zurück, um einen Film zu machen. Die Arbeitsgrundlage ist „Le trio en mi bémol“, das einzige Theaterstück von Éric Rohmer, in dem ein Mann, Paul (Pierre Léon), und eine Frau, Adèle (Rita Durão), die sich vor langer Zeit getrennt haben, durch ihre gemeinsame Liebe zu Mozarts „Kegelstatt-Trio“ für Klavier, Klarinette und Bratsche wieder zusammenfinden.
Herausgekommen ist weniger eine Verfilmung des Stücks (das Rohmer selbst 1988 fürs Fernsehen inszeniert hat), als ein Film über dessen Verfilmung unter der Regie des in die Jahre gekommenen Jorge (Ado Arrieta). Filmszenen, Proben, das Leben am Set und die Träume des Regisseurs werden voneinander ebenso ununterscheidbar wie der Film von Azevedo Gomes und jener von Jorge. Die Fiktion von Azevedo Gomes Films besteht in nichts anderem als der Fiktionalisierung seiner eigenen Entstehung. In DIÁRIOS DE OTSOGA (2021) hat ihr Regiekollege und Namensvetter Miguel Gomes (zusammen mit Maureen Fazendeiro) den ersten Lockdown in Portugal für ein ähnliches Experiment genutzt.
Rita Azevedo Gomes greift wieder auf eine literarische Vorlage zurück wie in ihren vorangegangenen, bild- und diskurgewaltigen A VINGANÇA DE UMA MULHER (2012, nach Barbey d'Aurevilly), CORRESPONDÊNCIAS (2016, nach dem Briefwechsel zwischen Jorge de Sena und Sophia de Mello Breyner Andresen) und A PORTUGUESA (2018, nach Robert Musil). Doch diesmal tauscht sie die Entfaltung der Historie gegen die Gegenwart ein, und das opulente Breitwand- gegen das intime Kastenformat. Das korrespondiert mit dem Minimalismus von Rohmers Stück, das nur ein Dekor und zwei Schauspieler*innen benötigt: Léon und Durão, mit denen die Regisseurin schon zuvor zusammengearbeitet hat. Azevedo Gomes‘ O TRIO EM MI BEMOL (The Kegelstatt Trio) hat etwas vom Klassizismus von Rohmers Filmen, die in dieser Hinsicht in der Tradition von Howard Hawks stehen. Der bevorzugte Ort ist ein Innenraum, die Kameraführung aufs Wesentliche reduziert, im Mittelpunkt stehen die Figuren, ihre Ideale und Beziehungen zueinander, die durch den Dialog ausgehandelt werden.
Gleichzeitig zimmert Azevedo Gomes aus den Ästhetiken von Kino, Theater, Malerei und Musik einen heterogenen Bildraum, der von einer wuselnden Wirklichkeit, einer abschweifenden Wahrnehmung bestimmt ist. Immer wieder erkundet die Kamera den Garten vor dem Haus, verdecken Bäume und Blätter das Bild. Die formale Geschlossenheit der statischen Einstellungen öffnet sich für ein florales Wuchern und die häusliche Bühne für ein Draußen, das sich bis zum nahen Strand erstreckt, wo Jorge ein Nickerchen hält. Azevedo Gomes‘ Filme bewegen sich an einer Grenze, an der der Traum vom Bild Besitz ergreift, oder wir aus dem Traum (der Fiktion, dem Theater, dem Text Rohmers) aufwachen, um uns inmitten der realen, verrückten Diversität der Welt (den Dreharbeiten) wiederzufinden. Dass auf diese Weise ein Filmemacher die Kontrolle über seine Schöpfung verliert, setzt die Dezentrierung männlicher Hegemonie fort, wie sie Azevedo Gomes schon in A PORTUGUESA mit viel Ironie betrieben hat.
Adèle sagt zu Paul, sie wolle lieber in einem „vrai désaccord“, in wahrer Uneinigkeit oder Unstimmigkeit mit ihm leben, als in einem „faux accord“ („falschem Einverständnis“) mit anderen. Unstimmig und aufeinander unabgestimmt wirkt in Azevedo Gomes‘ O TRIO EM MI BEMOL auch das Spiel von Jorges Schauspieler*innen, die unsicher, unfertig und suchend wirken, wie Gefangene einer ewigen Probe. Sie vergessen ihren Text, lesen ihn vom Blatt, machen Fehler, korrigieren sich. Nichts klingt richtig, ohne dass Jorge ihnen sagen könnte, wie es denn richtig klingen sollte. Wie sollen Paul und Adèle unter diesen Umständen je zueinander finden?
Ähnlich wie im Kino von Straub/Huillet sind die Schauspieler*innen bei Azevedo Gomes in erster Linie Körper, die in einem Widerstandsverhältnis zu einem Text stehen, den sie – falsch und verstimmt – vertonen, aufsagen und rezitieren, ohne ihn in einem realistischen Sinne zu verkörpern. Entweder sie widerstehen ihm (durch Desinteressiertheit und Abgelenktheit), oder er widersteht ihnen (sobald er ihnen entfällt). Ansonsten erhält Rohmers Text Gesellschaft von dem Gezwitscher der Vögel oder einem überraschenden Anschlag auf einem (seinerseits ungestimmten) Klavier, als läge er ungeschützt im Zentrum des Films: durchlässig für sämtliche Störgeräusche und -aktionen, resorbierbar von aller Welt.
Im Abspann bedankt sich Azevedo Gomes bei den Mitwirkenden für ihre „desinterested collaboration“, ohne die es den Film nicht gegeben hätte. Die Schönheit von O TRIO EM MI BEMOL liegt in der Interesselosigkeit an seiner Vorlage, die hier nur etwas ist, was vorliegt – und liegengelassen werden kann. Am Ende von Rohmers Stück wird die Erbringung des Liebesbeweises zwischen Paul und Adèle vom Zufall sekundiert. In ihrem fiktiven „Making of“ stellt Azevedo Gomes den in die Dreharbeiten einbrechenden Zufall selbst ins Zentrum, ebenso wie die Fröhlichkeit und Eleganz von Mozarts Musikstück, und das Glück, gemeinsam einen Film machen zu können – ausgehend von welcher Vorlage auch immer.
Philipp Stadelmaier hat an der Goethe Universität Frankfurt und der Université Paris 8 in Filmwissenschaft promoviert, ist Filmkritiker („Süddeutsche Zeitung“, „Filmbulletin“, „Sissymag“, „Zeit Online“) und Schriftsteller.