Europe – als Bushaltestelle, Habitat, Grenze; als die Gegenwart, Zukunft, Zeit in der Irre; als Fiktion – Kinofiktion, staatlich angeordnete Fiktion, widerständige Skizze ihres Lebens; als Figur, imaginierter Rahmen, flüchtiges Leben, Rätsel; als Zurückweisung von Konventionen, zutiefst erschütterter Grund, aus der Erzählung geworfen, sichtbare strukturelle rassifizierte Gewalt.
Zohra Hamadi, die Protagonistin von EUROPE (gespielt von Rhim Ibrir), sehen wir zunächst in Gestalt eines Bildes, nämlich auf Röntgenaufnahmen ihrer Wirbelsäule. Die schwierige medizinische Behandlung, die sie durchgemacht hat, wird für erfolgreich erklärt. Jetzt kann sie ihr „normales“ Leben beginnen, also das, was normalerweise als eine durch Arbeit, Familie, Freund*innen, Nachbar*innen, tägliche Routinen in ein Umfeld eingebettete Existenz wahrgenommen wird – ein sichtbares, hörbares, wahrnehmbares Leben. Als Zuschauerin begegne ich Zohra zunächst so, einer Figur, deren Handlungen und Beziehungen ich verfolgen, zu denen ich mich in Relation setzen kann – wie ich es im Kino gewohnt bin –, auch wenn das immer nur teilweise möglich ist. Aber EUROPE entfaltet Zohras Geschichte durch vier aufeinander folgende Klang- und Bildregister und verstört so zusehends meine durch das Medium vermittelte Beziehung zu ihrer Figur. Ich fühle mich eines stabilen Grundes beraubt, von dem aus ich entscheiden könnte, wo sie sich in der Geschichte befindet und wer diese vorantreibt – falls ich mich je im Besitz dieses Wissens geglaubt haben sollte. Der Vertrag, den ich mit Eintritt ins Kino abgeschlossen zu haben glaube, wird bis zum Zerreißen gedehnt, wenn Gegenschuss-Aufnahmen ausbleiben, der Ton wie verschluckt ist und die zeitliche Abfolge verschwimmt. Dabei aber nimmt Zohra – eigensinnig, verspielt und selbstbewusst – ihr Bild, ihre Zeit und ihre Geschichte selbst in die Hand und in ihre eigene Vorstellungskraft und lässt mich als Betrachterin in einer mächtigen kinematischen Lücke mit drängenden politischen Möglichkeiten zurück.
Zwischenräume
In Philip Scheffners HAVARIE (2016) ist Rhim Ibrir bereits zu hören, ihre Stimme eine klangliche Intimität, mit verschiedenen Soundscapes, mit den Berichten und Worten anderer in einem Netz aus Hörbarem verbunden, während wir aus der Perspektive eines Kreuzfahrtschiffs unausgesetzt auf das Blau des Mittelmeers blicken, in einiger Entfernung das kleine Schlauchboot mit Menschen darin. Merle Krögers multiperspektivischer Kriminalroman „Havarie“ stellt Zhora Hamadi vor, die entschlossen ist, in Frankreich zu bleiben. Hier wartet sie auf ihren zukünftigen Ehemann, der in der Nacht, in der der Roman spielt, aus Algerien ankommen soll.
HAVARIE und „Havarie“haben sich aus einem gemeinsamen Recherche-Prozess entwickelt, bei dem Kröger und Scheffner detailliert und mit Umwegen diverse Geschichten und historische Stränge verfolgten, die in Beziehung zum Mittelmeer stehen. Film wie Roman arbeiten mit der und über die Zeit und haben dafür jeweils unterschiedliche formale Entscheidungen innerhalb ihrer jeweils eigenen Medien getroffen. Kurze, temporeiche Sätze, eine Literatur, die ruhelos ist; ein kurzes Video, das auf neunzig Minuten gedehnt wird, dabei seltene Fokuswechsel. Die eine wie die andere Form bringt Lücken und Räume hervor – Wissenslücken, biografische Lücken, Lücken zwischen Bild und Ton, Räume zum Denken, Räume, in denen Unbehagen erlebt werden kann. Film wie Buch erweitern die Wahrnehmung dokumentarischer Praxis mit politischen Zielen. Sie stellen die Ereignis- und Opfer-zentrierte Nachrichtenreportage in Frage, indem sie jenen Konventionen und Strukturpolitiken trotzen, die Dichotomien von Wir und Sie perpetuieren. Sie hinterfragen so die Fiktion namens Europa, jene Fiktion, die ungezählte Tode verursacht.
In EUROPE wird Zohra Hamadi von Rhim Ibrir dargestellt. Sie sagt: „Sie spielt all das, aber es ist kein Spiel für sie. Für sie ist es wahr, was sie spielt. Der Film hört nicht auf. Selbst wenn sie den Film verlässt, lebt sie immer noch das, was sie gespielt hat.“
Einer der entscheidenden Beiträge von Merle Kröger und Philip Scheffner zu Praxis und Diskurs des Dokumentarischen ist die Sorgfalt, mit der sie zugleich die Strategien von staatlicher Politik wie die (auch medial) vermittelnden Kräfte in unterschiedlichen Kontexten hinterfragen und ihre eigenen Bild-, Ton- und Erzählstrategien dabei keineswegs ausklammern. Modi des Dokumentarischen oder Fiktionalen sind nie Regelwerke, die man erfüllt, sondern etwas, das kritisch untersucht werden muss. Formentscheidungen sind immer politische, ästhetische und technische Interventionen, die die eigenen Mittel und ihre Wirkungen reflektieren. Die feinfühlige und gründliche Auseinandersetzung mit Genre-Erwartungen und -Strategien hat zu einer Reihe bemerkenswerter Kollaborationen geführt, sei es bei der anti-kolonialen Geistergeschichte THE HALFMOON FILES (2007), dem politischen Naturfilm DER TAG DES SPATZEN (2010) oder dem in ein filmisches Tribunal verwandelten Gerichtsfilm REVISION (2012).
Indem sie Genre-Parameter einerseits ernst nehmen, sie zugleich aber eigenwillig umsetzen, eröffnen die Filme Optionen für neue Beziehungen zu den Protagonist*innen und ermöglichen den Betrachter*innen eingeübte Konventionen zu verlernen. Das kann dazu führen, die Vorstellung davon, was ein Zeugnis oder einen Zeugen ausmacht, zu erweitern, oder dazu, zu verlernen, den in eine Landschaft eingebetteten Krieg nicht zu sehen, oder dazu, koloniale Tonaufnahmen neu zu hören. Die Revision konventionellen Erzählens, das Aufspüren multipler Anfänge und das Verweigern narrativer Schließungen, die Auseinandersetzung mit Zeit als Medium und als Form der Gewalt, die Suche nach neuen Formen kinematischer Adressierung, die die komfortable Zuschauer*innenposition aushebeln – all das bleiben Schlüsselaspekte von Krögers und Scheffners filmischer und schriftstellerischer Praxis. Statt Auflösungen oder Reparationen bietet jede ihrer Arbeiten, indem sie unsere Bindungen an die medialen und politischen Konventionen betont, eine Struktur der Verantwortlichkeit. 1Vgl. Nicole Wolf (ed.): „Grenzfälle. Dokumentarische Praxis zwischen Film und Literatur bei Merle Kröger und Philip Scheffner“, Berlin: Vorwerk 8, 2021.
Staatlich durchgesetzte/angeordnete Fiktion
Der fiktionale Modus von EUROPE hat sich so nicht nur aus einem Prozess des dokumentarischen Arbeitens heraus entwickelt – der bei den Recherchen zu HAVARIE/„Havarie“ begann –, und nicht nur durch die kollaborativen Proben für verschiedene Biografien an Spielfilm-Sets in Chatellerault. EUROPE nimmt die konzeptuellen und politischen Forderungen der vom Staat über Zohra Hamadi verhängten Fiktion äußerst ernst, einer Fiktion, die sie zum Verschwinden bringt, die es ihr unmöglich macht, ein „normales“ Leben zu führen. Ein mächtiges Instrument dieser brutalen Fiktion ist wiederum: die Zeit. Die staatliche Bürokratie hat gerade einmal zwei Minuten übrig, ein Anwalt vielleicht fünf bis sieben. Wie lässt sich diese brutale Fiktion kritisch vermitteln, und zwar so, dass sie deren Gewalttätigkeit zugleich benutzt und unterminiert und sie dadurch schwächt? Indem Zohra Hamadi sich die Freiheit nimmt, über ihre eigene Zeit zu bestimmen und ihre eigene Geschichte zu formen, trotzt sie der oft tödlichen Fiktion des Staates. Die Form der Adressierung, die EUROPE dabei bietet, die Destabilisierung, die eine Betrachter*in für die Dauer des Films womöglich erfährt, könnten eine der wenigen Gelegenheiten sein, bei denen man aus den Konventionen katapultiert wird, in jene Lücke des Nicht-Wissens, in der sich die Wahrnehmung ändert, in der man mögliche Beziehungen nicht als selbstverständlich, sondern als Herausforderung für das Begreifen versteht.
EUROPE führt „Fiktion als Methode“ 2Siehe auch: Jon K Shaw, Theo Reeves-Evison (ed.): „Fiction as Method“, Berlin: Sternberg Press, 2017. an eine notwendige Grenze. Der Film untersucht die Mechanismen von Zwangs-Fiktionen genau und analysiert die eingeübten Konventionen der Fiktion als Genre – und er vermeidet beides zugunsten einer Fiktion, die verweigert (und trotzig) Widerstand leistet, während sie die Gewalt, die Fiktionen ausüben können, niemals vergisst. Das ist nicht weniger als eine Frage des Überlebens. EUROPE macht diesen Sachverhalt auf eindringliche Weise und mit den Mitteln des Kinos wahrnehmbar. Es ist, was man sieht, nicht gespielt, der Film endet nicht.
Nicole Wolf lebt in Berlin und London, sie ist Lecturer in Visual Cultures (Goldsmiths, University of London) und Herausgeberin von „Grenzfälle. Dokumentarische Praxis zwischen Film und Literatur bei Merle Kröger und Philip Scheffner“, Berlin, Vorwerk 8, 2021.
Übersetzung: Ekkehard Knörer