FÜR DIE VIELEN – DIE ARBEITERKAMMER WIEN zeigt das Verhältnis vom Institutionellen zum Organisatorischen – die Pandemie hat dabei geholfen
Blick von Außen auf ein Verwaltungsgebäude mit bläulichen Fenstern; verschiedene Perspektiven. In die Fassade eingelassen ein Logo. Es ist Winter. Titel und Untertitel: FÜR DIE VIELEN –DIE ARBEITERKAMMER WIEN. Ortswechsel nach Innen: eine Eingangshalle und Klient*innen aus der Sicht der Rezeptionistin. Sich ähnelnde Probleme, meist geht es um nicht bezahlte Löhne. Zuweisung zu einem Wartebereich.
Gäbe es den Untertitel nicht, könnte man aus deutscher Sicht denken, man befinde sich in einem Arbeitsamt oder bei einer Beratungsstelle einer Gewerkschaft. Auf jeden Fall hat man das Gebäude einer Organisation betreten, die bestimmte soziale Funktionen übernimmt. Zentral ist die Beratung von Arbeitnehmer*innen. Die Organisation hat also eine Seite, die nach Außen hin geöffnet ist, es gibt Publikumsverkehr; und sie hat eine interne Seite, die das Publikum nur indirekt erreicht. Hier werden Veranstaltungen geplant, das eigene Handeln kontrolliert und Rechenschaft gegenüber einem weiteren Außen abgegeben: der Politik.
Die Organisation der Arbeiterkammer ist eine staatsnahe Einrichtung. Ähnlich der staatlichen Verwaltung ist sie entsprechend hierarchisch aufgebaut. Einige Personen haben Namen und einen hohen Redeanteil in den internen Sitzungen. Man sieht sie nicht im Gespräch mit Rat suchenden Klient*innen, sondern im Kreis von Mitarbeiter*innen oder bei öffentlichen Ereignissen. Sie halten Reden im Namen der Organisation, sie eröffnen Veranstaltungen, sie sprechen im Parlament und vor Fernsehkameras. Im Rahmen der Organisation haben sie Macht, gegenüber der Politik sind sie weisungsgebunden. Unter ihnen agieren Abteilungsleiter mit speziellen Aufgabenfeldern. Unter ihnen stellen einfache Angestellte das alltägliche Funktionieren sicher, indem sie Post verteilen, Aktenwagen über die Flure schieben und Klient*innen Warteräumen zuweisen.
Organisationen sind sichtbar und beobachtbar; verfügen sie über Räume, gar Häuser, sind sie leicht vom Rest der Gesellschaft abtrennbar. In diesen Räumen werden Redeanteile hörbar und Handlungsspielräume Einzelner etwa in Sitzungen einsehbar, vor allem bei Teilnahme von Akteur*innen verschiedener Ebenen der internen Hierarchie. Als sicht- und hörbare Einrichtungen sind Organisationen immer wieder Sujets dokumentarischer Filme gewesen. Besonders die britische Dokumentarfilmschule der dreißiger Jahre hatte (staatliche) Organisationen (und ihre Vorteile) im Blick, wie die Post in NIGHT MAIL (1936) oder die Feuerwehr in FIRES WERE STARTED (1943), die Leistungen für viele erbringen und sie also davon entlasten, ein Feuer selber löschen oder einen Brief selber überbringen zu müssen. Aber auch dokumentarisch arbeitende Autorenfilmer wie Harun Farocki oder Hartmut Bitomsky haben sich Organisationen zugewandt, wenngleich vielfach in nur wenigen exemplarischen Situationen, wie Farockis Beobachtung der Präsentation einer Werbeagentur vor einem Kunden in DER AUFTRITT (1996). In jüngster Zeit sind verstärkt Bildungseinrichtungen in den Fokus gerückt, wie Volkshochschulen und Schulen, zuletzt etwa in HERR BACHMANN UND SEINE KLASSE (2021).
In all diesen Filmen kommen Organisationen sehr unterschiedlich akzentuiert in den Blick; die Aufmerksamkeit kann beispielsweise auf den sozialen Rollen von Schüler*innen und Lehrer*innen liegen und die hierarchische Struktur der Schule insgesamt vernachlässigen oder sie kann wie im Falle des Films über die britische Post auf der Zwecksetzung der Organisation selber liegen und die ausführenden Individuen vernachlässigen. Immer aber werden Organisationen sichtbar über die Spezifik der in ihnen ablaufenden Handlungen und Redeweisen, die ihrer Funktion Ausdruck geben, und alle Filme geben Antworten auf Fragen wie diese: Wozu dienen ein Zoo, eine Universität, eine Fabrik? Und welche Handlungsspielräume bleiben dem Personal?
Warum aber sprechen Filmkritiker*innen so gerne über „Institutionen“, wenn sie etwa über Frederick Wiseman schreiben, jenen amerikanischen Regisseur, der sowohl staatliche Einrichtungen wie das Militär als auch private wie ein Kaufhaus dokumentiert hat? Und auch Constantin Wulff, der in der Tradition von Wiseman steht, wird zugeschrieben, Institutionen zu porträtieren wie in seinem Film IN DIE WELT (2010) über eine Geburtsklinik oder WIE DIE ANDEREN (2015) über eine Kinder- und Jugendpsychatrie.
Das Institutionelle lässt sich etwa dadurch sichtbar machen, dass sich Handlungen wiederholen, die gerade nicht der persönlichen Motivation eines Akteurs entspringen, sondern einer Art anonymisiertem Handlungszwang gehorchen.
Im Gegensatz zu Organisationen scheint weit weniger klar, was eine Institution ausmacht. So kann man sagen, dass der Louvre eine Pariser Institution sei, wenngleich man damit nur meint, der Louvre sei bekannt für und in Paris. Selbst bei dem „Institutionenfilmer” Frederick Wiseman bleibt unklar, ob er Organisationen dokumentiert oder tatsächlich Institutionen. Die zuständige Soziologie ist ebenfalls nicht eindeutig, neigt aber dazu, die Institution eher in die Unsichtbarkeit zu rücken und darunter Regelsysteme zu verstehen, die das soziale, politische, wirtschaftliche oder kulturelle Leben steuern. Daher spricht man bei Ehe und Familie eher von einer Institution als von einer Organisation, obwohl beide formaljuristische Vertragsverhältnisse beinhalten, denen Zwecke immerhin unterstellt sind. Da die Terminologie also uneindeutig ist, ist es auch im vorliegenden Fall klarer, von der Arbeiterkammer primär als einer Organisation zu sprechen und erst im zweiten Schritt danach zu fragen, was in ihrem beobachtbaren Funktionieren institutionell sein könnte.
Da das Institutionelle als Regelhaftes, als Anforderungen oder Normen des Verhaltens beschrieben wird, lässt es sich etwa dadurch sichtbar machen, dass sich Handlungen wiederholen, die gerade nicht der persönlichen Motivation eines Akteurs entspringen, sondern einer Art anonymisiertem Handlungszwang gehorchen. So ist das Zustellen der Post der spezifischen Funktion der Arbeiterkammer gegenüber zwar zweitrangig, aber in hohem Maße institutionell, ein täglicher, verlässlicher Ritus in jeder Organisation.
Durch den Zeitpunkt der Dreharbeiten hat FÜR DIE VIELEN eine große Chance, das Institutionelle im Verhältnis zum spezifisch zweckgebundenen Organisatorischen zu thematisieren. Mitten in den Dreh fiel die Pandemie. Eine Einladung an den französischen Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty („Das Kapital im 21. Jahrhundert“), sein neues Buch in Wien vorzustellen, bildet die Schnittstelle für die Zeit vor und mit Corona, vor und nach dem ersten harten Lockdown in Österreich im März 2020. Gerade in einer Zeit, die alles unterbricht und alles durcheinanderbringt, zeigt sich der Vorteil institutionellen Handelns besonders. Und so erlebt man mit der Arbeiterkammer eine Organisation, die mit den gleichen Maßnahmen wie jede andere (Ankauf von Laptops, Home-Office, Umstellung von vor Ort Maßnahmen auf medial vermittelte) dennoch ihren spezifischen Zielen nachkommen kann.
Gerade weil die Arbeiterkammer staatliches Handeln ohnehin unterstützt, kann sie auf die pandemiebedingten Forderungen der Politik so gut reagieren. Ihre traditionelle Kooperation mit dem Österreichischen Gewerkschaftsbund versetzt sie in die Lage, auf arbeitsrechtliche Anforderungen und tarifvertragliche Regulierungen problemlos einzugehen, und ihre Forschungsabteilung, ohnehin mit Datenerhebung befasst, kann schnell ausmachen, wer die Verlierer der Pandemie auf dem Arbeitsmarkt sein werden. Damit zeigt der Film exemplarisch auch, wie die Langlebigkeit von Institutionen der Organisation hilft, mit Ausnahmezuständen fertig werden.
Eva Hohenberger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaft an der Ruhr-Universität-Bochum.