In Raul Domingues Film regieren die Erde und das Kino.
Frei nach Claude Lévi-Strauss und dem von ihm geprägten Begriff des „wilden Denkens“, könnte man Raul Domingues Ansatz in TERRA QUE MARCA (Striking Land) als „wildes Sehen“beschreiben. Was er vorschlägt, stemmt sich gegen eine rationalisierende Wahrnehmung der Welt. Stattdessen wird unser Verständnis von Raum und Zeit hinterfragt, um eine andere Ordnung, eine andere Beziehung zur Umgebung herzustellen. In dieser neuen Ordnung ersetzt im Wind zitterndes Laub Plot Points, ein aufleuchtender Blitz dramaturgische Spannung und das Schälen einer frischgepflückten Orange eine Epiphanie. Um den Film zu beschreiben, bräuchte es eigentlich auch eine andere Sprache, als die, mit der man dem Kino normal begegnet.
TERRA QUE MARCA ist nah am Boden gebaut. Am Grund aller Dinge. Es ist ein Film über die wortwörtliche Erde, auf der wir leben. Wortlos kriecht die Kamera vorbei am Flechtwerk der Wurzeln zum Licht. Schlamm, verbuddelte Samen, asphaltierte Straßen, Wasserkanäle, hervorschießende Pflanzen. Eine wortlose, tellurische Hymne. TERRA QUE MARCA ist sinnliche Ethnografie. Gefilmt in einigen portugiesischen Dörfern nördlich von Leiria interessiert sich der Film allerdings weder für die konkrete Arbeit der Landwirte noch für eine idyllische Verklärung der Natur. Stattdessen trachtet Regisseur Raul Domingues danach, die Wahrnehmung jener, die mit der Erde arbeiten, auf Film zu bannen.
Die Menschen bewegen sich in diesem Film wie anderswo die Ameisen. Unermüdlich rackern sie. Sie errichten, pflügen, sähen, wässern, stampfen, zerstören, bauen. Kurz: sie arbeiten
Das betrifft Raum und Zeit. Der Raum kann nicht abstrakt gedacht werden in TERRA QUE MARCA. Stattdessen stellt sich eine durchaus kosmische Verbindung zwischen den Dingen her. Fallende Bäume, sprühender Dung, hüpfende Rotkehlchen, ein Gewitter, blühende Blumen. Alles geht auseinander hervor. Diese Verbindungen nimmt man dann stärker wahr, wenn man mit der Erde lebt und sie nicht fernhält. Die Menschen bewegen sich in diesem Film wie anderswo die Ameisen. Unermüdlich rackern sie. Sie errichten, pflügen, sähen, wässern, stampfen, zerstören, bauen. Kurz: sie arbeiten. Und irgendwann essen sie, was ihnen die Arbeit gebracht hat.
Aber auch die Zeitwahrnehmung ändert sich. Eine andere Dauer, eine andere Empfindsamkeit. In TERRA QUE MARCA gibt es keine Uhren oder Kalender. Die Natur bestimmt die Zeit. Zyklisch und plötzlich. In dieser Hinsicht reiht sich der Film ein in eine lange Reihe von Arbeiten, die sich mit der Landwirtschaft befassen. FARREBIQUE (1946) von Georges Rouquier etwa ist ein Film, in dem Zeit nach dem wiederkehrenden Prinzip der Jahreszeiten organisiert ist. Da die Natur nicht weiß, ob heute Montag oder Dienstag ist, müssen sich die, die mit ihr leben, nach diesem, vom Menschen losgelösten Zeitempfinden richten. Die meisten Abläufe der Erde dauern länger als ein Film. Um sie zu registrieren, muss sich das Kino verändern.
Wie Rouquier macht Domingues einen Vorschlag für ein Kino, dass die Welt anders sieht. Es ist ein politischer Vorschlag. Aber statt Parolen gibt es Bilder und Töne. Die Kamera muss unentwegt auf das reagieren, was sie nicht ahnen konnte. Sie kontrolliert nicht mehr. Sie kann nicht vorhersehen, dass ein Blatt vom Baum fällt oder wann ein Blitz zwischen dem Donnern am Himmel aufleuchtet. Die Erde kann nicht für das Bild umgetopft werden. Niemand kann einen Ast beschneiden, damit man mehr sieht. Niemand kann schöne Blumen ins Bild schieben. Nein, die Erde regiert, das Kino reagiert.
Der Film begehrt, ins Innere der Erde zu reisen. Bilder zu machen, wo es nur Dunkelheit gibt. Dort wo die letzten Geheimnisse dieses Planeten vergraben sind, endlich lernen, ihn zu respektieren
Wir leben in einer Zeit, in der unser vom Kapitalistismus geprägtes Verhältnis zur Erde umgeschichtet werden muss. TERRA QUE MARCA konfrontiert uns mit einer bereits existierenden Fasson, mit der Erde zu leben, statt sie auszubeuten. Dabei geht es keineswegs um eine Utopie. Es geht um eine Arbeit, die zunächst in eine Aufmerksamkeit und dann in ein Bewusstsein führt. Ein anderes Bewusstsein. In jüngeren Debatten liest man etwa wiederholt von den problematischen Auswirkungen der Bodenversiegelung. In TERRA QUE MARCA spürt man, dass die Erde atmen muss. Man sieht, dass sie uns alles abverlangt, aber auch, dass sie uns belohnt. So wird aus einem Steckling ein großer Baum, der Orangen trägt.
Der Film begehrt, ins Innere der Erde zu reisen. Bilder zu machen, wo es nur Dunkelheit gibt. Dort wo die letzten Geheimnisse dieses Planeten vergraben sind, endlich lernen, ihn zu respektieren. Mit den Larven, Bakterien, Würmern und Engerlingen zu leben. Einmal befindet sich Dreck auf der Kameralinse. Ein anderes Mal bricht das Sonnenlicht in tausend Farben. Was kann das Kino vom Boden lernen? Unter der Erde ruhen Vergangenheit (Zeitschichten, Fossilien, Knochen) und Zukunft (alles, was zum Licht hin wachsen, explodieren, ausströmen wird). Die Kamera kann nur die Gegenwart registrieren. Aber wie ein Gärtner, den der berühmte Landschaftsarchitekt und Autor Gilles Clément einmal als jemanden beschrieb, der die Hände in die Erde steckt und dabei zum Himmel schaut, kann ein Filmemacher mit der Vergangenheit und Gegenwart an der Zukunft arbeiten.
Patrick Holzapfel arbeitet als Autor, Filmemacher und Kurator, er betreibt die Website „Jugend ohne Film“ und schreibt derzeit an seinem Debütroman „Hermelin auf Bänken“.