Auf die Arbeiterkammer bin ich in einer Zeit aufmerksam geworden, die ich in gesellschaftspolitischer Hinsicht als sehr bedrückend in Erinnerung habe. Es waren die Jahre 2018/19, als ÖVP und FPÖ in Österreich eine Regierungskoalition bildeten: ein Bündnis aus einer radikalisierten konservativen ÖVP (Sebastian Kurz) und einer extremen rechten FPÖ. Die Zeit war wegen der Dominanz der Regierungspolitik so bedrückend und wegen der Vehemenz, mit der Gesellschaft und Staat nach autoritären Gesichtspunkten umgebaut wurden und der die Oppositionsparteien nichts Substanzielles entgegenzusetzen hatten. Die einzig wahrnehmbare Opposition kam aus meiner Sicht aus der Zivilgesellschaft und sachpolitisch von den Gewerkschaften – und eben von der Arbeiterkammer.
Über die Arbeiterkammer wusste ich, dass ihre Geschichte mit jener der Sozialdemokratie in Österreich und der Gewerkschaftsbewegung eng verbunden ist und dass ihre Leistungen für viele von großer Bedeutung sind. Aber wie die meisten Menschen in Österreich wusste ich von den Tätigkeiten der Arbeiterkammer kaum etwas und es gab nur wenig relevante Literatur oder Filme über diese international gesehen einzigartige Institution. Das fand ich reizvoll, denn für mein Verständnis von Dokumentarfilm ist es ganz zentral, dass ich Dinge entdecke, die ich vorher noch nicht kannte.
Meine filmische Methode der Darstellung von Institutionen ist das Direct Cinema, das beobachtende Kino: keine gestellten Szenen, keine Interviews, kein erklärender Off-Kommentar. Diese Methode hat zur Folge, dass man sich sehr viel Zeit nehmen muss, in der Recherche als auch beim Drehen und vor allem in der Montage, um über das bloße Abbilden hinauszukommen. Direct-Cinema-Filme sind Entdeckungsreisen und in diesem Sinne habe ich auch das Drehen in der Arbeiterkammer gestaltet, als offenes Unternehmen. Für mich gibt es im Bereich des Dokumentarischen nichts Ärgerlicheres als „scripted reality“ oder das Konzept des dokumentarischen „Themenfilms“, wo der Film lediglich zeigt, was er vorher schon weiß. Für mich ist Dokumentarfilm das genaue Gegenteil davon: eine Konfrontation mit der Wirklichkeit.
Das Direct Cinema scheut im Gegensatz zu den üblichen Konventionen des Dokumentarischen das Paradoxe nicht und begegnet dem Realen grundsätzlich in Erwartung des Unerwarteten.
FÜR DIE VIELEN ist mein dritter Film über eine öffentliche Institution in Österreich. Die Arbeiterkammer in Wien ist im engeren Sinne keine staatliche Einrichtung, sondern eine selbstverwaltete, unabhängige Organisation. Gesetzlich geregelt ist, dass jede Angestellte und jeder Angestellte in Österreich mit einem Betrag seines Gehalts zur Finanzierung der Arbeiterkammer beizutragen hat. Eine Art institutionalisierte Solidarität (ähnlich wie bei den Sozialversicherungen). Darüber hinaus spielt die Arbeiterkammer im System des österreichischen Sozialstaats als politische Interessensvertretung eine wichtige Rolle. Was sie vielleicht von anderen politischen Lobbys unterscheidet: dass sie ein einflussreicher Thinktank ist und zugleich nah am Alltag der arbeitenden Menschen. Von Anfang an war mir deshalb klar, dass FÜR DIE VIELEN die Geschichten der Menschen, die sich an die Arbeiterkammer wenden, in Verbindung bringt mit der Expertise, die diese Institution ausmacht.
Im Spätherbst 2019 haben wir zu drehen begonnen. In den vielen Wochen und Monaten, die ich in der Arbeiterkammer verbracht habe, kristallisierten sich die Themen und Erzähllinien des Films heraus. Wie in meinen vorherigen Filmen war ich fasziniert von der scheinbar unendlichen Fülle an Verhaltensweisen, die sich in einer Institution aus dem Aufeinandertreffen von Individuum und Einrichtung ergibt. Das Direct Cinema ist aus meiner Sicht für die Darstellung dieser normierten Welt besonders erkenntnisreich, da es – im Gegensatz zu den üblichen Konventionen des Dokumentarischen – das Paradoxe nicht scheut und dem Realen grundsätzlich in Erwartung des Unerwarteten begegnet, das immer einen Überschuss an Ambivalenz, Widerspruch und Überraschung produziert. Als die Covid-19-Pandemie begann, waren wir mitten in den Dreharbeiten und gezwungen Mitte März 2020 den Dreh zunächst zu unterbrechen. Wie die Arbeiterkammer selbst mussten wir auf die „neue Wirklichkeit“ reagieren. Das allmähliche Hereinbrechen der Pandemie war aber schon Teil des Films geworden. Es lag auf der Hand, dass die Richtung der filmischen Reise nun von zusätzlichen Regeln diktiert werden würde.
Constantin Wulff