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Michael Baute: Nach ICH WILL MICH NICHT KÜNSTLICH AUFREGEN (2014) und WEITERMACHEN SANSSOUCI (2019) ist L’ÉTAT ET MOI dein dritter Film, der im Forum der Berlinale gezeigt wird. In dem Film ist mehr Selbstverständlichkeit als in den vorigen Filmen, das Spiel aller Darsteller*innen scheint aufgehoben in einer autonomer gewordenen Form. Es hat mich an den Stummfilm erinnert, einerseits an die sowjetische „Fabrik des exzentrischen Schauspielers“ der zwanziger Jahre, andererseits an amerikanischen Slapstick aus jener Zeit. Und vom Genre her ist der Film eine „Klamotte“.

 

Max Linz: Als Autor und Regisseur ist es unheimlich entlastend, dass es diese besonderen historischen Grammatiken gibt, auf die man sich beziehen und gemeinsam damit arbeiten kann. Es wird dann relativ klar, bis in den Schnitt, wie man das eigentlich erzählt wissen will. Zugleich hat es wohl auch mit dem zu tun, wovon der Film handelt, womit er sich beschäftigt. Es ging eben darum, einen Prozess über die Bühne zu bringen – möglichst unterhaltsam. Und für mich galt diesmal wie für die Gerichte das Entscheidungsverweigerungsverbot.

Wie kam es zu dem Film?

ML: Ich hatte ursprünglich eine längere Synopsis geschrieben, die von einem Rechtsreferendar handelt, der die Seiten wechselt und am Ende selber auf der Anklagebank landet. Parallel dazu hatte ich meinen Politikbegriff überprüfen wollen und mich darum für das Funktionieren politischer Institutionen interessiert, also den Teil, der öffentlich ist: Parlamentssitzungen im Parlamentsfernsehen angucken, in Ausschusssitzungen des Bundestags oder Bezirksversammlungen gehen und eben Gerichtsverhandlungen besuchen. Und zwar nach dem Jerry-Lewis-Prinzip in THE ERRAND BOY: Man geht ins Gerichtsgebäude rein, macht eine Tür auf und ist im Ehedrama, macht die nächste Tür auf und ist beim Banküberfall, macht die übernächste Tür auf und ist bei … DENN SIE WISSEN NICHT, WAS SIE TUN. Das passiert im Strafgericht, hinter jeder Tür ist ein anderer Fall, und so habe ich mir den Film ursprünglich vorgestellt, von der Skalierung her.

Die Pariser Kommune war also nicht der Ausgangspunkt.

ML: Eher die Frage, wie man das Genre des Gerichtsfilms aus dem Einfühlungsdusel der öden „Wie würden Sie entscheiden?“-Publikumsverarsche, den diversen televisuellen Verblendungszusammenhängen herausbekommt. Ich habe während einer Verhandlung mal versucht, mir vorzustellen, ich säße an der Stelle der Richterin. Es ging um eine Bagatelle. Ich dachte, ich würde sofort ohnmächtig werden, zusammenbrechen unter der Last an Expertise, die notwendig ist, um überhaupt zu verstehen, was vor sich geht und was das für eine Dimension für die Leute hat, die da im Saal sitzen. Was bedeutet dieses urteilen „Im Namen des Volkes“ – das ist ja keine kleine Sache. Im Gerichtssaal zu sitzen war aufschlussreich und spannend, hat mich aber im Hinblick auf das Drehbuch keinen Schritt weitergeführt. Ich bin vom Gericht in die Bibliothek gerannt um die Notizen abzutippen, um dann dazu wieder etwas zu lesen usw. – daraus hat sich für mich keine Perspektive entwickelt, wie ich den Film schreiben will. Es war eben die Realität plus Rechtssoziologie, kein Spielfilm.

Der Anker war dann letztlich dieser Fund in der Staatsbibliothek: dass das Strafgesetzbuch in seiner heutigen Form im Mai 1871 in Kraft getreten ist. Und ich hatte irgendwann zuvor Brechts „Die Tage der Commune“ gelesen, das genau von dieser Zeit, Mai 1871, handelt. Der historische Teil des Films beginnt da, wo die „Die Tage der Commune“ aufhört.

Er ist über Brecht souffliert worden.

ML: Da habe ich die Möglichkeit gesehen, ganz realistisch vom Justizsystem zu handeln, mit einem Patchwork aus Nebenfiguren – Schöffen, Gerichtsdienern, Rechtsreferendaren – und einer starken Setzung im Bezug auf den filmischen Plot, also einer Fiktion, mit einem Doppelgänger. In dem Brecht-Stück ist die Rede von einem preußischen Deserteur, der auf Seiten der Commune mitkämpft und aus dieser Figur wurde der zeitreisende Komponist Hans List. An der Stelle kam Sophie Rois als Richterin und Komponist ins Spiel und es wurde plausibel, einen Film zu machen, der mit diesen ganz klassischen Parametern umgeht – Drehbuch, Figuren, szenische Auflösung wie vor 100 Jahren. Weil man es mit der Justiz mit einem Feld zu tun hat, das ebenfalls mit solchen alten Skripten arbeitet.

„Die ökonomischen Strukturen und Logiken der Produktion nötigen dazu, das vorhandene Skript immer wieder abzuspielen und dabei scheinen sie wenig Revision und Evolution zuzulassen“

Der Plot erarbeitet sich dann mittels Vertauschungen und Verwechslungen auf allen möglichen Ebenen: sprachlichen, identitären, textilen.

ML: Dieses ständige Verwechseln war der Motor für das Drehbuch, oder eigentlich sein Stottern. Es geht ja in der Jura-Ausbildung, wie für den von Jeremy Mockridge gespielten Rechtsreferendar, letztlich darum qua Reproduzierkompetenz eine Rolle übernehmen zu können. Deswegen die große Bedeutung der Prüfungen und Examen. Und auf der anderen Seite produzieren sich die ständigen Fehlleistungen, als die Materialisierungen der verdrängten Frage, was das ganze eigentlich soll. Denn es gibt ja niemanden, der einem darauf eine Antwort gibt. Für uns war die Schlüsselszene, in der der Rechtsreferendar aus der Bibliothek zurück ins Richterzimmer kommt und deklamiert: „Wenn wir die Gespenster der Vergangenheit loswerden wollen, dann brauchen wir einen neuen Text.“ Und wenn die Richterin ihn daraufhin auffordert, sich schon mal an die Formulierung zu setzen, weil sie währenddessen mit dem alten Text arbeiten muss, drückt sie das ganze Dilemma aus, in dem alle drinstecken, die die Sachen anders und neu angehen wollen – in dem ich als Filmemacher auch drinstecke: Dass die ökonomischen Strukturen und Logiken der Produktion dazu nötigen, das vorhandene Skript immer wieder abzuspielen und dabei scheinen sie wenig Revision und Evolution zuzulassen.

Geht es Dir dann auch darum, dass der Film sich über „Autorität“ lustig macht?

ML: Ich habe zumindest kein Interesse daran, dass der Film sich in den Dienst der Darstellung eines authentischen Schufts stellt. Durch das Angriffige, was das Lächerlichmachen hat, durch den von uns gebauten Kasten, wird Autorität schwierig. Wie bei dem von Hauke Heumann gespielten Staatsanwalt Donnerstrunkhausen, der immer falsch benannt wird – selbst wenn andere Figuren versuchen, seine Autorität anzuerkennen, geht es immer schief. Man hat ihn geradezu lieb.

Bei Bernhard Schütz’ Polizisten ist es schon komplizierter. Er schleppt das ganze Gepäck der Grausamkeit der deutschen Exekutive mit. Und er entwickelt etwas Subversives: Er guckt in die Kamera, steht während einer Szene auf und geht aus dem Bild – er lässt sich vom Komödienbegehren gar nicht regieren. Er erzeugt eine Unheimlichkeit, die mich doch ängstigt. Bernhards Darstellung formuliert einen latenten Vorwurf an den Eskapismus des Films. Er wirft damit die Frage, ob man sich darüber überhaupt lustig machen kann, nochmal auf. Denn auf der einen Seite haben wir dieses Begehren nach Komödie und Unterhaltung der Gesellschaft. Und auf der anderen Seite gehen wir mit Sachen um, die überhaupt nicht lustig sind.

„Dieser Zusammenhang ist etwas, was uns interessiert: Kino als öffentliche Kunstproduktion, ästhetische Erfahrung, die etwas Demokratisches hat, weil sie niedrigschwellig zugänglich ist“

Der Film funktioniert sehr stark über Rahmungen. Und dann lasst ihr es in diesem Bildkarton rappeln. Die Darsteller*innen kommunizieren alle ein Bewusstsein, in ihren jeweiligen Bildkadern zu agieren.

ML: Das kommt durch den Blick der Kamera von Markus Koob. Ein Raum wird erzeugt, der nur für den Auftritt zu bestehen scheint. Die Kamera parzelliert nicht die Wirklichkeit, also weder in den hochauflösenden „Industriestandard“, wo man sich jeden Vorgang aus mindestens neun verschiedenen Einstellungsgrößen anschauen soll, noch ins bressonianisch Fragmentarische, wo das Ausschnitthafte betont wird. Stattdessen wollten wir mit unseren eher begrenzten Mitteln Szenen in einem räumlich stabilen Sinn schaffen. Deshalb war auch das alte 1,37:1-Format sehr passend. Die Bilder sind nicht direkt Bühnen, weil sie sich nicht an einem Portal orientieren, aber der Kamerablick betrachtet sie wie eine Szene.

Es sind mehr so Ideogramme, wie bei Eisenstein, den ihr ja auch zitiert.

ML: Das ist nicht direkt Eisenstein, den Franz Friedrich da vorliest, das ist Oksana Bulgakowa über Eisenstein, eine Beschreibung seiner Anfänge im Proletkult. Dieser Zusammenhang ist etwas, was uns interessiert: Kino als öffentliche Kunstproduktion, ästhetische Erfahrung, die etwas Demokratisches hat, weil sie niedrigschwellig zugänglich ist, wo, Interesse vorausgesetzt, jeder partizipieren kann.

Wir arbeiten also an einer Form weiter, die gelegentlich schon als passé empfunden wurde. Aber man hat da noch was mit vor, man ist mit den Sachen noch gar nicht fertig. Auch nicht mit der Frage, wie ein Realismus zustande kommt, der sich nicht mit der Wirklichkeit verwechselt, sondern auch ein Realismus der Form ist, ein Realismus des unterhaltenden Kinospielfilms. Es freut mich, dass es für Dich funktioniert hat, aber wenn man das Begehren nach „einem neuen Text“ zugleich ernst nimmt, muss ich mich schon fragen: Ist das dann schon der neue Text?

Für mich sehe ich das in der inhärenten Transformationsmöglichkeit von Ausdrucksformen, die das Gleichheitsversprechen beinhalten.

Das ist schön. Das hieße, diese Musik ist noch nicht vorbei.

(Das Gespräch fand am 19. Januar 2022 in Berlin statt)

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