Zu Beginn von Zheng Lu Xinyuans JET LAG ist der Bildschirm schwarz und wir lauschen einem vertraulichen Gespräch. Die Filmemacherin fragt ihre Freundin nach ihrer Meinung über den Film. „Ich finde, dass du dich nie richtig öffnest“, lautet die Antwort. Dann werden Fotos eingeblendet, die von einer taumelnden, furchtlosen Vertrautheit zeugen: Zahnbürsten in einem hohen Glas, zerknitterte Kissen, weiße Tabletten in einer knittrigen Handfläche. Eine ältere Frau hockt neben einem flauschigen Terrier, daneben ein Arrangement aus Topfpflanzen. „Wenn sie nicht mehr da ist, werde ich einfach in meine Erinnerungen abtauchen“, sagt Zheng Lu mit sanfter Stimme. Erinnerungen dienen als Beweismittel, und ihre berauschende Abstraktion liefert dem Film seine Triebkraft. Er ist ein Spiegelmosaik aus unterschiedlichen Schwarzweiß-Aufnahmen: eine Mischung aus Fotografien, DVCAM-Videos und mit Smartphones eingefangenen Momenten. Die Filmemacherin selbst führt die Kamera, und auch wenn wir sie nur selten sehen, erhalten wir flüchtige Einblicke: In einer Zwischensequenz lässt sie die Finger in den Handriemen gleiten und richtet die Kamera auf einen Überwachungskamera-Bildschirm, der ihre von Regentropfen gesprenkelte Silhouette zeigt.
Im Zentrum der Geschichte steht Zheng Lus Großmutter, die mit Kurzhaarschnitt und schmalem Lächeln in die Kamera blickt. Ihre eigene Geschichte wird von der ihres Vaters (des Urgroßvaters der Filmemacherin) durchkreuzt, der die Familie überraschend verließ, als sie noch ein Kind war. Er ging von China nach Myanmar und verbrachte seine letzten Tage als Mönch. Jahrzehnte später schickt sich die Familie an, dieses Kapitel seines Lebens nachzuzeichnen. Mit seiner Gebetskette in der Hand besuchen sie das Kloster und den Friedhof. Die Vergangenheit ist – wie in den meisten Familiengeschichten – ungeklärt und verschwommen und hat bei jeder Person andere Spuren hinterlassen. Wenn die Kamera auf der Großmutter ruht, sehen wir, wie sie sich mit einem gefalteten Taschentuch die Augen tupft, die Hände vors Gesicht legt, um eine Pause zu machen, oder ihren schlanken Körper zum Luftholen aus dem Fenster beugt. Wenn sich die Familienmitglieder fragen, ob sie einer Illusion anhängen, antwortet die Großmutter leise, während sie sich die Unterschenkel massiert: „Warum sollte es keinen Sinn ergeben, der Wahrheit nachzujagen?“ Scheinbar ist sie einem Paradoxon auf der Spur: Was wäre, wenn sich Geschichte formen ließe, auf den Prüfstand gestellt oder sogar mit Hilfe ihrer eigenen Fragmente neu geschrieben werden könnte? Für die Großmutter selbst geht es bei der Reise nach Myanmar weniger um das, was sie dort findet, als vielmehr um die Stimmung, in die sie die Reise versetzt, um die – oft wiederholten und auch imaginierten – Erinnerungen, die dadurch wachgerufen werden. Ihr abwesender Vater schwebt über diesem Dilemma, denn er ist trotz seines Verschwindens noch immer das Oberhaupt der Familie.
Die ausschließlich handgeführte Kamera umkreist die Personen immer aus nächster Nähe: Sie will die plötzlichen, flüchtigen Dinge einfangen, die das menschliche Auge so leicht übersehen kann
Zheng Lu fühlt sich damit nicht wohl und kämpft während der Filmaufnahmen gegen ihr eigenes Unbehagen. „Ich bringe eine Kamera in meine Familie, um ich selbst zu sein, während ich gleichzeitig Teil von ihnen bin“, erklärt sie. So fügt sie sich ein. In einer Szene aus Hangzhou beschreibt sie während eines Telefonats einen Zug, der sich in der Ferne seinen Weg durch die Stadt bahnt. Sie selbst und die Person am anderen Ende der Leitung befinden sich scheinbar in behördlicher Quarantäne, in verschiedenen Zimmern auf unterschiedlichen Etagen, und versuchen herauszufinden, in welchem Teil der Stadt das Gebäude liegt. Zheng Lu erklärt, dass sie den Zug nur sehen kann, weil sie die Stadtlandschaft mit ihrem Camcorder heranzoomt, mit dem sie ihren Blick über Gebäude und blinkende Lichter in der Ferne schweifen lassen kann. „Jemand lässt einen Drachen steigen, aber ich kann die Szene nicht scharf stellen.“ Die ausschließlich handgeführte Kamera umkreist die Personen immer aus nächster Nähe: Sie will die plötzlichen, flüchtigen Dinge einfangen, die das menschliche Auge so leicht übersehen kann.
Ihre Freundin berichtet in einem Selbstgespräch über den Missbrauch durch ihren Vater. Sie liegt dabei auf dem Rücken und eine Träne rinnt ihr langsam über die Wange. Sie erklärt, wie sie ihre Erinnerungen an ihn mit der Zeit „konfrontieren und durchkauen“ muss. Sie möchte herausfinden, wie sich das Trauma in ihrem Leben noch immer bemerkbar macht. Sie will im wahrsten Sinne des Wortes all das verdauen, das ihr noch immer Schmerzen bereitet. Ein Trauma kann plötzlich und mit voller Wucht zuschlagen. JET LAG zeigt, wie sich die ungelösten Knoten der Vergangenheit in unserem Inneren ausbreiten. „Wenn ich meinen Gefühlen noch länger auf diese Weise Ausdruck verleihe, werde ich eines Tages einer anderen Person Leid zufügen“, bemerkt sie blinzelnd, als ihr ein Lichtstrahl ins Auge fällt. Frühere Lockdowns verbrachten die Liebenden in ihrer gemeinsamen Wohnung in Graz in Österreich. An Sommertagen machten sie Fruchtdrinks. Sie schnitten Zitrusfrüchte in dünne Scheiben und steckten sie an die Ränder ihrer Stilgläser. Bei ausgiebigen Sonnenbädern zerflossen ihre Körper zu weichen und verschlungenen Landschaften. „Blut ist dicker als Wasser“, sagt die Großmutter der Filmemacherin in einer Szene, in der sich die beiden an einem Küchentisch gegenübersitzen. Doch Blutsbande bestehen aus Archetypen, und Zheng Lu gibt sich alle Mühe, diese Hierarchie zu überwinden: Ebenso wichtig ist die Familie, die wir selbst wählen und um die herum wir unser Leben aufbauen – unsere Freund*innen.
Blutsbande bestehen aus Archetypen, und Zheng Lu gibt sich alle Mühe, diese Hierarchie zu überwinden
Die Filmemacherin und ihre Freund*innen führen intime Gespräche. Eine ihrer Routinen scheint darin zu bestehen, sich auf Dächern, im von Zigarettenrauch erfüllten Lampenschein, gegenseitig Aufsätze über Ereignisse aus ihrer Kindheit vorzulesen, die sie noch nicht verarbeitet haben. Diese Aktivität ist der erste Schritt zum „Durchkauen“. Fünf Freund*innen sitzen an einem Tisch und öffnen nach einer geführten Meditation langsam wieder die Augen. Eine von ihnen liest – in Schrift und Wort mit den zärtlichen Flexionen einer Sprachlernenden – aus einem Aufsatz über ihren kranken Onkel. Die Familie schämt sich für seine AIDS-Diagnose, berichtet sie im Aufsatz. Ihr selbst geht es nicht so. Sie erinnert sich an kleine Details ihrer letzten Begegnung, wie es in dem Raum roch. „Ich erinnere mich, dass ich sein Geheimnis getroffen habe.“ Damit meint sie ihren Onkel und seinen Liebhaber, die ihr eng umschlungen gegenübersaßen und einander tief in die Augen blickten, „als sei die Zeit stehen geblieben“. Nach seinem Tod, so erzählt sie, sei niemand zu seiner Beerdigung gekommen.
Kurz vor dem Ende von JET LAG macht Zheng Lu einen Videocall mit einer Cousine in Myanmar, die bei zugezogenen Gardinen in ihrem völlig abgedunkelten Zuhause sitzt. Sie sagt, auf der Straße seien Schüsse zu hören. Das Land wird von einem weiteren Militärputsch erschüttert. Bisher kamen mehr als 500 Menschen bei den Protesten ums Leben. Aung San Suu Kyi steht unter Hausarrest. „Einige meiner Freund*innen sind noch im Gefängnis“, berichtet die Cousine. Sie sieht sehr jung aus, vielleicht gerade mal Teenagerin, trägt eine große Brille und hat ein strahlendes Lächeln. „Sie zielen mit ihren Waffen direkt auf den Kopf. Ihre Opfer sind sofort tot.“ Sie hätten kein stabiles Internet, sagt sie schulterzuckend, und müssten immer damit rechnen, dass es wieder abgeschaltet wird. Zheng Lu fragt sie ganz direkt, ob ihre Eltern mit ihr darüber gesprochen hätten, was passiert, wenn sich die Lage nicht ändert, wie ihr Leben dann aussieht? Die Cousine streicht sich die Haare zurück, ein kurzes Lächeln huscht ihr über das Gesicht. Für ihre Antwort muss sie nicht lange nachdenken: „Nein! Denn wir müssen einfach gewinnen.“ Im Abspann ist zu lesen, dass das Gesicht der Cousine mittels KI durch das einer Schauspielerin ersetzt wurde. Es ist zu gefährlich, ihre Identität preisgeben. Ihre verschleierte Präsenz im Film holt die Vergangenheit des Urgroßvaters in die Gegenwart und damit zwei Epochen der Unsicherheit, in denen unerreichbare Dinge eine große spekulative Kraft erhalten. Die Entschlossenheit der Cousine – und die der fünf Freund*innen, die sich nachts gegenseitig ihre Aufsätze vorlesen – künden von einer alternativen Zukunft, die von revolutionären Bestrebungen erfüllt ist, und von dem furchtlosen Wunsch, die Vergangenheit zu hinterfragen.
Skye Arundhati Thomas lebt als Schriftsteller*in Goa, ist Mitherausgeber*in von „The White Review“ und hat gerade das Buch „Remember the Details“ bei Floating Opera Press veröffentlicht.
Übersetzung: Kathrin Hadeler