Seit 2020 verschwamm mein Zeitgefühl zunehmend. Die Tage wiederholten sich und der Alltag verfiel einem ungewohnten Muster. Nie war es verstörender, an nur an einem Ort zu sein. Das Projekt, das nun den Titel JET LAG trägt, begann ich, um die von der Covid-19-Pandemie ausgelösten Ängste und die Entfremdung festzuhalten; um sich eingehender mit Intimität unter Quarantänebedingungen zu befassen; und um anhand einer VHS-Kassette und anderen Aufnahmen, die ich während einer Familienreise nach Myanmar gemacht hatte, nach Antworten auf die Geheimnisse meiner Familie zu suchen.
Der Film beginnt mit der Suche nach dem verschwundenen Vater meiner Großmutter, der in den vierziger Jahren von China nach Myanmar ging und später Mönch wurde. Meine Großmutter ist eine Zeugin dieser Auswanderungswelle von China nach Südostasien. Sie vermisste ihren Vater seit dessen Abreise. Damals war sie gerade fünf Jahre alt. Ich begleitete sie auf dieser Reise, die sie unternahm, um ihrem Vater näherzukommen, auch in der Hoffnung, Klarheit über das Gewicht der Erinnerung zu bekommen: Warum bedeutet meiner Großmutter jemand, der ihr ganzes Leben lang nicht für sie da war, derart viel? Als Einzelkind – und als bisexuelle Frau – in Chinas immerfort sich verändernder Gesellschaft fühle ich mich konstant im Konflikt mit meiner Familie.
Ich kam an einen Punkt, an dem ich den Drang verspürte, die Kamera anzuschalten und sie auf mich selbst und meine eigenen Beziehungen zu richten. Damit ließ der Film die Form einer ausschließlich visuellen Archäologie hinter sich und wurde zu einem Essay über Gender, abwesende Väter, die Diaspora und die Unzuverlässigkeit der Erinnerung. Wo stehen wir jetzt, wo werden wir sein, und wie können wir weitermachen angesichts der Last vergangener Ereignisse, die bis zum heutigen Tage derart lebendig sind?
Zheng Lu Xinyuan
Übersetzung: Dominikus Müller