Im Vietnamesischen ist chết gleichbedeutend mit „Tod“. Eine weitaus euphemistischere Bezeichnung ist das Wort đi, das wörtlich übersetzt „gegangen“ bedeutet. Kim Quy Bui wirft in MIỀN KÝ ỨC(Memoryland) einen poetischen Blick auf die semantischen Konturen dieses Begriffs im Kontext soziologischer, spiritueller und sogar den Ahnenkult betreffender Umbrüche im heutigen Vietnam.
Die Tradition der drei Lehren
Der Spielfilm hat häufig auch etwas Dokumentarisches, wenn er den Ablauf einer Bestattung zeigt – von der Vorbereitung des Altars und des Sargs bis hin zur Sammlung von Gebeten und Trauerritualen, die die Seelen der Toten auf ihrem Weg ins Jenseits erretten sollen. Das religiöse Erbe Vietnams, das der Film thematisiert, ist in weiten Teilen von dem künstlichen Konzept der Tam Giáo („Drei Lehren“) inspiriert, das sich wiederum auf den Konfuzianismus, den Buddhismus und den Taoismus beruft. Diese Lehren und ihre entsprechenden Rituale sind im sinovietnamesischen Kontext keine zusammenhangslosen Traditionen, sondern angesichts zahlreicher fließender Übergänge, die sich über Jahrhunderte entwickelt haben, als ein und dieselbe Form der religiösen Praxis zu betrachten.
Der fiktionale Film hat häufig auch etwas Dokumentarisches, wenn er den Ablauf einer Bestattung zeigt – von der Vorbereitung des Altars und des Sargs bis hin zur Sammlung von Gebeten und Trauerritualen, die die Seelen der Toten auf ihrem Weg ins Jenseits erretten sollen
Die vietnamesische Trauerlandschaft in MIỀN KÝ ỨC fügt sich nahezu perfekt in den theologischen, symbolischen, materiellen und rituellen Hintergrund dieser religiösen Lehren ein. In den Schriften und im vietnamesischen Bewusstsein „bewohnt“ der Tod verschiedene Vorstellungswelten, Emotionen und Praktiken auf dem Weg vom Leben in den Tod sowie im Akt des Gedenkens.
In Vietnam ist die religiöse Vorstellung weit verbreitet, dass Menschen drei rationale Seelen (hồn) und eine bestimmte Anzahl sensibler Seelen (phách oder vía) besitzen – sieben bei Männern und neun bei Frauen, um genau zu sein. Die phách treten bei der Empfängnis in den Körper ein, können jedoch den Tod nicht überdauern, während die hồn bei der Geburt in den Körper übergehen und ihn auf seiner Reise ins Jenseits begleiten.
Buddhistische Reinkarnation und Bestattungsriten
Im Buddhismus gehen alle Lebewesen von einem in einen anderen Zustand über. Dies wird auch als Lehre der Seelenwanderung bezeichnet. Dieser Übergang wird vom eigenen Handeln oder vom Karma beeinflusst, das die bisherige(n) Existenz(en) eines Lebewesens bestimmt hat. Demzufolge zieht jedes Handeln Konsequenzen in Form von Belohnungen oder Strafen nach sich, die sich gleichsam nur auf das nächste Leben auswirken können. In den Riten und Gebeten bei Bestattungen steht daher vor allem der Prozess des Übergangs im Mittelpunkt, der vom Karma bestimmt wird und letztlich eine Reinkarnation für alle Toten vorsieht, die die Erleuchtung und das Nirvana noch nicht erreicht haben.
Das Ritual kann sehr anspruchsvoll sein und eine feste (und kostspielige) Abfolge von Texten, Gesängen, Musik und Kostümen beinhalten
Das Ritual kann sehr anspruchsvoll sein und eine feste (und kostspielige) Abfolge von Texten, Gesängen, Musik und Kostümen beinhalten. Gegen Bezahlung achtet ein „Meister der Opfergaben“ (thầy cúng) mit Hilfe von Assistenten auf die korrekte Einhaltung der Regeln. Die minimalistische Version dieses Rituals, die mehrmals im Film auftaucht, besteht im mechanischen und emotionslosen Ablesen eines Textes vor einem Hintergrund aus buddhistischen Malereien und Lehrsätzen.
Die Menschen in Vietnam glauben, dass die Seelen der Toten oder Gespenster (ma) noch ein wenig länger im Umfeld und im Leben der Hinterbliebenen herumgeistern und an bestimmten Gewohnheiten festhalten, wenn bei Bestattungsritualen nicht die kanonischen Vorschriften befolgt werden. Derartige Vorstellungen haben eine ganze Reihe Gespenstergeschichten hervorgebracht. In der vietnamesischen Kultur sind traditionelle buddhistische Bestattungsriten weit verbreitet, die klar geregelte, aber auch esoterische Bräuche mit einer Kombination aus geomantischem Wissen, Talismanen und Schutzamuletten gegen böse Geister umfassen, die den Übergang ins Jenseits blockieren können. Deshalb werden zahlreiche Amulette in den Sarg und zwischen die Kleidung der Verstorbenen gelegt, wie man in MIỀN KÝ ỨC sehen kann.
Trauerrituale
Nach kanonischen Texten der konfuzianischen Lehre wie dem „Buch der Ehrfurcht“ müssen Angehörige ihre Trauer um Eltern oder Ehepartner*innen sichtbar zur Schau tragen. In Vietnam gibt es auch heute noch eine fest vorgeschriebene, wenn auch verkürzte Trauerzeit. Nachdem der Tod offiziell verkündet wurde, muss der Sarg mit besonderer Sorgfalt vorbereitet werden. Die Angehörigen errichten einen Altar, um die Opfergaben und später auch eine Porträtaufnahme der verstorbenen Person neben der Gedenktafel zu platzieren. Die Gedenktafel steht symbolisch für die verstorbene Person. Dabei handelt es sich um eine aufgestellte Karte mit wichtigen zivilen und religiösen Angaben wie Alter, Geburtstag, Geburtsort und bürgerlicher Name sowie Todeszeitpunkt und Sterbeort. Dieser Opfertisch für die Toten kommt später auf den Traueraltar, der sich normalerweise an einem festen Ort im eigenen Zuhause oder im Tempel befindet und den Angehörigen ermöglicht, ihren Pflichten zur Ehrfurchtserweisung nachzukommen.
Sobald der Leichnam begraben oder eingeäschert wurde, beginnt das ausgedehnte Trauerritual, das mehrere Phasen und rituelle Handlungen vorschreibt. In Abhängigkeit von ihrem Verwandtschaftsverhältnis zur verstorbenen Person tragen die Angehörigen verschiedene Trauerkleidungen, für die es im Buddhismus und Konfuzianismus feste Regeln gibt. Beispielsweise ist die Farbe Weiß als Zeichen des Verlusts und des Kummers der Trauerkleidung vorbehalten.
Ein Opfermahl und Opfergaben aus Papier sind im Buddhismus und in anderen populären religiösen Praktiken Vietnams als religiöse Bräuche nach wie vor tief verwurzelt. Der für diese weit verbreitete Form des Ahnenkults vorgesehene Altar ist in MIỀN KÝ ỨC in der Szene zu sehen, in der der Sohn und seine Ehefrau Rat bei einer Wahrsagerin suchen. Weihpapier soll der verstorbenen Person im Jenseits komfortable materielle Bedingungen bescheren. Dafür wird ihnen ein Opferpapier gewidmet, das einen bestimmten Wert symbolisiert, der den Verstorbenen durch Verbrennen im Jenseits zur Verfügung stehen soll. Der Film zeichnet davon ein tragisches Bild, wenn der alte Künstler inmitten der ins Jenseits übertragenen Opfergaben spaziert.
Eine Reise in die Yin-Welt
Formal teilt sich der Film in drei Teile – đưa tiễn (was verabschieden, begleiten oder auch Bestattung bedeutet), âm gian (das unsichtbare Jenseits, das Yin) und dương gian (unsere sichtbare Welt, das Yang) – und verortet die Erzählung auf diese Weise ausdrücklich in einem taoistischen Interpretationsrahmen. Tatsächlich ist das Prinzip der Toten, âm (oder yin), in der taoistischen Kosmologie durch das Verborgene, Unsichtbare, Ätherische, Weibliche gekennzeichnet. Das komplementäre Prinzip dương (oder yang) steht für Lebewesen und das Sichtbare, Materielle, Männliche. Bezeichnenderweise widmet sich der Film vorrangig dem âm gian, dem Unsichtbaren, und der Trauerphase einer jungen Witwe. Diese Dualität, auf der vietnamesische Bestattungen und die zahlreichen Übergangsriten vom Leben in den Tod, vom Reich des Yang in das Reich des Ying (und umgekehrt) beruhen, bestimmt auch den Aufbau des Films.
Erdbestattung oder Einäscherung?
Die Entscheidung für eine Erdbestattung oder eine Einäscherung hängt vor allem von der Bevölkerungsdichte in der jeweiligen Region sowie von der finanziellen Situation der Familie ab. Diesem soziologischen Aspekt widmet sich MIỀN KÝ ỨC zugleich behutsam und sorgenvoll. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen weder der Krieg noch die Kolonialzeit in Vietnam, sondern das Phänomen der Landflucht, das seit den Wirtschaftsreformen Mitte der achtziger Jahre in Vietnam um sich greift. Im Film sind die jungen Generationen vom Land in die Städte, von kleinen Häusern in Wohnungen gezogen und haben die Tradition des Ahnenkults gegen andere Bräuche eingetauscht, durch die das Gedenken an die Verstorbenen in Vergessenheit geraten könnte.
Jérémy Jammes ist Professor für Anthropologie und Südostasienstudien an der Sciences Po Lyon und Research Fellow am Institut für Ostasien-Studien (IAO) in Lyon.
Übersetzung: Kathrin Hadeler