Wenn man über die Grenze dessen hinausdenken will, was wir als Kino verstehen – das Wie und Warum der Filme also, die im Kino gezeigt werden –, sollte man das komplizierte Ineinanderwirken all jener Faktoren in Betracht ziehen, die dem Wer, Wann und Wo der Kinorezeption zugrunde liegen. Gemeinhin werden Kinos als Veranstaltungsorte aufgefasst, die erst durch die Vorführung von Filmen und die Anwesenheit des Publikums zu ihrer eigentlichen Bestimmung finden. Dabei wird oft übersehen, dass Kinos von kapitalistischen Erwägungen bestimmt werden und den eigenen Standpunkt im Wechselspiel marktwirtschaftlicher, ideologischer, kultureller und sozialer Kräfte fortwährend neu aushandeln müssen.
Ananta Thitanats Dokumentarfilm SCALA hält die letzten Tage des gleichnamigen Bangkoker Kinos fest und führt uns an das Ende eines solchen – unumstößlich gescheiterten – Aushandlungsprozesses. Der Film beginnt zu einem Zeitpunkt, als der Rückbau des letzten unabhängigen Kinos in Bangkok bereits in vollem Gange ist. Steigende Mieten und rückläufige Ticketverkäufe haben das Kino, das schon eine ganze Weile kurz vor dem Aus stand, endgültig zu Fall gebracht. Thitanat zeigt, wie der legendäre große Kronleuchter, der erhaben über dem Foyer thront, demontiert wird und im Verlauf dieser Demontage seine Würde verliert.
Thitanat filmt, wie der legendäre große Kronleuchter, der erhaben über dem Foyer thront, demontiert wird und im Verlauf dieser Demontage allmählich seine Würde verliert
Während eine zerbrechliche Glaskugel nach der anderen von der Decke geholt wird, unterhalten sich die Arbeiter*innen und das Kinopersonal über die Tatsache, dass gefilmt wird. Macht langsamer, bittet jemand, die Filmemacherin kommt sonst nicht hinter! Eine Äußerung, der die scherzhafte Aufforderung folgt, sie möge die Kamera auf eine ganz bestimmte Person richten. Einen kurzen Moment später fällt der Groschen; die Dokumentarfilmerin, die eigentlich hinter der Kamera unsichtbar sein sollte, wird als Tochter eines einstigen Kollegen erkannt. Es ist diese Offenbarung, die den Rest des Films zu einem Nachruf im Präsens macht, der vom hohen persönlichen Einsatz all jener Mitstreiter*innen erzählt, die dem Kino bis zu seinem traurigen Ende treu geblieben sind.
Inmitten der Trümmer
Während der Rückbauarbeiten sind hin und wieder Überlegungen der Regisseurin zu hören. Eine Anekdote über die Hartnäckigkeit der Straßenkatzen, die eigentlich nicht in das Gebäude dürfen, aber genau hier Unterschlupf suchen, sowie Thitanats Erinnerung an eine Begegnung mit einer solchen Katze in ihrer Kindheit, mündet unvermittelt in ein Gespräch zweier Arbeiter, die sich fragen, ob sie noch immer darauf achten müssen, dass die Katzen vor der Tür bleiben. (Die Antwort lautet: „Nicht mehr.“)
Während Vorhänge abgenommen, Sitze abgebaut und Lampen von der Decke geschraubt werden, wird weitergeplänkelt. Man erinnert sich daran, wie alles begann, man plaudert, wie man eben plaudert, wenn man schon seit Jahrzehnten zusammenarbeitet. Jeder Handgriff scheint etwas Neues zum Vorschein zu bringen, persönliche Bindungen, gemeinsame Sehnsüchte, die lange schon unter der Oberfläche des Arbeitsalltags gegärt haben. Aber es sind haltlose Träume, hineingesprochen in einen Raum, der seiner Möglichkeiten längst beraubt ist.
Thitanats dokumentiert mit ruhigem Blick die Choreografie der Zerstörung und gibt ihr von einem mitgehörten Gespräch zum nächsten ein menschliches Antlitz. Trotz der ausnahmslos elegant komponierten, mit fixer Kamera aufgenommenen Bilder drängt der nostalgische Glamour des Kinos weder die langwierigen bürokratischen Prozesse in den Hintergrund, die mit der Schließung eines Kinos einhergehen, noch die so unverblümte, warmherzige und zupackende Art seiner Mitarbeiter*innen.
Die Spuren menschlichen Lebens, die immer wieder zu sehen sind – ein Wok in der Personalküche, eine Wäscheleine auf einem besonders grünem und widerstandsfähigem Stück Dachgarten – bilden einen warmen, häuslichen Kontrast zu der prächtigen, unnahbaren Architektur des Gebäudes.
Architektur und Industrie
Aufgrund genau dieser Engführung, Anhäufung und Überlagerung von Diskrepanzen, Texturen und Vergangenheiten lässt sich SCALA nur schwer klassifizieren. Ein Architekturfilm im engeren Sinne würde sich eingehend den verschiedenen architektonischen Gestaltungselementen des Kinos zuwenden; ein Gemeinschaftsporträt würde über wiedererkennbare Protagonist*innen verfügen und von deren persönlichen Entwicklungen erzählen; als dezidierte Kritik an jenen gesellschaftlichen Kräften, die zum Niedergang des Kinos geführt haben, ist SCALA dagegen zu ambivalent und elliptisch – und trotzdem zieht einen dieser unaufgeregte Film in seinen Bann, trotzdem provoziert er.
Wie gelingt es diesem Film, den Zauber eines Ortes sogar noch im Moment seines Verschwindens zu potenzieren? Die Antwort auf diese Frage hat mit der Geschichte des Kinos zu tun. Das Scala wurde 1969 erbaut und war eines der wichtigsten Projekte des Architekten Colonel Chira Silpakanok, eines bekannten Vertreters der thailändischen Nachkriegsmoderne. Es war der dritte von insgesamt drei eigenständigen Kinobauten, die Silpakanok für den Investor Pisit Tansacha entwarf, nach dem Siam im Jahr 1966 und dem Lido im Jahr 1968. Tansacha, der einstige Teilhaber und Geschäftsführer des legendären Chalermthai (ein weiteres Kino, das 1989 abgerissen wurde), wählte als Standort für seine drei Filmpaläste ein einstiges Armenviertel im Zentrum Bangkoks, aus dem sich infolge eines anhaltenden Gentrifizierungsprozesses das Geschäftsviertel Siam Square entwickelte.
Das Scala verfügt über tausend Sitzplätze und ist architektonisch ebenso exaltiert wie zurückhaltend. Es vereint Art-déco-Stilelemente, die von Hollywoods Goldener Ära inspiriert sind, mit einer distinkten, tropisch-modernistischen Formensprache, die Thailands frühe Versuche widerspiegelt, seine eigene architektonische Identität zu entwickeln. Das Foyer erstreckt sich über zwei Ebenen, die sich nach oben hin verbreiternden Säulen tragen eine Deckenkonstruktion mit kuppelartigen Vertiefungen. In denen setzt je eine Glühbirne eine stilvolle Konstruktion aus sternförmig angeordneten Stahlelementen in Szene, die an die aufwändigen Flachreliefs in klassischen Architekturformen erinnert. Darüber hinaus verfügt das Scala im Eingangsbereich des Saals über ein mehr als vier Meter langes Wandrelief aus Gips des philippinischen Künstler Ver V. Manipol.
Und dann wäre da noch das Prunkstück, ein fünfstöckiger Kronleuchter aus hunderten von geätzten Milchglaskugeln, ein Blickfang so spektakulär wie die Filme auf der Leinwand, so spektakulär wie der Kinobesuch selbst. Einer hartnäckigen Legende zufolge hat Tansache den Kronleuchter schon vor dem Bau des Scala erworben und Silpakanok anschließend beauftragt, ein Kino für ebendiesen Kronleuchter zu entwerfen.
Und dann wäre da noch das Prunkstück, ein fünfstöckiger Kronleuchter aus hunderten von geätzten Milchglaskugeln, ein Blickfang so spektakulär wie die Filme auf der Leinwand, so spektakulär wie der Kinobesuch selbst
Das Scala gehörte zu einer ganzen Reihe unabhängiger Kinos, die während der sechziger und siebziger Jahre in Thailand entstanden sind. Zu jener Zeit wurden Kinobesuche so wichtig wie die Filme an sich. Was zuvor nur ein beliebiger Zeitvertreib gewesen war, entwickelte sich zu einem Ritual, für das man sich in Schale warf. Man drängelte sich für Eintrittskarten, kaufte Popcorn, machte es sich in Polstersitzen bequem und kam während der Vorführung in den damals seltenen Genuss einer Klimaanlage. Anschließend aß man mit seinen Freund*innen etwas und unterhielt sich ausgiebig über das Gesehene. Dem Ritual lag die Illusion der Aufstiegsmobilität zugrunde, die Fantasie, endlich in besseren Verhältnissen zu leben – für einen erschwinglichen Preis konnten die Armen neben den Reichen sitzen, und wenn die Lichter ausgingen, waren alle gleichermaßen gebannt.
Wider die Nostalgie
Thitanat übt mit ihrem Film auf subtile Weise Kritik an der Tatsache, dass das Scala zum Sinnbild für eine Nostalgie geworden ist, die die Tradition des Kinobesuchs mit all ihren ästhetischen und sozialen Implikationen als Ereignis, Spektakel und Liturgie preist. Indem die Regisseurin das Register des Unscheinbaren und Privaten aufruft, stellt sie diese romantisierende Sicht in Frage. Etwa nach der Hälfte des Films werden auf einem freigelegten Balken die vier Wörter „... Geld ... Kinder ... Leben ... Opfer“ sichtbar. Sie erzählen, wenn auch nur indirekt, von den Alltagssorgen der Menschen, die in dem Kino gearbeitet haben, und von den alltäglichen Bedürfnissen, die der Kinobetrieb befriedigt hat – Bedürfnisse, die sehr viel schwerer wiegen, als eine verklärte Vorstellung darauf, was Kino ist. Während der 65-minütigen Laufzeit des Films berichten die Mitarbeiter*innen des Scala von ihrem bevorstehenden Dienstende und den nächsten Schritten, die sie unternehmen wollen; ihre Äußerungen sind von stoischer Ergebenheit und einem vorsichtigen, von Ungewissheit getrübten Gefühl der Hoffnung getragen. Auch wenn das Scala für Thitanat stets Vorrang hat, als Thema und rahmender Kontext, verliert sie nie die Menschen aus dem Blick, die den Kinobetrieb aufrechterhalten haben. Und anstatt das Scala zu instrumentalisieren und ein Sinnbild aus ihm zu machen, für eine von der Macht des Kapitals bedrohte und zerstörte Kultur, porträtiert sie es als Hort einer Gemeinschaft von Menschen, die hier einen Teil ihres Lebens verbracht haben, sowohl vor als auch hinter der Leinwand, die das Kino wertgeschätzt und sich darum gekümmert haben, als handelte es sich um ein lebendiges Wesen.
Teil des Films sind auch Erinnerungen an und Gedanken über zwei Kinos in der Nachbarschaft. Das Siam und das Lido, die beide infolge von Protesten ausgebrannt und später in moderne Cineplex-Kinos umgewandelt worden sind. Die Geschichte dieser drei Kinos in ihrer Gesamtheit – vom Dreigestirn der thailändischen Filmkultur hin zu einem Ende ohne Zukunftsperspektive – steht für das weit verbreitete Schicksal historischer Gebäude in Thailand.
Die Geschichte dieser drei Kinos – vom Dreigestirn der thailändischen Filmkultur hin zu einem Ende ohne Zukunftsperspektive – steht für das weit verbreitete Schicksal historischer Gebäude in Thailand
In gewisser Weise hat die Geschichte des Scala etwas Filmisches an sich, und so war einer der letzten Filme, der hier gezeigt wurde, ausgewählt vom unfehlbaren Thai Film Archive mit einer Art masochistischem Humor CINEMA PARADISO (1988). Das endgültige Aus des Scala verwandelt diese Geschichte in etwas Ätherisches, verbannt sie ins Reich des Erinnerns und Bedauerns. Das Scala ist dem Untergang geweiht, und deshalb wird das Scala ewig weiterbestehen – so wie Norma Desmond in SUNSET BOULEVARD (1950), wenn sie die Treppe hinunterschreitet, dankbar für die wunderbaren Menschen in der Dunkelheit, ist das Scala bereit für sein „close-up“, wohlwissend, dass dieses Ende nur der Anfang eines neuen, anderen Lebens ist.
Mein besonderer Dank gilt Aditya Assarat.
Alfonse Chiu ist Autor*in, Kurator*in und Künstler*in und lebt in Singapur. Chiu ist Redakteur*in der FilmplattformSINdie und Fellow des e-flux-Journals.
Literatur:
Philip Jablon: „Thailand's Movie Theatres: Relics, Ruins and the Romance of Escape“, Bangkok: River Books, 2019.
Martino Cipriani: „Mapping Digital Cinema in the Kingdom: The Transition from Analog to Digital Technologies in the Thai Film Industry“, in: Communication and Media in Asia Pacific, Vol. 4, Nr. 1, 2021, S. 23–32.
Pirasri Povatong: „Colonel Jira Silpakanok Profile and Work Chapter 1/2“, in: The Architectural Journal of the Association of Siamese Architects Under Royal Patronage, Nr. 3, 2015, S. 92–102.
Pirasri Povatong: „Colonel Jira Silpakanok Profile and Work Chapter 2/2“, in: The Architectural Journal of the Association of Siamese Architects Under Royal Patronage, Nr. 4, 2015, S. 94–104.
Kong Rithdee: „Shine a Light“, www.bangkokpost.com/life/arts-and-entertainment/288368/shine-a-light, (letzter Abruf am 31. Dezember 2021).