Die immerwährende Frage in meinen Filmen ist die nach dem kollektiven Gedächtnis. Ich lebe in einem Land, das immerfort die Auslöschung unserer Geschichte, unserer Erinnerung betreibt. Auch in meinem letzten Film ging es um Gedächtnisübungen, um die Nachwirkungen von Traumata und darum, wie vergangene Ereignisse (wie der Bürgerkrieg) das Leben der Menschen seelisch und körperlich beeinträchtigen können und wie eine ganze Generation damit umgeht. Wer erinnert sich? Wer vergisst? Wer sinnt nach Rache? Wer gewährt Vergebung? Was würde passieren, wenn all dies überhaupt nicht zur Sprache käme? Wie wappnen sich die Menschen für den Fall, dass sich Geschichte wiederholt?
Ich bin unablässig auf der Suche nach einem Kino, welches mit Hilfe von Bildern und Tönen das menschliche Empfindungsvermögen bis zum Äußersten erforscht, um die Tiefen meines kulturellen und sozialen Umfelds besser verstehen zu können. Deshalb ist für mein Land das Erinnern von wesentlicher Bedeutung – auch als Mittel die Identität von Menschen zu formen, die im Spiegel immer noch auf der Suche nach ihrem Abbild sind. Kino zu machen ist eine Mission und ein Anliegen, dem habe ich mich voll und ganz verschrieben. Dafür bin ich bereit, alles zu riskieren – und das politische System meines Landes zu hinterfragen.
Ich möchte mich durch Film von den sozialen Bedingungen emanzipieren, in denen ich aufgewachsen bin – einer Gesellschaft, die beim Versuch, sich zu stabilisieren, weiterhin nach ausländischen Vorbildern schielt. Mosambik braucht das Kino, um an seinen Ursprungsort zurückkehren und sich seinen Geistern stellen zu können. Mein Land hat bereits den Alptraum des Kolonialismus’ sowie einen Bürgerkrieg durchlebt; deren Geister suchen uns immer noch heim. Exorzieren, miteinander sprechen, Filme herstellen, die gekoppelt sind an die sozio-kulturelle Realität der Menschen – all das besitzt hohe Dringlichkeit.
In AS NOITES AINDA CHEIRAM A PÓLVORA (The Night Still Smells of Gunpowder) geht es um die Erinnerung, um ihre Fragmentiertheit und um die Notwendigkeit, sie dort zu dokumentieren, wo sie Gefahr läuft, verloren zu gehen. Der mosambikanische Bürgerkrieg endete 1992 nach den Zusammenbrüchen der Sowjetunion und des südafrikanischen Apartheidregimes, welche die Konfliktparteien FRELIMO und RENAMO unterstützt hatten. Als Ergebnis der Friedensgespräche wurden die RENAMO-Einheiten demobilisiert und in die regulären mosambikanischen Streitkräfte integriert. Seit 1977 waren eine Million Menschen getötet worden. Einen Versöhnungsprozess hat es nie gegeben. Heutzutage flammen die Spannungen zwischen RENAMO und FRELIMO wieder auf.
Der Bürgerkrieg war stets eine Art Fiktion, ein Märchen, das meine Großmutter für mich erfand
Meine Erinnerungen an den Bürgerkrieg sind eng verknüpft mit den Sommerferien meiner Kindheit im Dorf meiner Großmutter Maria. Es sind dies friedliche Erinnerungen, doch das Erstaunliche an diesen Aufenthalten war, dass sie während eines Krieges stattfanden, und ich habe das nie bemerkt. Wie war das möglich?
Als Kind verbrachte ich viel Zeit im Dorf meiner Großeltern. Eines Nachts wurden wir von den Rebellen angegriffen. Meine Großmutter nahm mich huckepack und rannte davon. Als ich sie fragte, was das für Lichter wären, sagte sie, das sei Feuerwerk. Der Bürgerkrieg war stets eine Art Fiktion, ein Märchen, das meine Großmutter für mich erfand. Meine Generation wuchs mit einem Tabu auf: Über den Krieg wurde nicht gesprochen.
Die falsche Erinnerung mit meiner Großmutter hat mich heute dazu bewogen, diesen Film zu machen. Ich musste die bruchstückhaften Erinnerungen, mit denen ich aufgewachsen bin, die Märchen, die Fiktion, wieder zusammensetzen. Von dieser imaginären Erinnerung ausgehend, wollte ich die wahre Geschichte hinter den Traumata des Bürgerkriegs in Mosambik dokumentieren: die Ängste, die gestohlenen Träume, die Erfahrungen von Menschen, die diesen schrecklichen Krieg am eigenen Leib erlitten und dabei Verwandte, Hab und Gut, Heimstätten und geliebte Menschen verloren hatten.
Andererseits lässt mir die Fiktion, mit der meine Großmutter mich nährte, den Raum für das Erfinden einer eigenen Erinnerung durch Filmbilder und Filmtöne. Schließlich ist das Kino seinerseits eine falsche Erinnerung: Durch einen Rahmen projiziert und mit schichtenweise hinzugefügten Lügen erzeugt es eine absolute Wahrheit. Weil Erinnerung konstruiert ist und eng mit den Sinnen verbunden – so wie der Geruch von Schießpulver mein falsches Erinnern auslöst –, will dieser Film die Suche nach den verlorenen und unterdrückten Erinnerungen an den Bürgerkrieg sinnlich erfahrbar machen.
Also kehre ich mit dem Instrumentarium des Kinos in das Dorf meiner Großmutter zurück, um Sinn zu stiften. Doch Maria hat Alzheimer im Frühstadium; an die traumatische Vergangenheit erinnert sie sich nicht mehr. Tagsüber nehmen sie ihre Alltagspflichten in Beschlag, da sind ihre Erinnerungen bruchstückhaft. Doch nachts sind ihre Erinnerungen präziser, und sie beginnt von ihrem Mann zu erzählen und davon, wie er durch eine Landmine getötet wurde. Weil aber diese Nächte nicht nur meiner Großmutter gehören, sondern dem gesamten Dorf, ist dieser persönliche Dialog zwischen ihr und mir der Ausgangspunkt für Begegnungen mit anderen Personen, die ebenfalls wesentlicher Bestandteil meiner Kindheitserinnerungen sind: Augenzeugen, ehemalige Rebellen, Opfer. Sie alle versammeln sich des nachts immer noch um ein Lagerfeuer, allerdings erzählen sie einander keine erfundenen Geschichten oder Fabeln mehr. Jetzt geht es um das Weitertragen und Hören der eigenen Geschichten, um die Vertreibung der Geister des Krieges, um die Heilung von Ängsten und Traumata – eine Therapie, an der Opfer und Täter sowie die jüngere Generation gemeinsam teilhaben, so dass es für sie unmöglich wird, die Vergangenheit zu vergessen und sie auf diese Weise in eine sichere Zukunft aufbrechen können.
Dieser Film gestattet mir, die Frage nach den Grenzen des Kinos zu stellen, nach dem Grad, bis zu dem Kino in der Lage ist, unterschiedliche Sinneswahrnehmungen wie Gerüche oder Berührungen auszudrücken.
Es war herausfordernd, AS NOITES AINDA CHEIRAM A PÓLVORA zu drehen, und zwar wegen des sensorischen Ansatzes, für den ich mich entschieden hatte, mit der Nacht und ihren Gerüchen als Ausgangspunkt für die Bürgerkriegserinnerungen. Ich musste alles dekonstruieren, was ich über das Kino und über Erinnerung wusste, um einen neuen Weg zu wagen und das Kino in den Dienst meiner Geschichte zu stellen (statt umgekehrt).
Dieser Film gestattet es mir, die Frage nach den Grenzen des Kinos zu stellen, nach dem Grad, bis zu dem Kino in der Lage ist, unterschiedliche Sinneswahrnehmungen wie Gerüche oder Berührungen auszudrücken. Um die Nächte wiederzugeben, in denen meine Großmutter mir Märchen erzählte, hätte es nicht ausgereicht, einfach ein lichtstarkes Objektiv zu benutzen. Ich musste zur Quelle dieser Geschichten zurückkehren, zum warmen Schoß meiner Großmutter Maria. Ich musste zuhören, musste mir das Bild dieser verlorenen Märchen visuell erarbeiten und mit Hilfe des Kinos meine eigenen erzählen. Ich glaube an ein persönliches Kino, welches das plötzliche Aufleuchten von Glühwürmchen und das Zirpen der Grillen in nächtlicher Harmonie einzufangen vermag.
Erfolg mit diesem Film zu haben würde heißen, dass ich meiner Pflicht nachkomme, Erinnerungen zu schaffen; dass ich der Aufgabe gerecht werde, ein Land zu dokumentieren, welches das Kino braucht, um eine Heilung seiner Traumata zu erreichen. Die größte Herausforderung besteht darin, das fehlende Bild wiederzufinden und es meinem Land zurückzugeben. Ich möchte meine Stimme im Kino hören, möchte meine Träume in Bilder übersetzen und mit diesen Bildern in ein vertrautes Plaudern kommen, möchte fantastische oder erfundene Geschichten so erzählen, als wären sie real. Ich möchte alle ästhetischen und kreativen Möglichkeiten des Dokumentarfilms auf persönliche, innovative und dringliche Weise ausschöpfen.
Diesen Film zu machen, geht weit hinaus über das Bedürfnis, meine Ambitionen als Künstler und Regisseur zu befriedigen. Will ich Fragen zum Bürgerkrieg in Mosambik beantworten, muss ich die Erinnerung zurückgewinnen und mich einer emotionalen Therapie unterziehen. Indem ich persönlich Stellung beziehe, möchte ich einen kollektiven und kinematografischen Dialog über die Traumata aus 16 Jahren Krieg anstoßen. In Mosambik gibt es immer noch kein Bild des Konflikts. Ebenso wenig gibt es einen offenen Dialog darüber. Dass die Schrecken des Krieges auch meine Generation weiter heimsuchen, liegt in diesem Schweigen begründet.
Die Märchen meiner Großmutter und die Nächte des Dorfes einzufangen und sie zu etwas Universellem zu machen, scheint mir der richtige Ansatz zu sein für einen Film, der dazu beitragen will, einen Dialog zwischen Opfern und Tätern des mosambikanischen Bürgerkriegs zu eröffnen – die Geschichte des Dorfes als kleines Beispiel für die Möglichkeit von Versöhnung und Vergebung, hier und anderswo.
Inadelso Cossa
Übersetzung: Stefan Pethke