Das Kino meiner Träume, dachte ich, darf es nicht geben, ich würde aufhören, danach zu suchen. In den acht Jahren, in denen ich an diesem Film gearbeitet habe, das Budget war auf 50 Drehtage und vier Jahreszeiten ausgerichtet, musste ich oft an Mendel Singer denken, die Hauptfigur in Joseph Roths „Hiob“, der nach dem Verlassen seiner russischen Heimat in New York zuerst seine Familie, dann seinen Glauben und am Ende sich selbst verliert. Er sei nur noch der Rest von Mendel Singer, sagte er da.
Der Schneideraum ist auch ein gefährlicher Ort. Übermüdet saß ich wieder vor den Mustern aus dem Stall der Mongolischen Wölfe und starrte auf das Fleisch, das die Tierpflegerin ausgelegt hat. Sie haben die Kamera gerochen, das Ungewohnte in ihrem Rückzugsraum und lieber das Futter den Fliegen überlassen, als uns einen Gefallen zu tun. Meine Verzweiflung jedoch war erst dann spürbar, als ich die Fliege in meinem Zimmer von denen im Stall nicht mehr unterscheiden konnte. Ich legte den Kopfhörer ab, ließ den Ton über die Lautsprecher laufen und versuchte, für klare Verhältnisse sorgen. Die Fliege war keine Kleinigkeit und ich brach die Arbeit ab. Beim Einschlafen habe ich tatsächlich an Brecht denken müssen und mir gewünscht, er hätte sein Gedicht vom Zweifler nie veröffentlicht.
Am nächsten Tag lasse ich mich von einem Blaupunktrochen verzaubern, ein hidden treasure der Natur. Im Quarantänebecken des Zoo-Aquariums konnten wir ihn von unten filmen. Man lernt über diese Tierart, wie alt sie ist, und glaubt, wenn sie senkrecht nach oben schwimmt, einen Vogel im Wasser zu sehen. Man ist überrascht, wie die verschiedenen Einstellungsgrößen die tatsächlichen Verhältnisse umdeuten, man freut sich, dass es die eigene Kamera war, die einen austricksen wollte und dankt dem Schnitt, mit seinen checks und balances die Sequenz voran gebracht zu haben.
Nein, ich fürchte mich nicht vor den Vorsokratikern, die noch zu entdecken sind. Ich vertraue ihnen bereits, denn sie wussten, dass Blitz und Donner nicht dem Zorn des Zeus geschuldet sind.
Endlich fühlt man sich bereit, von den 6500 Einstellungen, die wir gedreht haben, das schwierigste Material anzugehen, die Szenen mit den Phasmiden. Diese Insekten schützen sich, anders als leuchtstarke Pfeilgiftfrösche, über die Perfektion ihrer Tarnung, dadurch sind sie aber auch tödlich für andere. Bei den Dreharbeiten gab es keinen anderen Ort, an dem sich die Begeisterung der Besucher über das Nichtsehen, das Nichterkennen können, so verdichtet hat, wie vor diesem Terrarium von einem mal zwei Metern. Die Gespenstschrecke sah aus wie ein Ast, das Wandelnde Blatt glich der Wandlung einer Pflanze. Die Täuschung und die Erkenntnis in einem Bild, einer Einstellung oder gar in einem magischen Moment festzuhalten, blieb immer eine Herausforderung. An diesem Abend konnte der Schnitt uns nicht unterstützen.
Noch im Halbschlaf lese ich, wie mittlerweile 700 Affenarten bestimmt werden können, vor 50 Jahren waren es noch 250. Ich denke an die 500 Tiere, die Aristoteles, der Begründer der Zoologie, vor über 2000 Jahren beschrieben hat. Ich denke an das Höhlengleichnis seines Lehrers, die erste Beschreibung eines Kinoerlebnisses in unserer Kultur. Ob die filmische Realisierung des Gleichnisses einfacher sein würde als die Szene mit dem Wandelnden Blatt, will ich noch wissen.
Nein, ich fürchte mich nicht vor den Vorsokratikern, die noch zu entdecken sind. Ich vertraue ihnen bereits, denn sie wussten, dass Blitz und Donner nicht dem Zorn des Zeus geschuldet sind. Mit ihrer unerschöpflichen Neugier haben sie 200 Jahre lang immer wieder die Erde auf den Kopf gestellt, nach den Ursprüngen gesucht, uns vom Werden und Vergehen erzählt. Wie leichtfertig tauschen wir heute diesen Wert gegen ein Regalsystem, in das alles eingeordnet werden muss und viele dieser Arbeit täglich gerne nachgehen. Das beruhigt, entlastet, es dient aber nicht dem Verstehen, es vernichtet die Vielfalt. Endlich bin ich weg, träume von einer großen, wirklich freien Handelszone der Ambiguität, in der sich die Kunst, mit dem Film als schönes Mittel, gegen die Vereindeutigung der Welt stellt.
Romuald Karmarkar