L'HOMME-VERTIGE ist kein Film über Pointe-á-Pitre, sondern eher ein langes Treibenlassen durch diese Stadt, eine Erkundung ihres sozialen Gefüges. Es ist kein Film über das Leben, sondern über das Überleben in Pointe-á-Pitre … Ich stellte mir diesen Film als den Versuch vor, dieses hartnäckige Dahinsiechen aufzuzeigen, das auch etwas über den heutigen Zustand der Welt verrät. Ich wollte die sozialen Verwerfungen, das Wegbrechen des gesamten Stadtraums sichtbar machen, indem ich die Leerstellen, das Dahindämmern, den Geichmut und den täglichen Überlebenskampf filme. Ich wollte diese Stadt als Metapher für den Gesamtzustand der Insel zeigen. Einst eine Stadt des Volkes, die Stadt der Fabrikarbeiter*innen, der blutig niedergeschlagenen Aufstände und Kämpfe, ist sie heute nur noch eine Geisterstadt, in der verflossene politische und soziale Utopien spuken. Welche Hinterlassenschaften der Vergangenheit tragen die Körper mit sich herum?
Ich wusste nicht, was aus mir werden soll, ja, nicht einmal, wie ich auf dieser Insel und in dieser Stadt überhaupt leben sollte. Ich entschloss mich innezuhalten; ich wollte Einzelheiten filmen, das zeigen, was noch übrig ist, was sich noch widersetzt, einfach das, was „ist“. Der Film ist eine Suche, ein Ausdruck des Wunschs, dem Chaos die Kontemplation entgegenzusetzen. Ich wandele auf den Spuren meiner eigenen Exkursionen in diesen Stadtraum und dokumentiere meine Begegnungen mit den Protagonisten, die dort in einer anderen Zeit leben, in einem gedrosselten Tempo, das sich der allgemeinen Lethargie der Stadt angepasst hat. Es ist eine Zeit, die sich zieht, und keinen Begriff mehr von den Jahren hat, die verstreichen. Eine Zeit des Abwartens, der Tag für Tag wiederholten Gesten, der Metamorphosen der Straßen im Lauf der Stunden. Lasst ihre Existenz in Erinnerung bleiben, damit wir uns erinnern, dass diese Männer und Frauen existiert haben. Ti Chal, eine der Hauptfiguren, hat einmal zu mir gesagt: „Die Straße zu beobachten ist die beste Art, nicht den Anschluss ans Leben zu verlieren.“
Unser eigenes langsames Verschwinden
Als ich als Kind mit meiner Mutter nach Pointe-á-Pitre kam, beobachtete ich faszinierende Gestalten, die Teil der Stadtlandschaft zu sein schienen. Wir gaben ihnen kreolische Namen, und manchmal verschwanden sie einfach so. Sie waren meine erste Begegnung mit Wunderlichkeit und Wahnsinn. Ich sah, wie sie der Insel entkamen, ohne sie je zu verlassen.
Eines Tages ging ich weg. Mir blieb nur die Flucht. Es gab hier einfach keine Zukunft; entweder Frankreich, die „Metropole“ oder nichts. Und dann zog es mich weiter. Sieben Jahre Abwesenheit führten mich von Kontinent zu Kontinent. Auf dieser langen Reise traf ich andere Einwohner*innen Guadeloupes wie mich, die sich ankerlos, heimatlos durch die Welt treiben ließen. Die Insel lebt in uns, ohne dass wir auf der Insel leben. Eine Insel ohne Konturen, die immer noch davon träumt, ein echtes Land zu werden, eine Insel, die ganz und gar von einem weit außerhalb liegenden Zentrum her definiert ist. Denn wir begreifen oft erst beim Weggehen, wie ausnehmend paradox und fragwürdig unser Französischsein ist. Und dann die ganzen Rückkehrfantasien und -vorstellungen, weil man es nie zu lange und zu weit weg aushält. Was verändert das Fehlen eines eigenen Staats in uns?Manchmal empfand ich bei der Rückkehr sofort eine Art Lähmung, eine Art Atemnot, dieses zähe Vorankommen. Stets die altbekannten Probleme: vergiftete Böden, abgestelltes Wasser, Krankenhausnotstände, steigende Arbeitslosenzahlen, verarmte Familien, die Überalterung der Bevölkerung, Landverkäufe an Ausländer, invasiver und überhandnehmender Tourismus – dieses Abmühen ohne jeden Fortschritt. Ich war dort, ohne wirklich anwesend zu sein; ich erlebte mich als Zuschauerin. Ich beobachtete die Dinge aus großer Distanz. Ich fragte mich, ob diese Stagnation etwas mit der Geschichte der Insel zu tun hatte. Wie kann man auf eine Insel gehören, die uns nicht gehört?
Wie soll man dort leben? Tief in unserem Innersten wollen wir die Insel nicht verlassen. Es ist die Insel selbst, die langsam aus uns verschwindet. Wir werden zu stummen Zeugen unseres eigenen langsamen Sterbens. Auf Guadeloupe zu bleiben heißt, permanent gegen die Lethargie anzukämpfen. Man muss stark genug sein, das Land und seine Widersprüche auszuhalten. Ich blieb.
Einzelne Menschen wurden zu meinen Ankerpunkten. Ich hörte ihnen zu, wanderte auf ihren Spuren und machte mir ihren Blick zu eigen.
Bestimmte Plätze fesseln mich. Ich kehre immer wieder an dieselben Orte zurück Straßen, Marktplätze, verlassenen Gebäude, Orte, die bald verschwunden sein werden. Und ich frage mich, welche Spuren, welche Erinnerung diese große Zerstörungswelle hinterlassen wird, wenn die Stadt uns in ihrem Untergang mit sich reißt.
Ich sehe Gewalt im soziale Elend, das die Stadt vergiftet und die vom Crack verwüsteten Körper noch mehr zerfrisst, die ausgemergelten und verkrümmten Leiber der Herumtreiber, die schon gar nicht mehr um etwas betteln, sondern einfach nur auf den Bürgersteigen und vor aufgegebenen Ladenlokalen herumliegen. Resigniert, als hätten wir nichts mehr zu erhoffen, sind wir zu Zuschauern geworden, wir haben nichts mehr mitzureden – wir spielen keine Rolle mehr, sondern existieren vor uns hin.
Darum möchte ich, dass diese Stimmen Gehör finden. Wir müssen uns dieser Frauen und Männer erinnern, die weder militanten noch resignierten Erben dieser latenten Wut. Sie sind Propheten, verankert in einer wankenden Stadt, Bewahrer einer Erinnerung, die sich in den Falten ihres Schweigens und dem Mäandern ihrer inneren Stimmen verbirgt. Diese Menschen existieren am Rand des Abgrunds, fristen ein prekäres Dasein an der Peripherie des Chaos der Welt. Sie wurden zu meinen Ankerpunkten, ich hörte ihnen zu, wanderte in ihren Spuren und versetzte mich in ihre Perspektive. Wir verlieren genau wie sie den Boden unter den Füßen, wenn wir uns nicht mehr im Strom voran bewegen, der uns davonträgt, wenn sich die Trugbilder auflösen. Sie leben ständig mitten im Chaos, drehen unsere Sicht auf die Welt um und rufen uns herbei, um zur Abwechslung endlich selbst unseren Platz einzunehmen.
Mallaury Eloi Paisley
Übersetzung: Clara Drechsler, Harald Hellmann