Direkt zum Seiteninhalt springen

Barbara Wurm: Katharina, war deine Lebenssituation und Erfahrung tatsächlich Ausgangspunkt für REPRODUKTION? Oder gab es Fährten, die erst zu dir geführt haben?

Katharina Pethke: Das war ein dreistufiges Verfahren. Zum einen war es so, dass ich an dem Ort, um den es geht, der Hochschule für bildende Künste Hamburg, studiert habe. Dann bin ich dort Jahre später Professorin geworden, im Bereich Film, der nur ein paar Monate vorher in die Geburtsklinik nebenan gezogen ist, in der ich geboren wurde. Da habe ich mich schon gefragt, ob das eine Bedeutung hat, beziehungsweise ob ich mit dieser Bedeutung etwas anfangen kann. Der tatsächliche Initialmoment kam dann aber, als ich schwanger geworden bin mit Zwillingen und wieder zur Hochschule ging, an die Arbeit, an einen Ort der Arbeit. Ich hatte eine schöne, lebensverändernde Erfahrung gemacht, deren Brisanz und Größe ich vorher nicht hatte absehen können. Plötzlich sind mir die Geschichten meiner Mutter und Großmutter deutlich vor Augen getreten, und ich habe mich wie eine Figur aus L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD (LETZTES JAHR IN MARIENBAD) gefühlt. Dort geht es um ein Sanatorium, in dem sich die Hauptfiguren bewegen wie in einem fortwährenden Gegenwartszustand. Man weiß aber nie, ob sie eigentlich über die Vergangenheit sprechen und falls ja, über welche. Das hat mich inspiriert, weil es mir genauso ging. Ich habe meine Großmutter mit 21 Jahren durch dieses Gebäude gehen sehen, meine Mutter, mich selbst. Ich war als Professorin außerdem zuständig für die Studienanfänger*innen, hatte also mit Leuten im ersten Jahr ihres Studiums zu tun, die wiederum in einem ähnlichen Alter waren. Damit musste ich etwas machen. Dabei ging es mir nicht um eine Nabelschau. Vielmehr war mein eigenes Leben Ausgangspunkt für mein Interesse.

Carolin Weidner: Hast du dich erstmals in deiner Arbeit derart Autobiografischem zugewandt?

KP: Nein, mein erster Film IN LIEBE – BRITTA SCHMIDT von 2007, der vom Freitod meiner besten Freundin handelt und auch essayistisch ist, hat ebenfalls autobiografische Elemente. Meine Theorie ist sowieso, dass jeder Film persönlich ist – direkt oder indirekt –, die Unterschiede sind dabei eher graduell. REPRODUKTION könnte auch als Porträtfilm bezeichnet werden: ein Porträt von vier Frauen, die an diesem Ort waren. Und ich bin eine von ihnen.

Es geht darum, dass man versteht, dass hier seit 100 Jahren immer wieder Positionen und Gegenpositionen entwickelt werden

CW: Gleichzeitig porträtiert REPRODUKTION auch einen Ort und seine Wandlung. Wir erfahren ganz zum Ende, dass du mit dem Film erst begonnen hast, als deine Professur schon vorbei war. Hast du davor trotzdem schon mit der Recherche begonnen? Und falls nicht, inwieweit hat sich dein Blick dann nochmal verändert?

KP: Als diese sechs Jahre vorbei waren, war es ja quasi das dritte Mal, dass ich diesen Ort verlasse – diesmal hat es sich aber wirklich so angefühlt wie ein Abschied. Während der Rückkehr zum Drehen habe ich mich dann tatsächlich wie ein Geist gefühlt, in diesen Gängen. Es war wichtig, dass ich den Film aus einer neuen Position heraus mache, mit Abstand zu meiner eigenen Zeit dort und dem Druck, den ich dort aus unterschiedlichen Richtungen gespürt hatte. Er hatte etwas mit dem Autobiographischen zu tun, aber auch mit der politischen Situation an der Hochschule. Einige Strukturen sind nach wie vor so, wie sie schon immer waren.

CW: Welche Rolle spielen die Studierenden für dich? Hast du sie aus der Beobachter*innen-Perspektive anders wahrgenommen?

KP: Das ist fast eine ethnographische Perspektive, weil ich einen ganz persönlichen Zugang habe. Das waren größtenteils vertraute Menschen für mich. Ich habe sie durch ihr Studium begleitet und bin dadurch auch in Beziehung mit ihnen getreten. Mir war es wichtig, dieses Beobachten am Ort auch filmisch einzufangen oder filmisch begreifbar zu machen, denn es geht darum, dass man versteht, dass hier seit 100 Jahren immer wieder Positionen und Gegenpositionen entwickelt werden. Dass es sich um einen Ort handelt, an dem Gesellschaft hinterfragt wird und daran gearbeitet wird, dass etwas anders wird. Das wollte ich ins Bild bringen.

Eine feministische Haltung zu entwickeln, bedeutet ebenfalls, die Zeit und den Raum dafür zu haben

CW: Du erwähntest bereits die Flure, durch die du dich bewegt hast wie ein Geist. In den Kamerafahrten scheinen sie sich je nach Gefühlslage zu verändern, sie kommunizieren selbst.

KP: Ja, die Flure haben eine Mehrfachbedeutung. Zum einen ist die Zentralperspektive wichtig, in der ich Lebensläufe „abfahre“ und dabei auch immer wieder gegen eine Wand gucke. Ich arbeite mich damit auch aus feministischer Perspektive an den Privilegien der Protagonistinnen ab, die sie zweifelsfrei hatten – jede auf ihre Weise. Als meine Großmutter 1946 direkt nach dem Zweiten Weltkrieg als Frau auf die Idee kam, Kunst zu studieren, war das etwas Besonderes. Es zeugte von ihrem bürgerlichen Selbstverständnis. Meine Mutter wollte sich wiederum ihres bürgerlichen Hintergrunds entledigen, ihn negieren. Auch das ist eine privilegierte Position. Und eine feministische Haltung zu entwickeln, bedeutet ebenfalls, die Zeit und den Raum dafür zu haben. Ich konnte in der Generationenabfolge noch mehr erreichen, hatte schließlich sogar eine Professur. Dann bin ich an eine Grenze geraten: Überspitzt formuliert ist die Sollbruchstelle des Feminismus heute die Mutterschaft. Ich bin zwar weit gekommen, aber das war der Moment, an dem ich spürte, es geht nicht weiter. Entweder bin ich jetzt Mutter oder Künstlerin. In der Wahrnehmung der Welt, aber natürlich auch meiner eigenen, kann ich offenbar nicht beides sein.

BW: Gab es von Seiten deiner Mutter eigentlich Widerstand, porträtiert zu werden?

KP: Ganz im Gegenteil. Meine Mutter war wahnsinnig dankbar für diese direkte Auseinandersetzung, die ich mit ihr geführt habe. Wir haben den Film in fünf Jahren produziert und viele verschiedene Zugänge versucht, Interviews und Gespräche geführt, auch vor der Kamera. Im Film ist die Essenz davon zu sehen. Es geht nicht um die Konfrontation, sondern um ein Verstehen wollen, ein Nachvollziehen von Beweggründen und Umständen. Das Thema Mutterschaft wird immer als sehr persönlich wahrgenommen, es kommt schnell die Erwartung auf, dass dann auch ein sehr emotionaler Film herauskommen müsse. Die Produzentin und ich waren uns einig, dass es wichtig ist, alles an einem Ort der Arbeit abspielen zu lassen und hier auch zu verhandeln – um die strukturellen Fragen herauszuarbeiten. Meine Mutter beziehungsweise unsere Beziehung spielt eine große Rolle. Und vielleicht komme ich an dieser Stelle noch mal auf die Kamerafahrten zurück, welche auch sehr stark an L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD angelehnt sind. Die Kamera fährt immer weiter durch diese über 100 Jahre alten Gänge, durch die immer neue Generationen schreiten – mit neuen Hoffnungen und Wünschen –, um in der Aula zu ihrem Studium begrüßt zu werden. Und der männliche Genius guckt vom Wandgemälde auf sie herunter. Diese Zeichnung des „idealen“ Künstlers, und was dagegen unten in der Wirklichkeit stattfindet – das hat mich interessiert.

Ich stelle Bezüge zwischen Dingen her, die vielleicht vordergründig keine Beziehung haben

CW: Du montierst und komponierst sehr sachlich und klug, an vielen Stellen tritt für mich trotzdem ein Schmerz in den Vordergrund, eine Düsterkeit.

KP: Du beschreibst damit deine Gefühle, das freut mich, denn damit ist etwas gelungen: Die Aufladung findet nicht auf meiner Seite statt, sondern auf deiner. Ich wollte den Zuschauer*innen nicht auferlegen, was sie fühlen sollen.

BW: Es gibt einige Leitmotive in REPRODUKTION, die sich als Wortfügungen, aber auch in anderen medialen Formen einbrennen. Das stärkste ist vielleicht „Frauenschicksal“ – ein Konzept, eine Skulptur. Haben sich diese Motive einfach gefügt? Das ist erstaunlich.

KP: Ich habe einen Leitspruch, der glaube ich von John Baldessari stammt: „Great art is clear thinking about mixed feelings.“ Wenn ich an dieser Mutter-Kind-Skulptur vorbei an den Ort meiner Arbeit gehe, empfinde ich Unbehagen und widersprüchliche Gefühle. Ich sehe, wie diese perfekte idealisierte Mutter bei Tag und bei Nacht, bei Wind und Wetter steinern und selbstlos ins Nichts starrend dasitzt und ihr Kind umhüllt, während meine Kinder in der Betreuung sind, weil ich zur Arbeit gehe. Und das ruft in mir Gefühle, Widersprüche und Gedanken hervor. Ich denke dann an meine Mutter und uns, aber es setzt auch ein theoretisches Interesse ein: Was ist das für eine Figur, woher kommt sie? Wieso steht die Geburtsklinik neben der Kunsthochschule? Wieso gibt es diese Skulptur? Was hat es mit diesem Genius in der Aula auf sich, der wie ein Denkmal mit viel Geld gepflegt wird? Ich stelle Bezüge zwischen Dingen her, die vielleicht vordergründig keine Beziehung haben. Das ist für mich das essayistische Verfahren. So komme ich weiter und treffe etwa auf diese wahnsinnige Geschichte einer Künstlerin, die zunächst die Skulptur einer Frau als Mutter im Widerspruch erschafft. Ihr Mann schafft zwei Jahre später eine Gegeninterpretation: Eine Frau als glückliche Mutter, in der Blüte ihres Seins. Seine Skulptur wurde vor 100 Jahren an der Kunsthochschule aufgestellt und steht dort bis heute. Ihre hingegen verschwand im Depot der Kunsthalle. All das herauszufinden war eine spannende und fast archäologische Arbeit.

Die Idee der Reproduktion in der Kunst halte ich für enorm wichtig, denn die Kunst sollte eigentlich ein Refugium sein, ein Gegenmoment gesellschaftlichen Denkens

CW: Das „Frauenschicksal“ zieht sich durch, gab es Überlegungen, den Begriff als Filmtitel zu nehmen? Nun ist es REPRODUKTION geworden, was assoziierst du damit?

KP: Es wäre fatal gewesen, den Film „Frauenschicksal“ zu nennen. Denn für mich ist das nur ein Aspekt des Ganzen. Mein Verfahren verlangt den Zusehenden Arbeit ab, diese ganzen Verknüpfungen nachzuvollziehen und ihnen zu folgen. Es geht um Bilder und Annahmen, die reproduziert werden, um Ideale, die unverrückbar scheinen – bis heute. Natürlich geht es um Generationenabfolgen im Kleinen und Privaten, aber auch im Großen: Wie reagiert die Kunst auf ihre Umwelt? Die Idee der Reproduktion in der Kunst halte ich für enorm wichtig, denn die Kunst sollte eigentlich ein Refugium sein, ein Gegenmoment gesellschaftlichen Denkens. Und dann wird ausgerechnet bis heute dieser Genius-Gedanke reproduziert, den ich auch mit dem neoliberalen, erfolgreichen, männlich geprägten Menschen verbinde, der das Ideal der Zeit zu sein scheint. Ist das nicht überholt? Wäre es nicht interessanter, in Kollektiven zu denken? Letztlich rekurriere ich mit REPRODUKTION auch auf die Biologie. In der Montage war es eine klare Entscheidung, nicht in eine bestimmte Richtung zu argumentieren. Es geht um die strukturelle Analyse von Zuständen und Umständen, exemplarisch an diesem einen Ort.

CW: Die Reproduktion vollzieht sich außerdem materiell anhand der Reproduktion der „Frauenschicksal“-Skulptur. Das ist so unglaublich, dass es schwerfällt, an einen Zufall zu glauben?

KP: Doch, es war wirklich ein Geschenk. Auch aus dem Grund, weil es wichtig war, allem etwas Körperliches entgegenzusetzen. Ich habe den haptischen Entstehungsprozess reproduziert. Auf das „Frauenschicksal“ bin ich 2019 im Stadtpark gestoßen, beim Spazieren. Eine sehr weiße Skulptur, neu, obwohl sie doch von 1912 ist. Da dachte ich, das kann ja gar nicht wahr sein. Dann bin ich auf einen Artikel in der „Zeit“ aufmerksam geworden und habe das Paar ausfindig gemacht, welches für die Reproduktion verantwortlich ist. Sie haben für den Film eine zweite Reproduktion angefertigt und ich bin sehr glücklich darüber, denn ohne sie wäre er viel ärmer.

Die Meta-Auseinandersetzung bedeutet mir in meinen Filmen schon immer viel

BW: Du arbeitest mit sehr vielen Medien, Albumbetrachtungen, Fotografie. Waren das alles vertraute Techniken für dich oder hast du dich für deinen Film in neue Richtungen begeben?

KP: In IN LIEBE – BRITTA SCHMIDT ging es um Fotografien von meiner Freundin, mit denen ich mich auseinandersetzen musste, weil ich sehr viele hatte. Sie waren übriggeblieben von dieser Beziehung. Mir ist die Auseinandersetzung mit dem Medium wichtig, und sie ist in jeder meiner Arbeiten mehr oder weniger vorhanden. In REPRODUKTION halte ich mich viel in der Vergangenheit auf, und es war klar, dass es nicht wenige Referenzmaterialen geben würde. Es handelt sich also auch um einen Archivfilm. Das Archiv wollte ich erfahrbar machen, und deswegen zeige ich auch, wie ich diese Materialien anschaue oder auf einem Tisch sortiere. Die Meta-Auseinandersetzung bedeutet mir in meinen Filmen schon immer viel.

BW: Gibt es Dinge, die du bewusst ausgespart hast? Die Nazigeschichte dieser Institution zum Beispiel?

KP: Ja, natürlich. Bei multikausalen Fragestellungen bleibt es nicht aus, dass Dinge ausgespart werden. Den Nationalsozialismus habe ich bewusst rausgelassen, weil er ein eigenes Feld gewesen wäre. Das Völkische im Wandgemälde von Willy von Beckerath im Gegensatz zum Bildhauer Richard Luksch. Da finden gerade einige politische Auseinandersetzungen statt. Auch Hochschulinterna habe ich ausgespart. Dann ist der Film in Zusammenarbeit mit meinem Partner entstanden, der die Kamera gemacht hat. Obwohl diese Konstellation spannungsgeladen ist, war sie wichtig, da er während meiner Professur das umgekehrte Rollenverständnis erlebt hat – was aber auch nicht die Lösung ist. Es gibt zu dem Thema spannende Entwicklungen und Initiativen, wie das Manifest „Mehr Mütter für die Kunst“. Im Schnitt hatte ich phasenweise das Bedürfnis, direkter zu arbeiten, Thesen in den Raum zu stellen, mich zu ereifern, zu argumentieren, oder auch wütend zu werden im Voice Over. Aber dann haben wir uns dagegen entschieden. Die künstlerische Arbeit war, mit diesem Widerspruch erst einmal umzugehen, ihn darzustellen und zu benennen. Der nächste Schritt ist, nach dem Film darüber zu sprechen.

ZURÜCK ZUM FILM

Gefördert durch:

  • Logo des BKM (Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)
  • Logo des Programms NeuStart Kultur