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Barbara Wurm: René, dein Film „erzählt“ über einen Schweizer Verlag, über Erbschaft, über die Erben. In welchem Verhältnis stehst du dazu? Warum einen Film über diese Leute?

René Frölke: Eigentlich ist es kein Film über diese Leute, sondern über die Spuren, die sie hinterlassen haben. Und für mich ist es auch keine Dokumentation darüber, was dieser Verlag eigentlich war, denn das sieht man nur in Ansätzen. Es geht eigentlich um alle Verlage, die es gibt und jemals gab und jemals geben wird. Ja, warum macht man das? Und was passiert mit diesen Hinterlassenschaften? Ist das nicht alles ein Stück weit die Eroberung des Nutzlosen, in Anlehnung an Werner Herzog? Natürlich hat mich am Anfang schon interessiert, was das für ein Verlag war und was sie alles rausgebracht haben. Aber man kann das eigentlich nicht wirklich erzählen. Und aus einer Aversion gegen das Anekdotische heraus habe ich mich dann eben nur auf die Spuren verlassen, die ich gefunden habe, und die mich als selbstredende Fragmente angesprochen, die mich berührt haben.

Carolin Weidner: Wie hast du die Spur zum Verlag aufgenommen oder aufnehmen können?

RF: Das war 2017. Ursprünglich wollten Ann Carolin Renninger, die den Film produziert hat, und ich nur Bücher abstauben, und zwar ganz bestimmte Bücher. Sie sollten irgendwo in einem Keller von diesem Verlag in Zürich liegen. Wir sind dann im Anschluss des Festivals Visions du Réel in Nyon, wo unser letzter Film AUS EINEM JAHR DER NICHTEREIGNISSE lief, noch schnell dorthin gefahren, um sie vielleicht zu kriegen. Das war dann auch schon die erste Begegnung, die erste Szene, das Aufeinanderprallen in dieser Wohnung.

CW: Was genau hat euch an den Büchern fasziniert? Warum wolltet ihr die abstauben?

RF: Ganz grundsätzlich ging es um Bücher von Robert Lax. Bernhard Moosbrugger, einer der Mitbegründer des Pendo Verlags, hat mit ihnen, wie ich finde, sein Opus magnum als Gestalter vorgelegt. Es gibt sie nur noch auf Ebay oder gebraucht zu kaufen. Aber als wir dann gemerkt haben, dass da noch viel mehr existiert als diese Bücher in dieser Wohnung, war es wie eine Lawine aus Eindrücken. Aber Lawinen sind eben auch sehr interessante Gebilde. Und das hat uns schließlich mehr gereizt als nur diese Bücher. Eine Tür machte sich auf und dahinter die nächste Tür und dann die nächste Tür und am Ende sieht man nur noch Türen. Letzten Endes geht es im Film um die Unmenge an Türen, nicht um die einzelnen Bücher.

Es ist eine subjektive Objektivität, das sind persönliche Präferenzen, die da reinspielen, aber gleichzeitig ist es auch das Material selbst, das einem manchmal sagt: „Nee, das will ich so nicht!“

CW: Aber ihr brauchtet dennoch Leute, die euch helfen, diese Türen zu öffnen. Ihr wart angewiesen auf Tessa. War sie eurem Vorhaben gegenüber aufgeschlossen? Im Film wirkt ihr sehr vertraut, auch wenn eine gewisse geheimnisvolle Ebene bleibt.

RF: Im ersten Jahr hat Gladys, Tessas Mutter und Mitbegründerin des Verlags, noch gelebt. Und Gladys wollte eigentlich gar nicht mehr gefilmt oder aufgenommen werden, aber Caro hat sie dann doch überzeugt. Es war, als wenn Gladys geahnt hätte, dass wir uns vielleicht nicht wiedersehen würden. Tessa war hingegen immer offen dafür. Und wir haben auch nicht die ganze Zeit diesen Film gemacht, ich glaube, man merkt das auch ein wenig. Es findet da eine Art Suche statt, nach der ominösen Kiste mit wichtigen Unterlagen. In den vier, fünf Jahren des Drehs haben wir die Kiste noch immer nicht gefunden. Sie wird dort irgendwo sein. Dies war unsere gemeinsame Arbeit, neben der des Filmens. Und ich glaube, es ist dieses Zusammensein, das man sieht und wahrnimmt.

BW: Euer Prinzip war also auch, der Chronologie der Ereignisse und Begegnungen zu folgen. Wenn du dann entscheidest, ganz bestimmte Partikel oder Zitate rauszunehmen und länger einzublenden, nach welchen Kriterien erfolgte die Auswahl? Also welche Zitate, wie lang sie stehen, ob sie denn ganz zu sehen sind oder sich fragmentieren mit der Zeit.

RF: Das sind zeitlich zwei unterschiedliche Entscheidungen. Einmal ist schon während des Drehs klar, dass man nicht alles filmen kann, da wir auch nur begrenzt Filmmaterial haben. Das erzeugt einen großen Druck und man entscheidet wie im Affekt, also subjektiv und halb unbewusst, was aufzunehmen ist. Später, in der Montage, folgt dann ein zweiter Entscheidungsprozess, wo man herausfinden muss, was da nun der Kern der Sache ist. Und hier passiert es, dass bestimmte Elemente des Materials mit anderen in Verbindung treten, wiederum anderes scheidet wie von selbst aus. Ich wollte ursprünglich viel mehr über die Personen erzählen, über Bernhard und Gladys, habe dann aber schnell gemerkt, dass es anekdotisch wird und man im Grunde nur etwas anerzählt. Da sind wieder die vielen Türen, die nur zu noch mehr Türen führen. Damit wird man der Geschichte auch nicht gerecht. Es ist nicht leicht zu beschreiben, warum ich so und so entschieden habe. Es ist eine subjektive Objektivität, das sind persönliche Präferenzen, die da reinspielen, aber gleichzeitig ist es auch das Material selbst, das einem manchmal sagt: „Nee, das will ich so nicht!“

Ganz am Ende setzt sich irgendwas, irgendwas bleibt doch von all dem

CW: Ich hatte den Eindruck, dass gerade auch Fritz Weigner, Gladys Mann und Tessas Vater, das Religiöse als Themenkomplex stark mit reinbringt. Ist das etwas, das sich im Prozess mehr und mehr in den Vordergrund gespielt hat?

RF: Tatsächlich war Fritz Weigner für mich von Anfang an die zentrale Figur. Was hat es mit dem Katholizismus dieses Fritz Weigners auf sich? Und was hat sein Katholizismus mit seinen Bildern zu tun? Meine Idee war, nur anhand des Materials, also der hinterlassenen Spuren von Fritz Weigner zu erzählen. Es gab zwei bis drei große Kartons mit zumeist losen Blättern. Über die Jahre war die Chronologie dieser Zettel abhandengekommen, aber ich konnte erkennen, dass er über einen Zeitraum von 30 bis 40 Jahren jede Sonntagsmesse mitnotiert hatte. Zum Teil war es auch nur die Rückseite eines Tram-Billets oder eine Quittung, die beschrieben war. Diese Zettel faszinierten mich, aber es schien mir schwierig, dieses ganze Werk abzubilden beziehungsweise auch nur zu erfassen. Zum Glück gab es noch circa 20 Hefte, zum größten Teil Mitschriften einer Vorlesungsreihe eines katholischen Arbeitskreises. Ich entschied mich, aus zeithistorischem Interesse und weil es hier grafisch sehr schöne Blätter gab, für das Wintersemester 1943/44 und versuchte zunächst den Text möglichst genau zu transkribieren, einfach um ihn zu verstehen. Das Transkribieren wurde nach und nach immer obsessiver und ich begann den Text quasi nachzubilden, was sich schließlich so weit steigerte, dass ich sämtliche Linien, Unterstreichungen und Verweise nachzuzeichnen begann. Daraus wurde dann eine Ebene des Films.

CW: Darüber hinaus hast du zum Film aber auch noch ein eigenes Buch angefertigt, wenn ich das richtig erkannt habe. Es wirkt wie eine Art Drehbuch, aber eigentlich trifft es das nicht.

RF: Das ist bei mir eigentlich schon immer so, dass ich extrem mit Transkripten arbeite. Auch bei FÜHRUNG habe ich damals alles komplett und sehr genau abgeschrieben, mit jeder Wortwiederholung, jedem abgebrochenen Wort. Das habe ich hier auch gemacht. Und da wir relativ viel Ton hatten, umfasst das Transkript mehr als 1000 Seiten, drei dicke Bücher. Um darin zu filmen, musste ich den Text in ein bestimmtes Format bringen. Unsere Super8-Kamera kann mit Makro bis auf zwei Zentimeter an ein Objekt herangehen, das sind dann ungefähr fünf Zeilen im Transkriptbuch. So ist ein Buch entstanden und mit ihm der Gedanke: Das ist jetzt auch ein Buch, das verschwinden wird, das kein Mensch braucht, das vollkommen sinnlos ist. Aber ich vollziehe durch dieses Büchermachen auch selbst nochmal die Bewegung nach, quäle mich durch den Prozess. Ganz am Ende setzt sich irgendwas, irgendwas bleibt doch von all dem. Diese Arbeit zog sich über drei Jahre hin.

Ich glaube, das Elliptische ist tatsächlich sehr wichtig in unserem Denken beziehungsweise unseren Denkprozessen

BW: Wie würdest du deinen Film genremäßig beschreiben? Gibt es etwas, das neben all den Aspekten für dich tatsächlich im Vordergrund steht?

RF: Ich kann das gar nicht auf einen Begriff bringen. Man könnte „Dokumentenfilm“ sagen. Ich wollte immer einen Effekt erzielen, dass man ein Gefühl dafür bekommt, dass wir alle permanent von Sprache umwoben sind. Was macht das mit uns? Beherrschen wir die Sprache oder beherrscht die Sprache uns? Dann gab es für mich im Lagerraum das Gefühl, dass man wirklich alles aufbewahren möchte, festhalten, irgendwie dokumentieren und begehbar machen. Aber es ist unmöglich.

BW: Als wir den Film diskutiert haben, haben wir viel über diese Spiegelung oder Doppelung gesprochen. Also einmal das Mitlesen des Skripts, aber auch, was das Verhältnis mit der Protagonistin betrifft, wenn sie Sätze gar nicht mehr zu Ende spricht, oder sich immer neue Assoziationen anreihen.

RF: Ja, und in diesem Sprechen spiegelt sich auch ihre Vorgehensweise als Jazz-Komponistin. Das ist keine intellektuelle Idee bei ihr, man könnte vielleicht einfach sagen, sie ist sprunghaft, was wichtig ist für ihr Komponieren. Ich glaube, das Elliptische ist tatsächlich sehr wichtig in unserem Denken beziehungsweise unseren Denkprozessen. Etwas, das durch die Regeln der Sprache oft überlagert wird. Hier kann man das Elliptische quasi zweifach, in der Beobachtung erleben. Daher finde ich es immer gut, wenn Sätze abgebrochen werden, weil es sowieso schon nicht mehr stimmt, wenn es zu Ende gesprochen ist.

CW: Ich möchte ebenfalls auf Tessa zurückkommen. Ich war wahrscheinlich auch deswegen so berührt von ihr, weil sie mir – wie die Bücher, wie der Verlag – als jemand erschien, den es so zukünftig gar nicht mehr geben kann. Erging es dir auch so? Wolltest du in deinem Film auch an ihr festhalten?

RF: Vielleicht. Aber ich würde die Perspektive ein wenig verändern: Was mich an ihr interessiert, ist immer auch etwas, das ein Teil von mir ist, ohne das jetzt hier begrifflich eingrenzen zu wollen. Das bedeutet, mich interessiert, dass sie etwas ausdrückt, was in mir, letzten Endes in uns allen steckt, dass sie mit ihrer Präsenz sichtbar macht. Es ist eher dieser Ausdruck, den ich festhalten möchte.

Es war für mich wichtig, von der Chronologie dieser Reise zu erzählen, von diesem sich immer tiefer Reingraben in diese Lagerräume, die zu meinen Arbeits- und Denkräumen werden.

BW: Am Anfang des Films erscheint ein Buch, dessen Titel „Erinnerungskapsel“ oder so ähnlich lautet. Und man bekommt immer stärker das Gefühl, dass es sich bei deinem Film selbst um eine Zeitkapsel handelt. Was passiert mit dir, wenn du an einer solchen Kapsel baust? Ab welchem Punkt findest du wieder eine Gegenwärtigkeit? Oder anders rum: Gibt es auch etwas Störendes an der realen Gegenwart, beim Drehen, das bei Dir so viel mit künstlerischer Wahrnehmung zu tun hat?

RF: Ja, das hat mich damals schon bei LE BEAU DANGER interessiert, der Anspruch, den man an einen großen Teil der Literatur heranträgt, ist, dass wir ihn als Teil einer Erinnerungskultur ansehen. Gleichzeitig ist die Übertragung von Erinnerung in Literatur unausweichlich mit einer Überformung, mit einer Art von Sublimierung verbunden. Diese Überformung ist dann gleichzeitig ein zumindest partieller Vergessensprozess. Darin liegt eine Widersprüchlichkeit, die mich interessiert. Im Hinterkopf ist dann immer auch so ein größerer Raum präsent, dieses 20. Jahrhundert zum Beispiel, in dem das spielt, aus dem diese ganzen Dinge und Gegenstände stammen. Ganz stark fühle ich dann diese Vergänglichkeit, die ich aber, wie zwanghaft, permanent auf mein Jetzt beziehen muss. Das verändert den Blick auf das Detail.

BW: Wie ist es mit der Montage, baust du Sequenzen und prüfst, wie sie wirken könnten? Testest die Wirkung also im Durchlauf?

RF: Es strickt sich eigentlich. Der Film ist mehr oder weniger von vorne nach hinten montiert. Aber der erste Test war für mich die Situation mit der Komposition „Black and White“ relativ zu Beginn: die rhythmisch hinzukriegen. Wenn das funktioniert, kann ich so weitermachen, dachte ich. Aber testen tut man die ganze Zeit. Das Sounddesign findet im Grunde sofort statt. Ohne den richtigen Ton kann ich kein Bild schneiden, kann keine Entscheidung treffen. Ich kann nichts stumpf vorschneiden, manche Bilder funktionieren nur durch ihre Brüche. Mit Hilfe eines fremden Tons lässt sich das Bild befragen und transformieren. Was nicht heißt, dass man am Ende nicht doch wieder zu einem realistischen Ton zurückkehrt. Manchmal braucht der Ton kein Bild, dann ist alles Schwarz. Aus dem Schwarz heraus ist es dann immer wie ein kleiner Neuanfang, man kann den Blick wieder neu ausrichten. Aber ich habe mich auch gefragt, ob es vielleicht ein Fehler sein könnte, so mehr oder weniger chronologisch zu erzählen und nicht irgendwo in der Mitte anzufangen, von dort festzulegen, was wichtig ist und alles darum zu gruppieren. Aber es war für mich wichtig, von der Chronologie dieser Reise zu erzählen, von diesem sich immer tiefer Reingraben in diese Lagerräume, die zu meinen Arbeits- und Denkräumen werden.

Es bleibt immer ein Schuss in Blaue

CW: Du erwähntest, es wäre ein langer Montageprozess gewesen – wann wusstest du, dass er abgeschlossen ist?

RF: Es existiert ein Moment, an dem sich alles noch ein bisschen stärker auflöst als ohnehin schon, wo der Film anfängt, seinen eigenen Regeln zu folgen. Mit dem Zitat aus dem Buch über den Untergang der „Titanic“ geht dann wirklich alles den Bach runter und kommt gleichzeitig in so ein Fließen. Da hatte ich das Gefühl, es könnte funktionieren – eine Art Telos erzeugen, das nur noch aus Linien und Punkten besteht. Als ich diesen Punkt, eine Art Auflösungspunkt oder Kristallisationspunkt, erreicht hatte, schien es mir stimmig. Aber das war wirklich erst ganz am Ende, als ich das gesehen habe.

CW: Hast du manchmal Angst davor, nicht an diesen Punkt zu gelangen?

RF: Ja. Zwischendurch dachte ich, diesmal geht es schief. Ich habe mich verrannt. Bei LE BEAU DANGER war das ähnlich, nur war ich da entweder ignoranter oder es hing nicht so viel dran. Jetzt hatten wir zum ersten Mal eine große Förderung, von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Plötzlich fühlt man da so eine Art Verantwortung, es könnte auch die letzte Förderung sein. Aber es bleibt immer ein Schuss in Blaue.

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